Exzerptiese

One Love. Gott ist eine Kugel, deren Zentrum überall und deren Umfang nirgends ist. Du kannst den Staub in der Luft sehen. Nicht dieser gelbe Dunst aus der Sahara, Du siehst die einzelnen Staubkörner schweben. Oder es ist Deine Netzhaut, die Zodiaklicht simuliert. Schwebende Schwerelosigkeit, darunter die Gravitation. Der Himmelsfluss klart auf, die Sterne und der glitzernde Silberstaub beginnen zu duften. Die Tiefe saugte seinen Blick mit seinem Schatten ein. 

Zum Ende des II. Vatikanischen Konzils legte Paul VI. in einer für Augenzeugen atemberaubenden wie feierlichen Handlung seine persönliche Tiara in der Konzilsaula ab und widmete sie als Geschenk den Armen. Er hat nie wieder eine Tiara getragen. 

Kein Kapitalismus ohne die triumphale Ausbreitung jener Respektlosigkeit, der Zeitkritiker seit dem 19. Jahrhundert den scheinphilosophischen Namen Nihilismus gaben. Anachronisten unserer Zeitlosigkeit.

Die Philosophie wird zur Schule eines metaphysischen Exils. Denken heisst umziehen in das, woraus keine weitere Vertreibung mehr möglich ist. Wie das Leben aus seiner anfänglichen Leibeshöhle in einen Sozialbehälter übertritt, so wird die Philosophie zu einem Umzugshelfer aus dem politischen Stadtbehälter in eine Höhle aus purem Licht.

“Nicht wir werden das System ändern”, beharrte Petros, “sondern das System ändert uns”. Was der Pythagoräer dem Vulkanisten Josse, wenige Tage vor der Explosion des Vesuvs, entgegenhielt, erscheint als zeitlose Wahrheit. Wenn wir das uns Umgebende als System verstehen, sind wir selbst Teil davon. Vielleicht sind wir das kleinste Teilchen, vielleicht ein eigenes Sonnensystem. Der Pompeji-Autor Eugen Ruge erzählt die Vorgeschichte der pompösen Veraschung in Wir-Form; ihre Majestät. Eine Form künstlerischer Intelligenz. Die Jahre vergingen, ohne dass man der Zukunft näher kam. 

Taufe in Weiss, mit Blumen und bunten Bändern. Rosa für die Buben, hellblau für die Mädchen – heute ist es gerade umgekehrt. 

Lusthäuser, Nervenheilanstalt, turbiniert. 

In solchem Falle können Sie uns nicht so lange hier halten, wir fordern baldigste Entlassung aus dem Ihnen anvertrauten hier. Solokow.

Systemveränderung, Systemänderung, Systembruch – Systemsturz! Kohei Saito, Jungprofessor für Philosophie in Tokio. Untertitel: Der Sieg der Natur über den Kapitalismus. Anhänger des alternativlosen Degrowth-Kommunismus (Wir schliessen Klimafaschismus, Klimamaoismus und Barbarei nach der Vierfelderanalyse aus). Nachdem sein auf Wirtschaftswachstum aufbauender Produktivismus im Kommunisten Manifest zum Ausdruck kam, das Kapital seinen Ökosozialismus begründete, schuf der alte Marx mit seiner Kritik des Gothaer Programms den Degrowth-Kommunismus. Die Generation Z hat den naturzerstörenden und ausbeuterischen Katastrophenkapitalismus mit seinen Bullshit-Jobs satt und wird sich am persönlichen Netzwerk und an lokaler Nachhaltigkeit orientieren. Die Dreifaltigkeit Politik, Wirtschaft, Umwelt wird neu ausgerichtet. Nach einer Harvard-Politologin kommt es zu grossen gesellschaftlichen Umwälzungen, wenn 3,5% der Menschen gewaltlos und entschlossen aufbegehren! (In der zugehörigen Fussnote wird erwähnt, dass Extinction Rebellion von dieser Forschung beeinflusst ist). Saito ist im Team für die Neue Ausgabe von MEW (Marx Engels Werke). Die Neuausgabe wird sämtliche Exzerpte, die Marx in der Bibliothek gemacht hat, mitumfassen, insgesamt hundert Bände. MEGA.

Hiess das, fragte sich Helstedt, dass sich Erlebnisse nur einmal erzählen lassen, danach jedoch zu sich verstärkenden Erfindungen werden? Sich lichtende Nebel, Christian Haller

Das menschliche Selbst ist eine Tat der Eltern, eigentlich eine Untat: Sie haben eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt (Kant) / geworfen (Heidegger). Der Schrei des Neugeborenen ist Entrüstung. Dass ich angefangen worden bin, ist erträglich, wenn ich – als Anfänger – selbst anfange. Mich selbst gebäre. Die Geburtlichkeit ist das Anfangenkönnen. Hannah Arendt

Der Gedanke ist das Gedachte des Denkens (Joyce, Ulysses). Überdenken. Denken ist ein Gespräch innerhalb der Seele (Hannah Arendt). Im Fühlen erfährt das Subjekt seine Singularität, im Denken seine Dualität. Im Glauben die trinitare Universalität.

Literatur mach den grössten Teil der wirklichen Welt aus. Bei einem guten Männergesicht ist Versteinerung die beste Todesart.

Für Teresa von Àvila liess sich Gott “im Inneren der Seele nieder: dergestalt, dass, wenn sie zu sich zurückkehrt, es der Seele zu zweifeln unmöglich ist, dass sie in Gott und Gott in ihr war.” Bei den Sklaven-Christen ekstatische Besessenheit durch den Heiligen Geist, im saturday night fever, stealing away to Jesus. 

Tutu meinte, wir hätten nur sehr geingen Einfluss auf unsere Gefühle; der Dalai Lama dagegen, wir könnten sie weitgehend steuern. Glaube ist kein Gemeinschaftswerk, alleine muss man imstande sein. (Safranski)

“Doch selbst nach den schmerzhaftesten Wehen lässt sich die Freude nicht ermessen, wenn das Baby geboren ist. Es ist eines der unglaublichsten Phänomene, dass aus Leiden so rasch Freude entstehen kann.” Desmond Tutu

“Manchmal meditiere ich auch über die Natur des seins nach der sogenannten siebenfachen Analyse. (…) Und inzwischen kommen sie in der Quantenphysik zu einer ähnlichen Sichtweise. (…) Letztlich lässt sich nichts finden. Dies ist der analytischen Meditation sehr ähnlich.” Dalai Lama

Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues. Ist einmal ein gewisser Grad der Einsicht erreicht, so reden alle, wenn sie reden müssen, den gleichen Quatsch. Körperwärme, fast so gut wie nicht geboren werden. Erwiderte Liebe gleich Kurzschluss. Er bat sie zu glauben, er sei für den Ruhestand geboren. (Murphy, von Beckett)

Tod ist ein Menschenwort, auf unsere Verhältnisse zugeschnitten (Natürlich Guggenheim. Meine verstorbenen Schriftstellerfreunde melden sich ständig, danke sehr). Wie Würmlein krochen die Worte durch den Staub auf dem unermesslich langen Weg von der Empfindung zu der Gestalt. 

Eifer und Stolz im Gesicht eines anderen macht uns gewiss, dass ich noch nicht dort bin, wo ich sein will (was für einen gleitenden Übergang vom befremdenden Antlitz über ein kumpeliges wir zum ich, meinem Willen). Die Deutschen: Wohlwollend, aber nicht willens. (Das stammt von Hk. Ich weiss nicht, wer das ist. Bücher lesen ist schliesslich auch eine Art Traumgeschehen – das ist Sjôn)

Schön, sagt er jetzt oft, wenn er Dinge sieht, die er früher übersehen hat (Gabriele von Arnim in ihrer erbärmlichen Einsicht, dass das Leben ein vorübergehender Zustand sei, S. 43).

Geschichten sind personenhaft: Ich arbeite an ihr, aber sie führt ein Eigenleben. Ich muss sie gewähren und machen lassen. Eine solche Geschichte heisst finnisch Tuuli; dasselbe Wort bezeichnet das literarische Lebensgefühl der Schriftsteller. 

Glaube ist gegenstandsloses Bewusstsein. Glaube bezieht sich immer auf das Ganze, das als solches jede Objektivierung zurückweist. Der religiöse Mensch lebt im Bewusstsein von einer mit der Immanenz untrennbar verbundenen Transzendenz. 

Im Prinzip

Über das, worüber man nicht sprechen kann, muss man schweigen. Worüber man nicht schweigen kann, muss man reden und schreiben. 

Grüss Gott ist Konjunktiv präsens, ein kupitiver Optativ. Vielleicht haben das die irischen Mönche in den bayerischen Wald gebracht. Grüessech meint Gott segne Dich. 

Hier steht das Wort Gott, Doppelklick: …nichts. 

Verschiedene griechische Philosophen sprachen von „dem Einen“, und Hegel verwendete Synonyme wie das „unendliche Leben“, „das Absolute“, der „Begriff“, die „Idee“, der „absolute Geist“ oder die „einzige absolute Wirklichkeit“. Hermeneutische Religionsphilosophie und religiöse wie naturphilosophische Theosophie, es geht immer um dieses Eine. Wir sind doch alle Platoniker, Hegelianer, kennen die Bibel und andere heilige Bücher.

Gott ist einfach göttlich. Das Göttliche. Die Gottheit. Man kann Gott nicht definieren, denn er ist das Undefinierbare. Gott ist seine eigene Nomenklatur, und manche wagen es nicht, den einen seiner Namen auszusprechen. Gott ist das Wort, das keines mehr ist.

Das Göttliche trägt alle Eigenschaften und Attribute in sich, die es auf der Welt gibt, und es nimmt die Gestalt jedes Dinges, jeder Begebenheit, jeder Zeit an. Das ist ein belletristischer Satz aus Olga Tokartschuks Jakobbüchern, theologisch gelesen Fachliteratur.

Unsere Sprache kann Gott beliebige Attribute zuordnen. Jede Aussage von Gott zeigt so viel, wie sie verbirgt. Allwissend ist er nicht. Das wäre unsinnig und uninteressant, passt auch nicht zu unserer Überwachungstechnologie. Sich selbst bewusst ist er wohl auch nicht, da wäre er uns Menschen ähnlich, nicht umgekehrt, wie die Bibel sagt. Allgegenwärtig schon. Mit all- geht fast alles. Die Tatsache, dass es möglich ist, sich ein perfektes, höchstes Wesen vorzustellen, beweist dessen Existenz (ontologisches Argument). Anselm von Canterbury: Wir können denken, dass etwas ist, über das Grösseres nicht gedacht werden kann. Etwas, das sowohl im Geist (in intellectu) als auch in Wirklichkeit (in re) existiert, ist größer als etwas, das nur im Geiste ist. Wenn wir also etwas denken können, über das Größeres nicht gedacht werden kann, muss dieses auch in Wirklichkeit existieren (denn sonst wäre es etwas, über das Größeres gedacht werden kann). Schon die Möglichkeit, Gott zu benennen, beweist ihn nomologisch. 

Die negative Theologie lehnt positive Aussagen über Gott grundsätzlich ab, es lässt sich nur sagen, was Gott nicht ist. Un-endlich. Wenn Du ihn nämlich begriffen hast, ist es nicht Gott, so Augustinus. Thomas von Aquin legt fünf Gottesbeweise vor und ergänzt: Gott selbst kann uns sagen, was oder wer er für uns sein will. Gödel brachte den ontologischen Gottesbeweis mit der Modallogik in eins. Und für Trojanow ist die Vielfalt des Glaubens an sich schon göttlich, vielleicht der einzige Gottesbeweis. 

Gott ist das Absolute. Nicht, dass alles von ihm abhinge, sondern so, dass er alle Abhängigkeiten auflöst. Gott ist, wie schon Plotin sagte, das Eine. Der Plural Götter wird deshalb nicht für Gottheiten, sondern nur für historische und kulturalistische Emanationen verwendet. Gott toleriert andere Gottheiten. Götter interessieren ihn wenig. 

Gott ist offensichtlich offenbar. Man kann nicht übersehen, dass man ihn wahrnehmen kann. Die Glaubenskriege der Aufklärung: Wie stehen Wahrnehmung und Offenbarung zueinander?. Deisten wiesen die göttliche Offenbarung als übernatürlich zurück. Später sagten sie auf die Frage der Theodizee, dass sich Gott nach der Schöpfung zurückgezogen habe und seither nicht mehr in den Weltenlauf eingreife. Gott soll sich davongestohlen haben? Gott ist dort, wo nach ihm gefragt und gesucht wird. 

Der jüdisch-christliche Gott wird von den meisten Theologen als transzendent betrachtet, das heisst, er ist „ausserhalb“ der Welt, die er erschaffen hat. Gleichzeitig ist er bis zu einem gewissen Grad auch immanent, also Teil der Welt – zum Beispiel durch seine Anwesenheit in den religiösen Gefühlen Gläubiger. Das ist eine religionswissenschaftliche Feststellung. Bei anderen ist es christliche Gewissheit. Scheint also recht wahrscheinlich. Transzendenz ist das Gespür für die Anwesenheit des Abwesenden.

Da das Universum unendlich und ewig ist, hat Gott schon für Giordano Bruno etwas durchaus Diesseitiges. Er muss ja innerhalb dieser Unendlichkeit und Ewigkeit sein, sonst kriegt die Vernunft Kopfweh. Im Jahr 2000 wurde vom Papst zugegeben, dass die Hinrichtung vor 400 Jahren ungerechtfertigt war.

Das menschliche Transzendenzbegehren erfährt Gott in seiner unendlichen Ewigkeit, er zeigt sich im Hier-und-Jetzt als Nunc Stans. Wir können die Ekstase der Existenz austanzen wie den Orgasmus. La vita e divina e bella. Gott ist gut. Aber nicht allmächtig. Joas Prinzip Verantwortung verbietet das, auch wenn Leibniz’ Philosophie eine wunderbare Lösung für das Problem des Leids gefunden hat. 

Ein Himmelsgott ist er, allumfassend. Beständig und veränderlich. Geschlechtsübergreifend. Als Mann und Frau noch ungetrennt eine platonische Kugel waren, war Gott im Menschen. Noch heute kann er den Menschen in der liebevollen Vereinigung innewohnen. Da sind auch Engel und der heilige Geist dabei.

Die Perle, von Cusanus, ist Gottesglaube und Paradoxe Einsicht der Vernunft in einem: coincidentia oppositorum, Gott ist das Zusammenfallen der Gegensätze.

Die jüdische und christliche Schöpfung ist eine creatio ex nihilo. Ex nihil nihil fit, widerspricht Aristoteles. Gott rechnete, und als er eine Zahl durch Null und Nichts teilen wollte, entstand die Welt. Eine Singularität als ursächliche Voraussetzung eines Urknalls ist weder dem Demiurgen noch dem Göttlichen würdig. 

In der Psychoanalyse wird Gottglaube als eine Form des Wunschdenkens betrachtet. Dabei ist es mehr ein Art Wunderglaube. Glaube ist eine geistige Haltung, keine Projektion. Glaube hat eine kontrafaktische Qualität, kann darum Berge versetzen. Worauf Du Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott (Luther).

Die Anthropomorphismus-Hypothese geht davon aus, dass Kinder Gott anfänglich als grossen Supermenschen im Himmel betrachten, und erst später die Vorstellung eines transzendenten, körperlosen Wesens entwickeln. Demgegenüber besagt die Preparedness-Hypothese, dass Kinder derartige metaphysische Eigenschaften problemlos akzeptieren. Glaubenskrieg in der kognitiven Neurowissenschaft. Für mich war der liebe Gott jemand, den ich zwar nicht kannte, der aber bei uns wohnte und zur Familie gehörte. Und wenn Grossvater zu Besuch kam, so nahm er dessen Gestalt an. „Ich konnte bis ins hohe Alter noch ein Chummerzhilf sein.” Memoiren Adolf Ryser.

Die mittelalterlichen Theologen wiesen darauf hin, dass alle anthropomorphen Beschreibungen Gottes in der Bibel nicht wörtlich zu verstehen seien. Aber personale Eigenschaften Gottes sind christliches Dogma, schon wegen Jesus. Da wird gebetet und gebeichtet, bestraft und belohnt, wie es in Beziehungen nun mal vorkommt. Ich kann mir Gott nicht als Personenhaft vorstellen. Das hat so was Kumpelhaftes, wenn nicht Inzestuöses.

Da allein die Seele eine Zukunft über den Tod hinaus hat, kommt es nur auf ihre Förderung und ihr Wohlergehen an. Wegen ihrer Gottähnlichkeit als unsterbliches Wesen steht es ihr zu, über den vergänglichen Körper zu herrschen, meinte Plato im Phaidon. Jede selbständige Bewegung ist Beweis für Beseeltheit. Aber Plato nannte die Seele psyché. Und nachdem man bis zur Aufklärung keine organische Entsprechung der Seele finden konnte, wurde das Wort Seele aus den rationalistischen, empiristischen, positivistischen und materialistischen Weltsichten ausgegrenzt. Das Zeitalter der Psychologie bahnte sich an, sie hat die Seele in Sektoren zerlegt, wie das kriegsversehrte Deutschland. Die Seele hat sich in die germanischen Ursprungsgewässer zurückgezogen und lebt unter anderen Namen weiter. In der parareligiösen Esoterik heisst die Seele manchmal Selbst. Das Leib-Seele-Problem hat sich verselbständigt als philosophisches Trainingsgelände. Darüber gibt es Abhandlungen aus einem Dutzend verschiedener Perspektiven, Positionen und Oppositionen. Geist ist ein physikalischer Zustand = Körper ist ein geistiger Zustand. Zwei Aspekte derselben fundamentalen Realität, die an Wahrheit grenzt. Mentale Zustände verursachen physikalische Zustände, und umgekehrt. Dem Zustand steht das zu.

Während der Französischen Revolution beschloss die Munizipalität von Vienne am 13. November 1792 die Aufhebung der Kirche. Das entsakralisierte öffentliche Bauwerk diente danach dem städtischen Jakobinerclub als “Tempel der Vernunft” (temple de la raison). Die Fassade trug jetzt die neue Inschrift Société populaire und im Gebäudeinneren ersetzte ein autel de la patrie den Altar der christlichen Kirche. Eine Abschrift der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 wurde im Gebäude aufgehängt, und neue Wandgemälde stellten die Figuren der Liberté und der Justice dar. Wenn Gott Richter wäre, würde er mit restaurativem Justizvollzug Versöhnung anstreben. Der Verkehrskreisel ersetzt eine Kreuzung und die Kreuzigung. Weichspülerreligionen. Zeitgeistige Kosmos-Spiritualität. Der Herrgottschnitzer aus Oberammergau. One Love.

Alles hat seinen Grund, zufällig zu sein

Wenn Du zu viel Sauerstoff einatmest, hast Du weniger Sauerstoff im Blut. Das ist der paradoxe Bohr-Effekt. Kapische? Quarks und Quanten!

Nachahmung seiner selbst ist das Paradox von Originalität und Nachahmung in derselben Person. Man bringt sein Leben damit zu, den einen oder anderen Einfall zu wiederholen, den man gelegentlich hatte.

Die Russelsche Antinomie ist rein formaler Natur und bedeutete das Ende der naiven Mengenlehre: Angenommen, {\displaystyle \,R}\,R enthält sich selbst, dann gilt aufgrund der Klasseneigenschaft, mit der {\displaystyle \,R}\,R definiert wurde, dass {\displaystyle \,R}\,R sich nicht enthält, was der Annahme widerspricht. Angenommen, es gilt das Gegenteil und {\displaystyle \,R}\,R enthält sich nicht selbst, dann erfüllt {\displaystyle \,R}\,R die Klasseneigenschaft, so dass {\displaystyle \,R}\,R sich doch selbst enthält entgegen der Annahme. Selbstreferenzielle Entleerung

Wenn wir die Enge des Lebens akzeptieren, dann wird es weit. Schreibt Bruder Anselm Grün 

Nach Gottfried Wilhelm Leibniz gibt es eine unendliche Anzahl möglicher Welten. Von diesen hat Gott nur eine geschaffen, nämlich die vollkommenste. Leibniz argumentiert: Gottes unendliche Weisheit lasse ihn die beste unter allen möglichen Welten herausfinden, seine unendliche Güte lasse ihn diese beste Welt auswählen, und seine Allmacht lasse ihn diese beste Welt hervorbringen. Folglich müsse die Welt, die Gott hervorgebracht hat – also die tatsächlich existierende Welt –, die beste aller möglichen Welten sein. Und jede Form des Übels ist letztlich notwendig und erklärbar, so die frühaufklärerische Theodizee.

Dagegen brachte der Philosoph Streminger verschiedene Einwände vor. Ohne Zusatzüberlegungen enthalte Leibniz’ Argumentation eine Petitio Principii. Leibniz stützt seinen Hauptsatz auf die Weisheit und Güte Gottes. So wird das, was erst noch zu beweisen wäre, bereits als erwiesen vorausgesetzt. Die argumentative Figur, eine Behauptung durch Aussagen zu begründen, welche die Behauptung als wahr voraussetzen ist ein circulus in demonstrando: begging the question.

Der Zirkelschluss funktioniert, weil der Zirkelschluss funtioniert. Ein Worträderwerk circular reasoning works because. Hier liegt kein Fehlschluss vor, aber es handelt sich nicht um einen aristotelischen Beweis: Wenn die Prämissen des Beweises von der Konklusion nicht verschieden sind, ist der Satz vom zureichenden Grund verletzt. In der nicht-formalen Logik wird Petitio Principii hingegen häufig als alltägliche Argumentationsfigur anerkannt: Man darf das sagen.

Christliches Paradox: Jesus ist ganz Mensch und ganz Gott. Gelöst im christologischen Dyophysitismus ohne Minderung der dualistischen Strenge.

Alle Bücher führen nur weiter, was andere Schriftsteller verschmäht haben. 

Eine Welt ausserhalb der Bücher ist gar nicht denkbar. 

 Und wirklich, Sokrates blieb stehen, bis es Morgen wurde und die Sonne aufging! Dann verrichtete er sein Gebet an die Sonne und ging weg.

Man muss sich töten, um schreiben zu können. Burger, der das genau umgekehrt gemacht hat: Er musste schreiben, um sich töten zu können.

Gastmahl in Athen, an dem nach der Auflösung eines sophisma gefragt wurde, das lautet: „Wenn ich lüge und dabei sage, dass ich lüge, lüge ich dann oder sage ich die Wahrheit”? Ich habe das Gefühl zu lügen, wenn ich Ich sage. Identität ist eine notwendige Lüge. Ich lüge, wenn ich sage, ich lüge. Performanz. Ab dem späten 12. Jahrhundert wurde eine neue Wortbedeutung geläufig. Ein Sophisma ist nicht mehr ein Trugschluss, sondern ein Satz, der als Rätsel (enigma) oder Dunkelheit (obscuritas) erscheint. Kreterlüge 🙂 An den Universitäten von Paris und Oxford waren im Spätmittelalter Debatten über Sophismata obligatorische Übungen. Die grosse Kunst besteht darin, die Wahrheit zu sagen, indem man über sie lügt.

Der Wettlauf von Achilles und der Schildkröte (letztere mit etwas Vorsprung), das Pfeilparadoxon und ähnliche vorsokratische Intelligenztests sind logisch korrekte Schlüsse, aber Unsinn, weil sie ohne die Zeitdimension argumentieren. Sie bleiben geometrisch und setzen auf den unendlichen Regress als Argument im indirekten Beweis: Tangentiallogik.

Eine Halbierung verdoppelt (die Anzahl); die Verdoppelung halbiert (den Wert).

Wir nehmen auch Mitglieder auf, die nicht aufgenommen werden wollen, wie  Marx. 

Es ist paradox, dass Fachholschulen, die selber nur Master-Abschlüsse verleihen können, für die Einstellung in höhere Führungspositionen einen klassischen universitären Doktortitel verlangen. So bleibt die Clique der Doktorierten auch ausserhalb der Akademie unter sich. Klassenpolitik, Klassismus.

Stuart-Hall-Paradox: Wir wissen, dass race ein Konstrukt ist, aber mit unseren Augen nehmen wir trotzdem Unterschiede in Hautfarbe und Haarstruktur wahr. Denn die zugrundeliegenden Realitäten sind eben nicht an und für sich real. Der Frontallappen zieht sich angewidert zusammen.

Klassen-, Rassen-, Geschlechter- oder Identitätstheorie: Seit der haitianischen Revolution und der Machtergreifung der aus der Subsahara versklavten Selbstbefreier wissen wir um die Praxis des politischen Konstruktivismus: Die white supporter wurden per Verfassung PoC. Nach Sex und Gender haben wir nun ein drittes identitäres Geschlecht, ein Ich-haftes, das nach Anerkennung lechzt.  

Kein formales Scheinparadox: Mathemathik ist in geometrischen Figuren entdeckt und durch Zahlen erfunden. Staatlicher Investitionsanreiz ist Reizwäsche für den privatwirtschaftlichen Kapitalismus. Der Gewaltapparat der Macht garantiert die Zivilgesellschaft, bis hin zur Durchsetzung von medizinischen Zwangsmassnahmen. Wieviele Haare muss ich Dir aus der Mähne zupfen, bis du ein Kahlkopf bist, du Scheisshaufenparadox. 

Ein Mönch fragte Tozan: ‚Was ist Buddha?‘ Tozan antwortete: Masagin 麻三斤 – Drei Pfund Flachs. Das Wort steht, wenn der Buchstabe sitzt.

Maggis Leguminosenfertigsuppe und Birchers Hafer-Frucht-Müesli gingen von  den für ihren exzessiven Fleisch- und Weinkonsum berüchtigten Zürcher Zunftstuben aus. Dies Paradox rundet die Chronik von Überfluss und Bedürftigkeit (ab). H.P. Treichler +

Erlebnisparadox: Natürlich waren neben Erregern auch 1 Medikament, 1 Drink und 1 Joint mit im Spiel, beim Ohnmachtsanfall mit Schädelbruch und gequetschtem Hirn. Aber Auslöser war eindeutig das ausgeprägte Wohlbefinden und die mentale Gewissheit, dass alles wieder glücklich verlaufe. Er liess sich gehen

Ich fuhr im Süden von Graz mit dem Rad herum und hörte mir den Sound eines Fisting-Videos an. Dazu der Anblick der Nordicwalker und Jogger. Hinterher breitete sich ein paradoxer Frieden in mir aus. C.J. Setz

Vasilij wird in Wladiwostock den russischen Grenzsoldaten übergeben, aber die lassen ihn nicht rein. Wegen Bolschewismus aus Japan ausgewiesen, wird er von diesen nicht hereingelassen, weil seine politische Gesinnung nicht nachweisbar ist.

Das Absolute selbst ist darum die Identität der Identität und der Nicht-Identität. Hammer, Hegel. Das einzige Gesetz, auf das ich wirklich stosse, ist die Paradoxie. Das Paradox liegt im Gesetz selbst. Danke, Connie.

Word assembling mind craft

Was hat der da gemacht? Wenn die Aargauer Polizei wieder einmal dem rasenden Dichter das geltende Tempolimit vorhielt, ulkte er aus seinem Boliden Ferrari humanum est. Der Künstler ist der einzig echte Scheintote; mit dem Ziel, Sprache zu haben über den Tod hinaus;

Ein aufgepeitschtes Winterfeuer. Nach der Lektüre des Tractatus hätte man darauf gewettet, dass er sich zu Tode jage; gegen eine Wand; gegen die künstliche Mutter. Robert Walser hielt er für kleinmütig, weil er nicht Selbstmord beging. Walser starb auf einem Spaziergang, im Schnee. In seinem ersten Roman hatte er den Dichter Sebastian genau so sterben lassen. Burgers Text ist Schaulaufen auf einbrechendem Eis, sein Tod ein Eigentor mit Ansage. Tod am Küchentisch, das Poetenhaupt auf die robuste Armbanduhr geknallt.

Wenn ich ein Bücherschreiber wäre, legte ich ein kommentiertes Register der verschiedenartigen Tode an, schreibt Montaigne, der seine letzten Jahre im Schlossturm mit seinen Essais zubrachte. Philosophieren heisst sterben lernen, notiert er, Cicero. Die emotionale Befreiung wandelt sich zur kognitiven Obsession. Burger konnte sich kognitiv nur befreien durch die emotionale Obsession, sich selbst zum verschwinden zu bringen. Montaigne verstarb während einer Messe in der Schlosskapelle.

Die freiwillige Exit-Sterbebegleiterin weiss, was die assistierten Suizidierenden* vor dem selbstgewählten Freitod noch zu sagen haben: Bitte schliessen Sie nachher das Fenster. Und: tragen Sie dann bitte den Müllsack vors Haus. Machen wir. Der Rest sind Formalitäten. Wir zählen in der Schweiz täglich etwa hundertundachtzig Todesfälle, davon fünf Suizide, drei allein durchgeführt (davon zwei, manchmal auch drei Männer), zwei assistiert erfolgt (öfter mal beides Frauen). Soviel zum sterbenden Sternchen;

Nietzsches Zarathustra meint, man müsse die schwere Kunst üben, zur rechten Zeit zu gehen: Das Ideal, jederzeit Schluss machen zu können. Cioran doppelt nach: Man ist zum Selbstmord nicht vorbereitet, sondern vorbestimmt. Wer Selbstmord begeht, wird zum Bruder Hitlers (Burger). Die voluntaristische Welt ist dunkel, die Aussicht auf eine Kongruenz mit ihr illusorisch, das Erkennen trügerisch. Der Mensch muss sein Leben und sein Sterben wählen, gestalten, als Projekt erkennen.

Was aber für die vom Feuerwerk des logischen Verschwindens Verdutzten nicht recht zu seinem finalen opus magnum passen wollte: der Zeitpunkt des Todes. Denn gerade war der erste Teil seines auf vier Bände angelegten Zeit- und Zigarrenromans „Brenner“ veröffentlicht worden. Hermann Burgers Mentor und Bewunderer, der angegreiste Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki merkte an, dass ein Schriftsteller mit einem gerade veröffentlichten Buch sich eigentlich nicht umbringen würde. Er schien den angekündigten Suizid für einen mystischen Unfall zu halten. 

Aber er hatte eine tödliche Überdosis Vesparax genommen und genau das in seinem Traktat beschrieben; die Geschichte nicht nur vorausgesagt, sondern mit der eigenhändig aufgegebenen Todesanzeige, die am Tag danach, als der erste Brennerroman erschien und er selbst tot war, eigentlich alle Zweifel ausgeräumt. Kaspar Villiger, dem der erste Stumpenroman gewidmet ist, wurde eben in den Bundesrat gewählt. Am Tag der Urnenbeisetzung erschien im Brückenbauer eine Fotostrecke, worauf er fotodokumentarisch aufzeigt, wie er sich selbst wegzaubert. 

Unser Ziel ist Pararealität, nicht Imitation der Wirklichkeit. Mit seinen Erfindungen … begegnet der Schriftsteller den schallenden Ohrfeigen vollendeter Tatsachen. Vollendete Tatsachen sind eine Ungeheuerlichkeit für einen kreativen Menschen.

Das Vorwort zum Traktat schildert zum Schluss, wie der von der Polizei identifizierte Hermann Burger in der heimeligen Ernst Zahn-Stube im Bahnhofbuffet Göschenen den ersten Satz seiner aktuellen Textarbeit – ebendieses Vorwortes – überprüft. Dieser Erster-Satz-Schluss besagt, dass das Erzähl-Ich Amandus Conte Castello Ferrari heisst und zu Protokoll gibt, was ich weiss. Die Gestalt des Herausgebers zieht sich in ihrer narrativen Funktion dermassen zurück, dass sie sich der auktorialen Perspektive annähert.

Amandus lässt wissen, dass in der Nacht vom 13. zum 14. Januar 1988 alles auf einen kalten Suizid hinwies, also ankündigungslos geplant und durchgeführt. Man hat in seinem leeren Zimmer mitten in der Nacht die Schrift Anleitung zum Selbstmord auf dem Kopfkissen gefunden, zudem das Manuskript tractatus logico-suicidalis, das aus totologischer Sicht den Suizid als unausweichlich behauptet, gleichzeitig als revolutionäre Tat feiert. Der Gemeindepräsident bildet einen Krisenstab. Die eine Abteilung sucht das Gebiet vom Teufelsstein bis zum Urnerloch ab, die andere studiert die gefundenen Schriften. Kaplan Flurlinger, der sich bei der Wirtin Inäbnit nicht nur die zurückgeschobenen Reste des Schriftstellerabendmahls vorsetzen, sondern auch den zuckenden Schwanz stillen liess, kommt nach der Lektüre des Traktats zum Schluss, dass, wer ein solches Manuskript hinterlässt, sich nicht umbringt; um dann darüber zu sinnieren, dass dem Erhängten eine Ejaculatio finalis vergönnt sei. Auch der Talschaftsarzt folgert, dass es wohl bei der Ankündigung bleibe, obwohl er vom psychiatrischen Berater des Verschollenen erfahren hat, dass der Auszug der Ehefrau samt Kind, die Kündigung seiner Redaktionsstellung, eine lange endogene Depression und imaginierte Impotenz traumatische Erniedrigungserfahrungen ausgelöst haben könnten. 

Habe ich ein reiches und gutes Leben gehabt, in dem ich den Lebenshunger stillen konnte und nun zufrieden und satt bin? Geriatrie und Gerontologie stellen eine Zunahme von schamvollen Formen des Sterbens fest, nach längerem und zunehmenden Fremdabhängigseins. Neuere Studien legen nahe, dass Menschen erst sterben können, wenn gemeinsam entschieden wurde, dass man sie sterben lässt. Sterben scheint zur Aufgabe eines medizinischen Managements geworden, aber gerade dadurch müssen wir mitbestimmen, wir wir sterben möchten. Der medical end-of-life decisions sind gar viele und die meisten Todesfälle sind heute mit oder durch medizinische Lebensende-Entscheidungen erwirkt. 

Am frühen Morgen findet man das Schlafzimmer des Verschollenen immer noch leer, aber Wachtmeister Flimser hat ihn in der Zahnschen Stube schreibend beim Frühstück gesichtet. Kapo Tschuor lässt sich beeilt den Pass zeigen, gültig bis zum 11. März 1990. Die Nacht will er in der Kammer der Serviertochter Ursula verbracht haben. Ja, der Tractatus sei von ihm, er schreibe an einem autobiographischen Text zum Tractatus mit dem Titel Die weisse Hölle. Nein, er erkäre darin nicht, wie es zum Tractatus gekommen sei: der Poet redet nicht, er stellt dar; schaut nur;

Deutungsverzicht und exegetische Askese im Schreibprozess sind Bedingung künstlerischer Produktivität: Kannitverstan in eigener Sache. Wer Burger liest, fährt ungebremst.

Ich sterbe, also bin ich. Was zu beweisen war. Finis. Mit dieser Trilogie von Totologismen endet das Traktat des Verausgabungskünstlers und Proto-Popschriftstellers. Andere Mortologismen sind weniger schlüssig. Gelegentlich wird das Ich zum Patienten-Wir, komplementär zum pluralis sanitatis. Metadiskurs und poetologische Reflexion verengen sich zum Kollaps. Er weiss nichts von den Sterbehotels in Varanasi und Jerusalem; er fordert Selbstmordschulen und Exit-Institute. Er beschreibt das Traktat als die einmalige Begründung eines einmaligen Suizids.

Unser Tod ist nichts Einmaliges, nichts Besonderes, er ist das Allgemeinste und Natürlichste in der Welt des Lebendigen: Wolfgang Welsch, Professor der theoretischen Philosophie, zuckt die Schultern. Die Voraussetzung in These eins ist falsch. Vermeintlich vorsätzliche biologische Ermordung entpuppt sich im Vollzug als natürlicher Tod.

Er hatte notiert, den Anschlag auf das eigene Leben aus der tragischen in die komische Sphäre hinüberzuretten zu wollen. Thomas Bernhard berichtet von einem bekannten Komiker, der auf einem Felsvorsprung über der Salzburger Pferdeschwemme in einer plötzlichen Anwandlung zu einer bayerischen Ausflüglergruppe gerufen habe, er werde sich gleich in Lederhose und Tirolerhut in die Tiefe stürzen, worauf die Bayern laut lachten. Als er sprang, lachten sie einfach weiter.

Die Idiolektiker

Ich habe die Geschichte schon mehrmals erzählt, aber jetzt schreib ich sie nieder. Clemens hat über Eigensprachen recherchiert.  

Mit vier Jahren erkrankt der 1890 in Obuchowka geborene Vasilij schwer an Masern. Seine Tante läuft mit ihm durch eisigen Wind in die Kirche zu den Ikonen. Abends wird es schlimmer, er fällt in ein tagelanges Delirium.

Danach ist er blind, erblindet. Er sieht keine Dunkelheit, sondern etwas Schlimmeres. Eine bizarre Dauerfarbe, die keinen Sinn macht, die nicht einmal eine Farbe war. Nur wenn er die Finger direkt gegen die Augen drückte, sah er so etwas wie Blitze. Er blindet.

Der Junge kauert den ganzen Tag in einem finsteren Winkel, und wenn jemand das Wort an ihn richtet, bricht er sofort in Tränen aus oder schlägt und tritt um sich. Er wippt stundenlang vor und zurück oder liegt verdreht auf dem Boden. Er schnappt zu, er beisst, auch seine Mutter.

Die Eltern wussten nicht weiter. Einmal zerrte ihn die verzweifelte Mutter hinaus aus dem Haus, in der Hoffnung auf himmlische Gaben. Sein Kopf sank ihm auf die Brust, als würde er lauschen. Aber als er sich bewegte und irgendwo anstiess, schrie er und stolperte eilig in seinen Elendswinkel zurück.

Zwei Tage später bat er darum, von woanders den Weg zurück in seine Höhle zu suchen. Wie ein kampfbereiter Soldat stand er mit geröteten Wangen da, so dass ihn die Mutter an der Hand bis zur Kirche führte. 

Er findet problemlos zurück an seinen sicheren Platz und seine Erstarrung beginnt sich zu lösen. Bald streift er mit Nachbarskindern durch den Wald, schwimmt im Fluss und jagt Krebse. Er spielt mit Bällen, lernt massenhaft Texte auswendig, spielt Instrumente, lernt eine Sprache nach der anderen. Mit neun Jahren kommt er nach Moskau in die Blindenschule, lernt unersättlich weiter und dazu Korbflechten und Besenbinden. Er trägt weiter seine unveränderliche Quaternio visueller Erinnerungen: der Himmel, Tauben, der Kirchturm und das Gesicht der Mutter.

Eines Tages besucht der Onkel des Zaren, ein Romanov, aus Angst vor anarchistischen Mordanschlägen unter Polizeischutz, die Blindenschule. Dem verspäteten Vasilij werden vor dem Empfangszimmer vom Fürsten komische Fragen gestellt. Magst Du das Essen hier? Nicht besonders. Ob er gerne besseres wolle? Ja, ob er ihm was geben könne? Der Fürst lacht bloss blöd: Findest Du mich sympathisch? Nein, sie halten mich auf mit dummen Fragen. Der Lehrer zerrt ihn weg und hält ihm vor, dass auch ein Blinder die Vornehmheit und Majestät spürt! Ich meinte, es sei einer der vielen Polizisten, die seit Tagen rumstehen und auch so dumme Fragen stellen. Der Romanov wird nicht viel später von den Anarchisten gerichtet.

Auf der Strasse spricht ein Mann die blinden Freunde an und zeigt sich interessiert an ihrem Leben und wirkt wirklich freundlich. Der Lehrer reisst sie weg: Direkt vor der Schule mit einem Bettler reden! Ich meinte, diesmal ist es ein Prinz.

Mit fünfzehn verlässt er/ich die Blindenschule und führt als Musiker im Moskauer Blindenorchester sieben Jahre ein selbständiges Blindenleben, bis die Tolstoj-Übersetzerin und Esperanto-Lehrerin, eine Scharapowa, ihn dringlich mahnt, sofort Esperanto zu lernen und nach England zu gehen. 

Ich brauch einen Espresso.

Nach wenigen Wochen konnte er sich in Esperanto perfekt verständigen und trat seine Reise an. In Warschau sollte er von Esperantisten empfangen und in den Zug nach Berlin begleitet werden. Er stand stundenlang auf dem Perron, den grünen Stern des Esperantujo am Mantelkragen, doch niemand sprach ihn an. Doch mit Geld und Verstand geht das irgendwie, und der nächste Tagebucheintrag schildert, wie er in Berlin, nach wieder einigen Stunden Wartezeit, von amikoj und Freundschaftsvorschuss empfangen wird, von Gesinnungsgenossen samideanoj. Nach einigen Stunden sprach er das Esperanto in ihrer deutschen Melodie, er musste nur den inneren Stimmstock neu einstellen. Dann geht es nach Köln, wiederum Esperanto-Freunde. Dann nach Brüssel, wo er frühmorgens wiederum umsonst wartet, die Esperantisten haben sich im Datum geirrt. Dann weiter, aber er steigt in Calais-Stadt statt im Hafen aus und muss sich wieder durchschlagen. In Dover und dann in London wird er durch Esperantisten empfangen und untergebracht. Nach einigen Wochen wird er in die Blindenhochschule aufgenommen. Der noch nicht einmal erwachsene Vasilij lernt den alten Theoretiker des Anarchismus, Pjotr Kropotkin kennen, was seine Neigung zu dieser radikalen Haltung verstärkte und seiner fluiden Existenz entsprach.

Wieder zurück in Moskau, lernt er Japanisch, weil man in Japan auch als Blinder eine Ausbildung zum Arzt machen könne. Schliesslich reist er mit Empfehlungsschreiben aus dem Blinden- und Esperanto-Netzwerk nach Tokyo, wo er immerhin eine Ausbildung zum Masseur absolvieren kann. 25’000 Leute empfingen an der Tokyo Station den indischen Dichter Tagore, der Vorlesungen hielt und die eng mit dem Esperanto verknüpfte Glaubensgemeinschaft der Baha’i besuchte und auch Eroschenkos neue Heimat, die Nakamuraya-Bäckerei. In diesem Anarchisten-Salon blieb Eroschenko vier Jahre lang und lernte Kämpfer aus aller Welt kennen.

Dann reist er wieder, quer durch Thailand und dann durch Burma. Dort erreicht ihn die Nachricht der Russischen Revolution. Aus Sorge um seine Eltern will er zurück. Er ist so blind wie zuvor. Bei der Einreise nach Indien wird er verhaftet, aber irgendwie kann er aus dem Gefängnis fliehen. In einem Kino in Kalkutta singt er die Internationale und übersetzt den Text in Bengali. Wiederum Festnahme und Ausschaffung nach Burma. Aber bald ist er wieder in Indien und reist alleine umher. Schliesslich wird er in der Blindenschule Chennai aufgespürt und diesmal nach Japan verfrachtet, wo er mit proletarischer Literatur und Sozialismus in Kontakt kommt. Er verdient seinen Lebensunterhalt als Esperanto-Lehrer an der Blindenschule.

An seinem 36. Geburtstag sucht Clemens J. Setz die legendäre Nakamuraya-Bäckerei, doch dort wird Elektronik verkauft. Eine Seitengasse, greller Geruch nach Durchfall. Dann findet er in einem anderen Gebäude im 5. Stock das Art Museum Nakamuraya, wo einige Kunstwerke aus dem internationalen Anarchistennest versammelt sind. Nach dem berühmten Porträt im Nationalmuseum des jungen rotblonden Lockenschopfkopf sah Eroschenkos Gesicht hier düsterer aus, in der Blindheit eingesperrt. Eine Aufseherin schlägt dem österreichischen Dichter fast das iPhone aus der Hand, als er ein Foto machen will. Als er zum Ausgang wieder an dieser unwirschen Frau vorbei kommt, muss er sich zurückhalten – er verspürt eine schiere Lust, zuzubeissen.

Eroschenko treibt sich in der anarchistischen und sozialistischen Szene rum, so dass er schliesslich im Gefängnis landet. Dort schreibt er Ein enger Käfig, aber nur im Kopf. Als die Bäckerei-Hausmutter ihn besuchen kommt, diktiert er den Text. Die Intelligenzia wird sich für diese vollkommen auswegslose Geschichte begeistern und der blinde Dichter ein Popstar der 20er.

Er wird in Wladiwostock den russischen Grenzsoldaten übergeben, aber die lassen ihn nicht rein. Erlebt ein politisches Paradoxon: Wegen Bolschewismus aus Japan ausgewiesen, wird er von den Bolschewisten nicht hereingelassen, weil seine politische Gesinnung nicht nachweisbar ist. Dem Esperanto selbst erging es ähnlich: in antikommunistisch regierten Ländern wurden die Esperantisten mit den Bolschewisten gleichgesetzt, im stalinschen Sozialismus war der schwer kontrollierbare internationale Verkehr der Briefmarkensammler und Esperantisten Anstoss für das Verbot. 

Er wird nach China abgeschoben. Dort schreibt, unterrichtet und massiert er. In den intellektuellen Kreisen der Neuen Kultur wird er schnell zum Leitstern, seine Texte, lauter dunkle, schwermütige Punksongs in Prosa, gefeiert. 

Der Kater Tora-chan verbrüdert sich mit den Mäusen, die vor Hunger Kropotkins Buch Die Eroberung des Brotes fressen. Die Tigerkatze bittet um Morphium zur Sterbehilfe, da sie nun auch unter Hunger leide. Mäusegeschrei und Arbeiterchöre. In Shanghai dreht er fast durch.

Die Genie-Dichte ist in der Esperanto-Welt hoch, aber der sichtlose Himmel voller Schwermut und Irrsinn. Ein gewisser Nekrassow versichert, der blinde ukrainische Dichter sei mit einem russischen Eisbrecher in die Arktis aufgebrochen und lebe im ewigen Eis. 

Schrittspannung und Fulguritual

Am Mittwoch verkündete der Nationale Wetterdienst der USA, dass ein Rekord eingestellt wurde: Die längste Periode in Amerika zum Jahresanfang, ohne dass ein Mensch durch einen Blitzschlag getötet wurde. Zwei Stunden später wird ein Golfer in New Jersey vom Blitz getroffen und stirbt. 

Es werde gegen niemanden ermittelt. „Wie will man so einen Blitzschlag verhindern?“, meinte der hessische Polizeisprecher. Die Männer waren bereits ein Loch weiter, etwa 500 Meter, als sie vor dem plötzlich starken Regen dort beim Holzunterstand, mit Sicht auf den Edersee, Schutz fanden. Unwetter! Als die vier Herren per Handy ihre Frauen nicht erreichen konnten, schauten sie selber nach und fanden im verblitzten Holzbau ihre Leichen. Die Männer werden psychologisch betreut.

Der Balte Georg Wilhelm Richmann, Hauslehrer in St. Petersburg und später Universitätsprofessor, untersuchte die elektrische Aufladung der Atmosphäre vor und während eines Gewitters mit Hilfe einer an seinem Haus installierten Eisenstange, an deren Ende ein von ihm selbst gefertigter Elektrometer installiert war. Als er während eines Gewitters am 26. Juli 1753 das Gerät ablesen wollte, schlug der Blitz in die Eisenstange ein und tötete den Blitzjäger. Der Vorfall erregte in Europa grosses Aufsehen und bestärkte die Gegner der Blitzableiter in ihrer Überzeugung von der Gefährlichkeit der neuen Technik. Dass ein Blitzableiter nicht nur in einen Tiefenerder, sondern auch in einen Fundamenterder münden muss, war damals auch dem Erfinder, Benjamin Franklin, noch nicht klar. Als Franklin nach der Unabhängigkeitserklärung nach Paris kam, um die gemeinsame antienglische Politik zu festigen, war er nicht nur Polit- und Technikstar, sondern prägte auch die Mode. Die Herren trugen mittels Kette geerdete Blitzableiterschirme mit sich, die Damen liessen die lichterlohe Hitze näher an den Kopf, wo sie im metallischen Hutband verschwinden sollte und über das rückseitige Silberkettchen zu Boden soll. chapeau paratonnerre

Wiliam Gilbert hatte über 100 Jahre früher nachgewiesen, dass Knoblauch gegen elektromagnetische Kräfte keine Wirkung zeigt. Der Glöckner, der gegen das Unwetter den Gottessturm läutet, wird durch sein Geläut vom Blitz zuTode gebracht, auch wenn er Kruzifix und Knoblauchkette umhat. Der Markus-Turm in Venedig wurde neun Mal beblitzt und verdonnert, bis dann ein richtiger Blitzableiter verbaut wurde, so Franklin. Riesenmammutbäume wurden dank regelmässig blitzverbranntem Unterholz und entsprechender Booster-Düngung so gross. In der griechischen Antike blitzte es, wenn Göttervater Zeus zornig war. Bei den Germanen Schlug Thor die Funken mit seinem Mjölnir. Mose streckte seinen Stab zum Himmel empor und der HERR ließ es donnern und hageln. Blitze fuhren auf die Erde herab und der HERR ließ Hagel über das Land Ägypten niedergehen. (Zitat ohne Fussnote) In Zentralafrika blitzt es besonders häufig. Dort findet man verglaste Röhrchen im Wüstensand. fulgurit

An einem 9. November, als sie ein Duo unter den Orangenbäumen spielten, da die Luft rein und der Himmel hoch und wolkenlos war, wurden sie jäh geblendet, gerieten bei einem seismischen Donnern ausser sich, und Dona Olalla sank vom Blitz erschlagen nieder, so der magische Realismus eines Màrquez.
Handysticks, Golfschläger

Die Zürcher Zünfte schafften ihren gesamten Schiesspulvervorrat, ganze 40 Tonnen, in den dreissig Meter hohen Geissbergturm bei der Winkelwiese. Am Abend des 10. Juni 1652 schlug der Blitz in den mittelalterlichen Bau. Die Explosion übersähte die Stadt mit einem Steinhagel bis weit über die Stadtmauern hinaus. Sieben Tote. Ein zwei Tonnen schwerer Verrucano flog über zweihundert Meter durch die Luft und blieb an der Nordost-Ecke des Chorherrenstifts liegen, wo der rote Abweisstein noch immer sich findet.

Drei Linienblitze schlagen gleichzeitig in die oberste Spitze des Eiffelturms. Unweit nebenan kehrt ein horizontaler Blitz seine Richtung um und verschwindet in einem Bogen. Die Fotographie stammt von einem Landschaftsmaler, Gabriel Loppé, aufgenommen am 3. Juni 1902, 21:20 Uhr.

Am Flughafen Philadelphia wettert’s im Dezember 1963. PanAm 214 wird im Anflug vom Blitz getroffen, entflammt augenblicklich und stürzt brennend ab. Alle tot. Die Treibstofftanks können besser geschützt werden, doch das Blitzgeschehen bleibt rätselhaft wie das Strahlstromband. Wenige Monate nachdem die Amerikaner ihre Flagge in den Mond rammten, startete Apollo 12 vom Kennedy Space Center in Florida. Nach 36 Sekunden erfüllt weisses Licht die Kapsel, die Mondrakete hatte mit seiner vorwitzigen Nase einen Blitz ausgelöst, der im Cockpit die Elektronik anzählte. Der Bodenkontakt ist weg und schon der nächste Blitzschlag, Navigation tot. Die Abschussrampe unten zuckte und funckte. Durchhalten. Der Kommandant Pete Conrad landete fünf Tage später sicher und wurde dritter Mann auf dem Mond.

Ein Wunder wird von der katholischen Kirche nur anerkannt, wenn verschieden Gutachen andere Erklärungen ausschliessen. Meistens sind es medizinische Expertisen zu Wunderheilungen. Spontanheilungen nach Fürbitten Heiliger. Ein vielleicht auch zufälliger Rekord verlangt zur Aufnahme in’s guiness book unabhängige Zeugen als Faktencheck. Zahlen sieht man nicht: Die Hauptentladung ist zugleich die kürzeste, sie dauert nur 30 µs. Ein Positivblitz aus dem obersten Wolkenbereich, häufiger im Winter und gerne mal 10 Kilometer lang, kann 400 Kiloampère stark sein. Täglich blitzt es über dem Erdball 20 Millionen mal. Kugelblitze sind Siliziumwolken, Phosphene oder Mikrowellenplasma, ein ionisiertes Rätsel.

Er starb unter mysteriösen Umständen im Alter von 71 Jahren, sechs Jahre nach seinem letzten Blitzunfall. Laut Richter beging er im Bett neben seiner 30 Jahre jüngeren Frau mit einer Pistole Kaliber 22 Suizid durch Kopfschuss, was diese jedoch erst Stunden später bemerkt haben will. 1942 sucht er als Forstarbeiter in einem Feuerturm Schutz vor dem Unwetter, der Blitz schlägt genau hier ein, ein Zeh ist weg. Siebenundzwanzig Jahre später fährt er in seinem Pickup durch eine Alle, der Blitz schlägt in einen Baum und springt auf die Gegenseite, durch seine offenen Wagenfenster. Jetzt sind die Haare weg. In den siebziger Jahren erwischt ihn der Blitz weitere fünf mal. Er sah nun aus wie ein beschriebener Ureinwohner. Die rasante elektrostatische Entladung lässt Lichtenbergfiguren, Verästelungen wie im Blut- oder Nervensystem, entstehen, als Verbrennungen und Vernarbungen auf der vom Blitz getroffenen Haut. 

Der etruskische fulgurator deutete die Blitze zur linken Hand als günstig, wobei er nach Süden schaute. Der etruskische König Lars Porsenna konnte Blitze ebenso herbeirufen wie vor ihm Numa Pompilius, der sagenhafte König von Rom. Sein Nachfolger Tullus Hostilius wurde vom Blitz erschlagen, als ihm bei der Beschwörung desselben ein Fehler unterlaufen war. Ausserdem bezeichnet Puteal die runden oder viereckigen Einfassungen, mit denen die nun geheiligten Blitzmale (lat. bidentalia, Singular bidental) markiert wurden.

Vor knapp dreihundert Jahren gründete Jai Singh die heutige Metropole Jaipur in Rajastan. Er baute sich auch eine Anlage zur Beobachtung der Gestirne, das Jantar Mantar mit einer endlosen Treppe hoch zur Sternwarte. Da ganz oben standen zwei Dutzend Jugendliche und schossen vergnügt und ein wenig eitel Selfies, als ein Blitz einschlug und die Hälfte von ihnen auf der Stelle tötete.

An der Solothurner Hochzeit vereinigten sich für einige Jahre die vaterländischen, genossenschaftsorientierten Grütlianer mit den internationalistischen Sozialisten, blieben aber weiterhin ein selbständiger Verein. Zum Zentralfest im darauf folgenden Jahr im hochsommerlichen Winterthur wirbt ein Plakat, das die neue Ausrichtung vorstellt: Die junge Helvetia auf einem grossen Globus hält als beschämte Marianne in der linken einen Lorbeerzweig, in der rechten ein grünes Buch vor rotem Gewand mit den güldenen Lettern Carl Marx. Unterhalb ihrer Scham stehen Musen der Malerei und Literatur in hellem Gewand, flankiert von Landwirtschaft und Industrie, die Farben der weiblichen Arbeitskleidung vertauscht. Der Hintergrund nachtdunkel, in den supraglobalen Sphären Kriegselend, Ketten und explodierende Goldsäcke. Verbrannt und vernichtet durch die marxistischen Blitze des historischen Materialismus, der logisch zwingenden Überwindung des Kapitalismus. 

Als die Junioren B aus Abtwil ihr Heimspiel gegen die Münsterlinger austrugen, herrschte vor dem Anpfiff eine geladene Stimmung. Es galt Revanche zu nehmen, die Knaben nannten sie blutig – beim Auswärtsspiel konnten sie den frühen Rückstand einfach nicht mehr wettmachen. Die Spannung erhöhte sich, als Trainer Alain in der Kabine bei einem Sieg Pizza versprach, gespendet vom Club. Nun galt es, das Beste auf den Rasen zu bringen. Der war feucht, es hatte genieselt. Der Himmel dunkel verhangen, das Kunstlicht war an, beinahe windstill. Nach dem Anpfiff, begleitet von einem fernen Donnergrollen, stürmt das Heimteam los und mach mächtig Druck. Ein erster Torschuss kann vom Gegner noch knapp abgelenkt werden.  Nun stehen alle nervös vor dem Tor und wollen die Flanke aus der Ecke. Da kracht’s und gleissendes Licht zuckt um den Elfmeterpunkt. Die Trainer sehen, wie Blitze über das ganze Rasenfeld springen. Die Scheinwerfer sind aus, es raucht. Nur wer mit geschlossenen Füssen dastand, blieb stehen. Sechs eigene, sieben Gegner liegen am Boden. Der Münsterlinger Captain ist bewusstlos. 

Der Säntis ist oft Auslöser für Gewitter in der Region. So auch in diesem Fall. Der Laser-Blitzableiter auf dem Säntis ist ein EU-Forschungsprojekt. Tausend Laserpulse pro Sekunde ionisieren die Luft und lässt durch einen künstlichen Blitzkanal die Himmelsenergie herleiten. Kommerzialisiert wird die Technologie, wenn die hohen Laserstrahlen ein ganzes Flughafengelände blitzfrei halten können. Blitzenergie zu speichern scheitert am gedanklichen Experiment. Aitiologie als Ursachenergründung wird in der Medizin methodisch nach correlatio untersucht, dann wird die contributio abgeschätzt, dann nach der causa gewertet. In der Literatur und der Religionswissenschaft meint aitiologisch ein Narrativ, das die Ursachen glaubhaft erzählt.

Denkste

Schreiben ist lautes denken und darum sehr unzuverlässig. Aber das gilt nur für das Gelesene – das Geschriebene selbst ist evident, valide und mit hohem Konfidenzniveau höchst verlässlich. Geschriebens Selbst. Denken wird durch Wahrnehmungen, Gefühle oder willentlich losgetreten. Vorstellungen kreieren, Erinnerungen beschwören, Theoreme in- oder deduzieren. Denken setzt am wuchernden Begriffsrhizom an, verknüpft das Diffuse sprachlogisch und grammatisch und bettet damit das denkende Subjekt in die objektive Gedankenwelt. Denkend versucht der Mensch den Gegensatz zwischen subjektivem Meinen und objektiver Sachlichkeit aufzuheben: Im hermeneutischen Zirkel oszilliert die Denkhaltung. circular reasoning works because da capo

Ursächlich war die Verschriftung ein Prozess der Visualisierung sprachunabhängiger Begriffe, nicht sprachlicher Zeichen. 

Die abgeklärten Kränkungen des Menschen: Kosmologisch ist die Welt ein Kügelchen mit einem Schimmelüberzug lebender und erkennender Wesen. Biologisch ist der Mensch ein Tier, bei dem Intelligenz mangelnden Instinkt und systemische Unpassung kompensieren muss. Die psychologische Demütigung: Unser eigenes Ich ist nicht Herr im eigenen Hause. Das zu-Denkende entzieht sich dem Menschen und zieht ihn mit. Es denkt.

Selbst die Edelleute auf ihrer Stube zum Rüden verschmähten es nicht, die wunderliche Gestalt einzulassen, und die wirklichen Ritter gewöhnten sich sogar mit tieferem Humor daran, den Mann im Ottergewande als ein Sinnbild und Wahrzeichen der Nichtigkeit aller Dinge zu ihren Gelagen zu ziehen. Süsse Otterpfötchen Man muss mit der Wirklichkeit einen Kompromiss schliessen, der einen vor ihren Zumutungen schützt.

Das seelische Ich ist nicht das empirisch individuelle Einmalige, sondern die aktive Kraft des Selbstgewahrwerdens, unterhalb des Ich-Gefühls, eine pulsierende Ichheit. Kants Ding an sich ist nicht mehr, im subjektiven Idealismus wird es zum Ding für uns. Das Ding an sich ist nun in uns als Freiheit, mit der das Ich jeden Augenblick aus eigener Kraft anfangen kann zu sein. Das bessere Bewusstsein erhebt Schopenhauer in eine Welt, wo es weder Persönlichkeit noch Kausalität, weder Objekt noch Subjekt gibt. Die altdeutschen Mystiker nicken und heben den Blick. Die Senkrechte: sie bringt einen nicht ins alte Jenseits, sondern ins Zentrum des Hier und Jetzt.

Den Pythagoräern ist die Zahl vierzehn heilig. Zehn ist die Summe von eins, zwei, drei und vier; dazu die Vierheit der Grundelemente, Himmelsrichtungen, Körpersäfte, Temperamente. Geschmäcke. Der katholische Kreuzweg umfasst vierzehn Stationen. Die dreizehnte ist die Pietà, welche in den Evangelien fehlt, wie bei deutschen Zügen der dreizehnte Wagen. Die vier gilt nun als Zeichen des Irdischen, im Gegensatz zur himmlischen Trinität. Hegels Weltgeist steigt über vierzehn Stufen, zuoberst das absolute Wissen, die Selbsterkenntnis. Aurobindos Bewusstsein entwickelt sich sieben mal. Nietzsches Übermensch macht Yoga und wird zum superman mit supermind – kein ichhaftes Übermenschtum, sondern integrale Selbsttranszendenz.

Die eigentliche metaphysische Tätigkeit, willenlose Erkenntnis, ist eine ästhetische Haltung, die Verwandlung der Welt als ein Schauspiel, das sich mit interesselosem Wohlgefallen betrachten lässt. 

Die Welt als Vorstellung und Wille ist dasselbe wie das Maja und Brahma der Upanishaden. Das Subjekt des Erkennens kann sich selbst niemals erkennen. Wenn das Erkennen sich selbst erkennen will, es also zum Objekt macht, muss das erkennende Subjekt vorausgesetzt werden. Reflexionsphilosophie führt zu Verdoppelungen und Endlosschleifen. Aber wenn das Ding an sich nicht im denken liegt, sondern in einem naturkräftigen Willen, so muss das Ziel in dessen Verneinung liegen, folgert Schopenhauer.

Die Selbsterfahrung des eigenen Leibes ist der einzige Punkt, wo ich erfahren kann, was die Welt ist, ausser dass sie meine Vorstellung ist. Die unmittelbare Selbsterfahrung des Willens lässt uns eintauchen in eine Dimension, die unter dem principium individuationis liegt. In seinen Berliner Notizen findet sich der inoffizielle Subtext zum Prinzip des Willens: Wollust im Akt der Kopulation. Das ist es! Das ist das wahre Wesen und der Kern der Dinge, das Ziel und Zweck allen Daseyns. Die Geheimkladde εις εαυτόν, Unterhemd und Leibchen.

Besonders die Pflanzenwelt fordert zur ästhetischen Betrachtung auf. Da das Grünzeug nicht erkennen kann, will es erkannt werden. Wenn Proust den Anblick der Weissdornhecke erzählt, so sind Augustin und Schopenhauer Geistesverwandte in der Kunst des stummen Gesprächs mit Botanischem. Der grüne Wille spricht zu uns, wenn wir hinschauen. 

Er zieht sich die gestrickte Denkmütze über den Schädel, wenn ein reales Problem gefunden ist, das mit einer eleganten Lösung beschenkt werden soll. Über der Stirn das weisse Band, das erlaubt, vom weissen Blatt auszugehen. Zuoberst blau wie der Himmel, mit dem moderativen Überblick. Darunter das rote Feuer der Emotion, neben dem schwarzen Teufelsadvokat. Getragen von goldigem Optimismus und grünem Wachstum. Und lila, sanskritisches Spiel.

Das Denken sieht sich, ohne religiöse Verankerung, vor die Aufgabe gestellt, die Seinsvergewisserung aus sich selbst hervorzubringen. Das Denken hat mit dem Sein-Können zu tun. Was aber ist, das erleben wir nur mit unseren Sinnen. Die mit dem ganzen Körper erlebte Liebe verbürgt uns die Wirklichkeit jenseits unserer Körpergrenze. Die körperlichen Sinne sind das Organ des Absoluten (Feuerbach). Marx stellt dann den Gesellschaftskörper ins Zentrum, der in hegelianischer Vervollkommnung und Vollendung Kommunismus wird und die Philosophie aufhebt. 

Nietzsche hat amor fati fälschlicherweise als genitivus objectivus verstanden, im Sinne wir sollen das Schicksal lieben. In Wahrheit ist das Schicksal dasjenige, das Dich liebt. Es steht Dir frei, die Liebe zu erwidern. Wenn, dann am besten in spinozistischer amor intellectualis Dei. Wir wissen erst dann, was wir wollen, wenn wir schon gewollt haben. Wenn es aber im Handeln keine Freiheit gibt, so muss sie im Sein liegen.

Das grosse Glück wollen ist die Voraussetzung, es zu erfahren und als Grundlage des Erlebens einzuverleiben. Die Bewegung zum unum, hin zum Einen, führt zu Glaubens- und Denkformen, die das Absolute und das Unendliche einschliessen. Diese Schönheit wird durch Deradikalisierungsprogramme wie Normalisierungsprozesse auf die Probe gestellt. Heute sucht man das Gespräch mit seinem Unbewussten, das plötzlich hemmungslos alle Geschichten ausplaudert, die wir ihm zuvor beigebracht haben. 

So bleibt Dir nichts als ständige Neuinszenierung. Dabei geht es Dir weniger um den Eindruck, den Du äusserlich hinterlässt, sondern um die situative Passung deines Ausdrucks. Dabei verschwindet das Meta-Ich, das gerne moderiert und kommentiert. Du erlebst Deine Aufmerksamkeit nicht mehr als Funktion Deines verkörperten Ichs. Die Intensität des nunc stans kann nur verschwinden, weil wir daraus verschwinden. Die kristalline Klarheit der Ekstase ist eine Euphorie des Auges, dem vor lauter Sehenkönnen die Gegenstände verschwinden.

Eiersalat (Rohmaterial); Brautsuppe ohne Eierstich

Kritikern zufolge wird der Glaube in liberalem Verständnis nur noch als Mittel der Selbstvervollkommnung gedeutet. Das lutheranische „Einstellen guter Früchte“ bei rechtem Glauben gilt aber auch in der liberalen Theologie. Schleiermacher und Fichte werden gerne zitiert, natürlich auch Kant. Lessing und Rousseau; Albert Schweizer, Paul Tillich stehen Pate. Es gilt die Überzeugungskraft von Erfahrung und Argumenten und damit Wahrhaftigkeit. Trotz reformierter Nüchternheit keine Angst vor Spiritualität.

Im St. Peter, seit Generationen theologisch liberal, heisst der Sigrist mit Namen Sigrist, die Übereinstimmung launische Zufälligkeit. Der Aufstieg auf die Empore, hinter dem Altar, lässt den Blick in vorreformatorische Gefilde schweifen. Ein wenige Stunden zuvor zum Kommandanten der päpstlichen Garde ernannter Innerschweizer, ein Estermann, wurde zusammen mit seiner Ehefrau von einem jüngeren Gardisten aus dem Wallis in seiner soeben bezogenen Dienstwohnung ermordet, weil er ihm die Ehrbezeugung, die dem Vize-Korporal wie jedem Gardisten nach drei Dienstjahren zustand, verweigert hatte. Allmächtiger! Der Hitzkopf legte diesen in den Nacken, bevor er sich mit der Mordwaffe in den Mund schoss. Seine Mutter erhielt vom Nuntius das Projektil, mit dem sich ihr Sohn zu Tode gebracht hatte, doch dies schürte im Wallis nur Zweifel am vatikanischen Narrativ. Die Osterpredigt der jungen Pfarrerin mit ihren funkelnden Augen, die Verkündigung blinzeln, hinterliess im St. Peter den Eindruck, dass sie nichts von der leiblichen Auferstehung des historischen Jesus hält, diesem tagesaktuellen christlichen Dogma, sondern dass es um ein symbolträchtiges Gleichnis geht. Der riesige Steinsbrocken, der vom Grab weggerollt war, weiss nicht, wie ihm geschah: Ein Text des Slampoeten Tschudi, den er nicht gedruckt sehen will. Es wirkt das gesprochene Wort. Desinfektionsspray und Hygienemaske werden zu liturgischen Geräten des Abendmahls. Ich war sehr gerührt und bildete mit meinen Händen eine Schale, um ein frisches Stück Brot zu empfangen, geschnitten wie für’s Käsefondue. Dazu wurden kleine Gläschen Rotwein gereicht, das wirkte wie Echinaforce. In meiner Tasche die wundertätige Medaille, die in Paris gegen die Cholera wirkte, verschenkt von den Altkatholiken. Holy shit ;

Der Mann des geschriebenen Wortes, Jonas Lüscher, schildert sein Ostererlebnis nach sieben Wochen im künstlichen Koma. Herz-, Lungenfunktion und Blutreinigung wurden durch extrakorporale Maschinen abgearbeitet, das Bewusstsein medikamentös sediert: Das Dasein eines Cyborgs mit künstlicher Intelligenz. Vigilanz und Schmerz sind weg, aber der Stress nicht. Er wirkte seh unruhig, verstört und verängstigt – und fühlte sich auch so. Ein Teil des Bewusstseins reagiert unbewusst – und das nakotisierte Selbstbewusstsein weiss um die Todesnähe. Ihm träumte wochenlang vom sterben und auferstehen. Nach der Reaktivierung seiner intrakorporalen Organe brauchte er Tage, um Traum und Wirklichkeit zu scheiden. Es waren sehr verstörende und brutale Erlebnisse im Koma. Und dann auch irgendwie interessant. Die unangenehmsten Episoden spielten in Japan. Ich habe aber eigentlich keine Beziehung zu Japan, war nie dort. Jetzt will ich von Japan am liebsten nichts mehr hören und sehen. Ich bin nach der Reha erstaunlicherweise in mein altes Leben zurückgekehrt und habe da weiter gemacht, wo ich stehen geblieben bin. Aber es ist gerade sehr schwierig, wieder in die liegengebliebene Textarbeit reinzukommen. 

Aber das macht ja einen Teil des Daseins als Dichterin oder Schriftsteller aus.  Reinkommen ist eine andere Kunstform: Drinnen bleiben. Lüscher hat seine Dissertation an der ETH über die Bedeutung von Narrationen für die Beschreibung sozialer Komplexität vor dem Hintergrund von Richard Rortys Neo-Trotzkismus nicht akademisch krönen lassen, sondern hat einen Roman daraus gemacht. Der neue japanische Literaturstern* Mieko Kawakami lässt ihre Hauptfigur als alter ego über ihr fruchtloses Bemühen, ihren einfallslosen Schreibstau berichten – selbst hängt sie ihrer alten Novelle eine weitere an und voilà der Roman. Meinerseits führte das zu Leseverstopfung. Aber die Kirschblüten auf dem türkisen Cover! Mit Schmetterling, genau das Deckenlichtbild während der Zahnhygiene bei der zierlichen Finnin. Der erste Romanteil ist eine Art Abklärungsbuch für Mädchen in der frühen Pubertät. Da wird über das ungefragt geboren werden gelästert, die mehr oder weniger regelmässige Blutung verflucht, der Sinn von Geschlechtsorganen hinterfragt, lustvoller Sex ausgeschlossen und Asexualität einer weitgehend beziehungslosen und unverständlichen Umwelt als angemessen verstanden. Sie hob plötzlich den Kopf, brach im Bruchteil einer Sekunde den Zehnerpack Eier auf, der zum Wegwerfen auf der Spüle stand, nahm ein Ei heraus und holte aus. Sie ist Midoriko, die Tochter der älteren Schwester der Erzählerin. Die Kleine hat monatelang kein Wort zu ihrer Mutter geredet, jetzt findet sie die Sprache wieder und schreit ihre Schuldgefühle heraus: Willst Du Dir die Brüste vergrössern lassen, weil sie durch mein Saugen schlaff geworden sind?! Aber da waren nicht nur die zehn Hühnereier, die zum Wegwerfen bereitstanden, Midoriko und dann auch ihre Mutter schmetterten sich ein zweites Zehnerpack aus dem Kühlschrank an ihre Köpfe. Am Morgen nach dieser Eierorgie trinken sie alle Sojamilch, das ist gut für den weiblichen Körper. Der Roman wird als feministischer Protest gegen die japanische Gesellschaft mit ihren verkrusteten Konventionen und gegen Gewalt an Frauen gefeiert. Von Murakami geedelt: grossartig, atemberaubend. Die Übersetzung sei hervorragend und vermöge den besonderen Osaka-Slang im Deutschen wiederzugeben? Es wimmelt von Orthographie-, Grammatik-, Interpunktions- und anderen Druckfehlern. Das Buch heisst Brüste und Eier, im Original etwas weniger schreierisch. Im zweiten Teil geht es dann um die männlichen Eier, genauer um künstliche Befruchtung und präzise um die Beschaffung von Spermien für eine Schwangerschaft der erzählenden Schriftstellerin. Als asexuelle Single recherchiert sie über Samenbanken von anonymen Spendern, lernt eines dieser Früchtchen auf der ewigen Suche nach dem anonymen Vater kennen und kriegt zu guter Letzt von genau diesem eine Portion Spermien zur Insemination mittels Baumarktspritze. Sie will einfach ein Kind, wegen dem fortgeschrittenen Alter und um es kennen zu lernen. Fremdsamen sing gar nicht so komisch. Sie findet, ihre Mutter sei als Arbeitskraft mit Fotze gehalten worden. Sie wollte ihre Mutter vom Scheisskerl Vater befreien. Die Mutter ist dann irgendwann abgehauen, mit ihr: Du brauchst keinen Vater. Diese Frage wird gestellt: Wie baut man zu einem Mann Vertrauen auf? Keine der Romanfiguren weiss um eine Antwort. Der Höhepunkt der zweiten Romanhälfte ist das Treffen der Erzählerin mit einem Privatspender, der sich zu dieser Art des Helfens berufen wähnt, weil seine Spermien Qualitäten weit über der Norm aufweisen (Konzentration, Motilität). Und der die Insemination durch Penetration, auf Wunsch in Spezialkleidung, die nur das Allernötigste frei lässt, für die zielführendste Methode zur ersehnten Schwangerschaft hält. Da dämmert es: Der Mann als Solcher: Dreck. Natürlich erhält auch die Meinung, dass Kinderwunsch auf Egoismus beruhe und dass es geradezu unverantwortlich sei, ein Kind auf diese kaputte Welt zu bringen, viel Raum. Die Frage der Eizellen-Spende ist in Japan noch nicht auf dem Tisch. Erdogan: Unsere Religion hat der Frau ihren Platz zugewiesen (von der Leyen nimmt’s hin, setzt sich auf’s Sofa, daneben): Das Muttersein. Die Kunsthochschule inkludiert den Kunst-Nazi nicht, das sei ein fake, keine richtige Kunstfigur – blosse Realität, banale Wirklichkeit. Die Gleichberechtigung bringt den Anteil Frauen an den Reichsten voran. Chicks with balls. Niemand geht leer aus (schon gar nicht Millie) – die Identitätspolitik ist in anderen Umständen. Alles mega meta und dystopisch. Am Schluss aber ist es da, das Kind.

Mäxchen Maximilian

Nichts deutete darauf hin, was später sein Leben ausfüllen und ausmachen würde. Geboren wurde er in einem grossen Gasthaus an einem grossen See. Oben auf der Dachspitze wehte eine währschafte Schweizerfahne aus gutem Tuch: Das Hotel Bär in Arbon. Im Fabrikstädtchen war einem Nachbarjungen seines Grossvaters der Kiefer aus dem Gesicht gefallen, so stark hatte das Phosphor in der Zündhölzchenfabrik die Knochen angegriffen, obwohl er noch kaum dem Kindesalter entwachsen war. Aber Max kam in ordentlichen Verhältnissen zur Welt, seine Eltern hatten sich als Arbeiterkinder zu selbständigen Hoteliers heraufgearbeitet. Hier stieg einmal auch ein König ab, zu Hause in Stuttgart als Schweizerkönig verspottet, der Würtemberger Wilhelm II. Ein mit grossbürgerlichem Lebensstil jovial sich anbiedernder Typ, die Souveränitätsrechte ausser der eigenen Bier- und Schnapssteuer längst beim Deutschen Kaiserreich. Dem Kaiser in Berlin stand der Württemberger distanziert gegenüber, er hatte eine grosse Abneigung gegen dieses unzivilisierte Militärgepolter. Mäxchen durfte als Junge die gefallenen Kegel aufstellen, wenn denn die Kugeln des Königs einige umzuwerfen gedachten.

Es war erzwungene Schicksalsergebenheit, wenn Eltern ihre menschlichen Gefühle niederrangen und ihren Lebensverhältnissen als hereingeborene Geschöpfe Opfer brachten und ihre eigenen Kinder zur Fabrikarbeit anhielten, auch wenn der Fabrikbesitzer persönlich diese unsere Kinder mit der Peitsche züchtigte. Wieder diese Zuchtgeschichte der Menschheit, die stammesgeschichtliche Autodomestikation, Vorgänger der individuellen Selbstoptimierung.

Als Textilkaufmannslehrling fühlt Max sich ausgebeutet und lehnt eine Weiterbeschäftigung nach erfolgtem Abschluss ab. Gegen den Willen seiner Eltern zieht er los und kellnert in Schweizer Hotels und in halb Europa, lernt spielend Fremsprachen. Dazwischen absolviert er die Rekrutenschule und die ersten Wiederholungskurse. Für ihn gehört das Militär zur patriotischen Pflicht der Friedenssicherung. Noch keine dreissig übernimmt er die Geschäftsführung des Gasthauses Ratskeller in der eidgenössische Hauptstadt. Seine drei besten Jahre, vor Kriegsbeginn und der Mobilmachung. Sein Vorbild ist der self-made man und die Personifizierung des amerikanischen Traumes Benjamin Franklin. Dieser ist für ihn der Erfinder eines genialen Systems der Selbstbeobachtung und moralischen Selbstverbesserung, nicht der Geist des Kapitalismus, den Max Weber in ihm sieht. Max kennt diesen Weber nicht.

Er geht das Gastgewerbe sozial und nachhaltig an; alle Lohnangestellten bekommen vollen Einblick in den jeweiligen Monatsabschluss und ihren derweiligen Anteil am Betriebsgewinn. Er empfiehlt seinen Gästen gerne vegetarische Gerichte und zur Begleitung alkoholfreie Getränke. Max spürt, dass er jetzt in den Vollbesitz seiner Kräfte gelangt ist. Er hat neben der Mentalarbeit und moralischen Veredelung nun auch seinen Körper zu einer kräftigen Naturschönheit gebracht, so dass er, ohne an Eitelkeit zu denken, sich in Posen fotografieren lässt, mit Lendentuch und Socken. Später sollte er diese Bilder zur Illustration eines Gesundheitsratgebers und Körperpflegeanleitung verwenden. Bis hierher ist er das Zentrum seiner selbst errichteten Welt: “Krieg?! Ich lachte den uniformierten Deutschen aus. Krieg gibt es nicht mehr. Ich kenne die Welt. Überall friedliche Völker, friedliebende Menschen überall. Nur die Herren Offiziere reden von Krieg, weil das zum Militär gehört.”

Erst als er den Marschbefehl nach Frauenfeld in Händen hält, wird ihm klar, dass hier etwas schiefgeht, dem er ausgeliefert ist. Man kann doch als neutraler Schweizer nicht in diese irre Kriegsfreude einstimmen, ich will meinen Frieden. Der Bundesrat soll zwischen den Streithähnen vermitteln, statt die Soldaten mit geladener Waffe an die Grenzen zu stellen. Trotzdem, auch entgegen der eigenen Gefühle der Feigherzigkeit, stellt er sich pünktlich und ordentlich in Frauenfeld seinem Schicksal. Er meidet seine früheren Schulkollegen, ihre Kriegsbegeisterung widerstrebt ihm. Dann passiert es. Wenn es schon um Leben und Tod geht, so will ich mein Schicksal in die eigene Hand nehmen. Kurz vor der Zeremonie des Fahneneides drückt er seinem Nachbar das Gewehr in die Hand und rennt auf die Stufen der Freitreppe, richtet sich an die Soldaten, nennt seinen Namen und ruft: «Ich protestiere gegen den Krieg und schwöre nicht!» Das war die Verkündung seines Daseins als Friedensapostel. In der Literaturgeschichte führt der Schwur dramatisch in die Irre.

Ich kann doch nichts dafür, wenn mir unbekannte Regierungen einen Streit anfangen. Als Soldat bin ich Teil des Krieges. Keine Soldaten, kein Krieg. Jetzt gibt es Krieg, keiner sollte da hingehen. Das Grosse ist immer einfach, weil es einfach ist, und darum ist es eben gross. Nomologischer Nominalzirkelschluss, so wird er künftig reden und predigen. 

Max rechnet damit, für seine märtyrerhafte Tat vor das Militärgericht gestellt zu werden und mindestens die Dauer des angebrochenen Krieges im Gefängnis zu sitzen. Doch nach zwei Wochen holt man ihn aus der Zelle und verbringt ihn nach Münsterlingen, in das Irrenhaus. Dort gibt er dem leitenden Arzt das jesuanische Schwurverbot in der Bergpredigt als Grund für seine Dienstverweigerung aus. Er zeigt im Gespräch eine Naivität seinesgleichen, er ist auch lediglich anekdotisch gebildet, weiss kaum etwas über pazifistische Politik und die organisierte Friedensbewegung. Von Leonhard Ragaz hat er noch nie etwas gehört, dem pazifistischen Theologie-Professor. Viele seiner Gedanken haben grössenwahnsinnige und narzisstische Tendenzen. Nach vier Monaten entlässt ihn der Psychiater eher mitleidig, als Psychopathen erheblicher Ausmasse und damit nicht zurechnungs- und schuldfähig, so dass er vom Militärarzt für untauglich erklärt und ausgemustert wird, raus aus dieser ordentlichen Realität, die auch zu Kriegszeiten ihren Platz behauptet. 

Max wird zum Geächteten, die Thurgauer Nationalräte besuchen den Ratskeller, in dem er nun als Küchengehülfe arbeitet, aus Protest nicht mehr. Er liest Erweckungsbücher, bis er sich als auserwählten Friedensstifter fühlt, der es alleine zu richten versuchen muss. Er wird Aktivist, nachdem ihn der Bruder vor die Tür gewiesen hat, sammelt Unterschriften und Geld, verteilt Pamphlete, macht Eingaben und Inserate und bettelt bei der Prominenz. Er unterbricht im Nationalrat die Debatte über das Tierseuchengesetz und spricht im Namen der Friedensarmee von der Zuschauertribühne. Wird vor die Türe begleitet. Clara hatte ihn davor gewarnt.

Um der drohenden Entmündigung zu entgegen, reist er nach Zürich, wo er auf der Strasse junge Arbeiter und Kriegsgegner trifft, welche seinen öffentlichen Reden und Friedenspredigten zuhören. Im Sog der radikalen Sozialisten, die durch die Oktoberrevolution und Lenins Friedensdekret angefeuert werden, gelingt es Max nach einer Brandrede auf dem Helvetiaplatz, zusammen mit einigen Dutzend Revolutionären die Munitionsfabriken Bamberger und Scholer still zu legen, gewaltlos. Die NZZ fordert am Folgetag, “diesen Burschen unschädlich zu machen”. Am Abend zerrt ihn die Polizei vom Brunnen auf dem Helvetiaplatz. Um dem Tumult Herr zu werden schlugen die Polizisten mit blanken Säbeln um sich. Am Abend danach fordern Tausende vor dem Bezirksgebäude die Freilassung der politischen Gefangenen. Polizisten, Landsturm und Revolutionäre beschiessen sich; Novemberkrawall mit einigen Toten.

Wiederum vier Monate Untersuchungshaft und Psychiatrie. “Das Gutachten der Heilanstalt ,Burghölzli‘ vom heutigen Datum ist mir vollinhaltlich verlesen worden. Dies ist Makulatur, Schwindel und Betrug. Meine Wahnideen decken sich vollständig mit den Ideen von Jesus, Tolstoi und Gandhi. Die Psychiatrie ist dazu da, unbequeme Leute zu entfernen. Jesus ist damals gekreuzigt worden, heute würde er durch den Psychiater beseitigt. – Einen Vormund anerkenne ich nicht. Ich habe schon einen Vormund. Mein Vormund ist Gott, die Wahrheit. Vorgelesen und bestätigt: Max Daetwyler”. 

Die kaum zwanzigjährige Klara hört, was ihrem schönen Kriegsgegner widerfährt und sucht ihn auf, bald heiraten sie und beziehen ein kleines Häuschen am Rande von Zumikon. Errichtung einer Geflügelfarm. Als Vegetarier vermag er sein Federvieh aber nicht zu töten. Darum Umstieg auf Bio-Gemüsebau und Bienenzucht. Zwei Kinder, einmal Max, einmal Klara. Er schreibt Broschüren über seine Erlebnisse und Ansichten, versucht diese zu verkaufen. 1931 schickt er sein Dienstbüchlein an das Kreiskommando mit dem Vermerk “gegenstandslos”. Ihm ist das armselige Familienleben zu eng geworden, er muss raus, marschiert mit einigen Gleichgesinnten nach Genf, um gegen die verlogene Politik des Völkerbundes zu protestieren. Am Genfersee trifft er Gandhi. Dann spricht er vom kantonalen See aus, auf einem Boot vor der Quaibrücke, um das städtische Redeverbot zu umgehen. Die Wirtschaft gerät immer mehr in die Krise und in der Politik wird über Arbeitsbeschaffung, Schulden- und Geldpolitik gestritten. Max beteuert, er verstehe nichts von Politik und geht auf den Helvetiaplatz, verteilt sein Bares, um den Geldumlauf zu erhöhen. Die Polizei verbietet ihm das. Das geht nicht, genau wie betteln. Klara appelliert an seine Verantwortung für die Familie, aber Max entgegnet stur, dass er zuerst Gott gehöre, dann der Menschheit, dann dem Volk, und erst dann der Familie. Er spricht von sich immer öfter in der dritten Person, als wäre er sein eigenes Haustier.

Die Seitenaltäre der Hottinger St. Antonius-Kirche, zu der die katholische Kirchgemeinde Zumikon gehörte, wurden zu Ende des ersten Weltkrieges gemalt und nehmen mit einem Fresko darauf Bezug. Ein uniformierter Soldat kniet mitsamt Gewehr vor dem Kirchenpatron und empfängt Almosenbrot. Der reformiert getaufte Max ereifert sich nicht nur. Als Aktivist kauft er Farbe und Pinsel in einer nahen Drogerie und übermalt das Fresko mit weiss, seiner Liebes- und Lieblingsfarbe. Diese Malaktion ist tiefschwarz in den kirchlichen Annalen. Er wird nicht nur wegen Eigentumsschädigung, sondern auch wegen Störung des Religionsfriedens angeklagt. Nun diagnostiziert man ihm im Burghözli Paranoia auf schizophrener Basis.

Die Justizdirektion lässt ihn laufen, aber der Regierungsrat fordert die Gemeinde Zumikon auf, den Störefried unter Vormundschaft zu stellen. Über Max Daetwyler kann unsererseits in keiner Weise etwas Nachteiliges ausgesagt werden. Wir sind der Ansicht, dass Max Daetwyler weder geistesschwach noch geistesgestört ist. Im freisinnigen Zumikon galt er als etwas kauzig, aber als freundlicher und friedliebender Familienvater. Einige Jahrzehnte später wird die Ortsvorsteherin Kopp die Haltung der Behörden bestätigen. 

Max erhält einen Termin beim christlich-konservativen Bundesrat Giuseppe Motta, der in allen damaligen politischen Modefarben schillerte und fünfmal zum Bundespräsidenten gewählt wurde. Max marschiert nach Genf, Lyon und Paris. Überall wird ihm zugehört, überall taucht die Polizei auf. Dann erreicht ihn ein Brief seiner Frau, die ihn zum letzten Mal auffordert, seinen familiären Pflichten nachzukommen. Er reist sofort zurück nach Zumikon und lebt wieder mehr nach innen. Als der Krieg ausbricht, macht er ein privates Protestfasten von drei Wochen. Nun ist er abgemagert. Er marschiert wieder an Friedenskundgebungen mit, ab jetzt immer mit der weissen Fahne. Im letzten Kriegsjahr verhaftet ihn ein Grenzwächter beim illegalen Grenzübertritt in Basel. Er wollte den Deutschen dringend raten, Friedensverhandlungen aufzunehmen, Hitler habe ihm nie geantwortet. Max hat seine gesamte Barschaft seinem Begleiter geschenkt und hat nur noch religiöse Karten und eine weisse Fahne auf sich. Er hielt den Schweizer Grenzwächter für einen Deutschen. Der Grenzbeamte vermutet religiösen Wahn. Vier Monate Gefängnis, bedingt.

Ein «prächtiges Saurer Automobil» bringt den gebürtigen Arboner wieder nach Münsterlingen. Es ist eine etwas weltanschauliche Geschmackssache, ob man solche Leute wie Daetwyler hier frei herumlaufen lassen soll. Ich für mich halte sie in einem gewissen Sinne doch für gemeingefährlich, da sie mit ihren Gedankengängen unklare Geister doch eventuell zu verwirren vermögen. Mit vorzüglicher Hochachtung.

In den Nachriegsjahren wird er wieder ruhiger. Mitte der fünfziger Jahre verewigt Varlin den Friedensapostel mit seiner weissen Fahne in Öl, den Anführer einer vormaligen Friedensarmee und ikonisches Motiv, einige Jahre bevor er für Dürrenmatt das Grossbild Heilsarmee anfertigt. Dann erkrankt Klara an Krebs – und stirbt. Max ist verzweifelt und macht sich Vorwürfe. Wie hatte er nur diesen grossen Fehler machen können, der Welt den Frieden zu bringen, statt zu Hause mit dem Frieden zu beginnen.

Dann passiert es wieder, er muss raus. Er treibt Geld auf, bei seinem Sohn, bei Duttweiler, dem Beobachter und beim Blick. Mitte siebzig zieht er los: Marsch durch Deutschland, Ausweisung aus Ostberlin, mit der weissen Fahne auf dem roten Platz, Marsch von New York auf Washington, Dauerpredigt in Kuba. Er schlägt sich selbst für den Nobelpreis vor. Mit den neuen Friedensbewegungen und den Atomwaffengegnern hat er wenig gemein. Lieber nimmt er als Unterentfelder-Bürger an der Tausendjahrfeier teil und marschiert mit seiner Fahne hinter den Ortsvereinen und Gästen. An den Solothurner Filmtagen wird Feusis Film über ihn gezeigt.

“Nach dem langen Leben mit dem Einsatz für den Weltfrieden ist es eine gegebene Sache, dass ich nicht mehr an einen Erfolg bei den Menschen glaube & nicht mehr auf diese Karte setze, wie früher. Es ist mein Schicksal, einsam durch die Welt weiter zu wandern. Wichtig ist in dieser Fase nur das eine, dass ich das Vertrauen im inneren Gott, & zu mir selbst nicht verliere.» Im Beisein seiner beiden Kinder stirbt er am 26. Januar 1976 im Haus der Tochter.

In seinen letzten Jahren war er etwas weniger missionarisch geworden, seinem Friedens- und Liebesgeleier hörte schon einige Zeit kaum mehr jemand zu. Meistens marschierte er, seine weisse Fahne geschultert, in der anderen Hand eine verbeulte Aktentasche, direkt hinter dem offiziellen Kundgebungsumzug, danach stand er alleine am Rand und wartete, dass er angesprochen würde. Sein langer weisser Bart strömte Gesundheit und Weisheit aus, doch sein nervöser Blick zeugte von gedanklicher Wirrniss und psychischer Instabilität. Wir liefen am Tag der Arbeit ebenfalls hinter den ordentlichen Formationen des Gewerkschaftskartells, unter den roten Fahnen unserer lebenslustigen Parteifreunde aus dem bel paese. Die weisse Fahne mit dem knorrigen Männchen seitlich vor uns. Jetzt steht er in Bronze, die Füsse im Dreck, auf dem Zumiker Dorfplatz vor dem Aldi. Niemand kann verlangen, Zusammenhänge herzustellen, solange sie vermeidbar sind.

Alphapferd auf Anacapri

Das Alpha privativum, das griechische Präfix mit seinem lateinischen Grammatikumhang, nihiliert den daran angewachsenen Wortstamm. Weniger radikal als die teilchenphysikalische Paarzerstrahlung, der Annihilation. Die Gegensätze bleiben dominant. Im Deutschen entspricht ihm die Vorsilbe un, in Latein in. Sanskrit und Altgriechisch haben identische Lautbildung, aber verschiedene Buchstaben und Schriften. Das ist nicht nur abnormal, sondern anomal. Darum hat man das indogermanische Zeichen- und Sprachsystem erfinden müssen. Der Gegensatz von zuviel und zuwenig Tagesgästen auf Capri und Anacapri, deren Bürgermeister gleichaltrige Cousins, wird dialektisch durch ein gemeinsames Millionenprojekt durch Ausgleich zu lösen versucht: Eine zweite Seilbahn auf den Monte Solaro. Diefenbach, der Urvater der Alternativbewegung, starb hier an einem Darmverschluss. Maxim Gorki schrieb hier seinen Roman Die Mutter. Die Einsiedelei Santa Maria a Cetrella befindet sich etwas unterhalb des Gipfels des Monte Solaro, genau auf der Klippe über Marina Piccola. Da capo a capri al fine. Alpha intensivem, capresa.

Der erste Band des Grossen vollständigen Universal-Lexikons aller Wissenschaften und Künste – das in Leibniz personifizierte enzyklopädische Wissen war schon einige Jahre zuvor verloren – erschien im gleichen Jahr, als Squirt auf einem schottischen Pferdezuchtbetrieb geboren und für gut befunden wurde. Das damalige Wissen in Europa wird im schliesslich fast fünf Meter ausfüllenden Universallexikon umfassend zur Darstellung gebracht, über zwanzig Jahre entlang in Folio-Bänden an die Subskribenten ausgeliefert. Die vollständige Aufklärung der lesekundigen Wissensdurstigen und Nichtlateiner im Lieferservice. Die Herausgeber hielten ihre Autoren und Scriptoren, denen Plagiat und Geltungssucht vorgehalten wurde, bis zum Schluss geheim und entwickelten neben der alphabetischen Ordnung und der thematischen Klassierung ein Verweissystem wie ein Wiki. Auch hier öfter mal 404 not found. Leibniz‘ Schriften sind noch heute – nach über 40 Bänden – nicht fertig publiziert. In seiner Metaphysik wurzelt die marxistische Dialektik als Theorie des Gesamtzusammenhanges. Zu guter Letzt publizierte das Universal-Lexikon auch Beiträge über lebende Personen und rief ihre Leserschaft zum Einsenden des neusten Wissens ein, bevor das Geschäft nach einem Dutzend Supplementbänden liquidiert wurde. Unter Pferdezucht (im letzten Band X-Z) war fortan zu lesen, dass Squirt mit 54 Stundenkilometern über 6 Kilometer Distanz das schnellste Rennpferd aller Zeiten sei. Squirt, ob der Name eine Anspielung ist auf die Frau von Textilunternehmer und Rennstallbesitzer John Bartlett oder den Zuchthengst Bleeding Children charakterisiert, ist ungeklärt, wurde dank seinem Rekordtempo als Landbeschäler zur Zucht eingesetzt. Unter den Nachkommen, die Squirt auf dem Gestüt von Sir Harpur zeugte, zählt der Hengst Marske, aus dem dann das Ausnahmepferd Eclipse hervorging, am Tag der Sonnenfinsternis. Eclipse war so schnell, dass die anderen Rennpferde nicht mal rangiert wurden, sondern unter ferner liefen deklassiert wurden, so dass niemand mehr auf ein anderes Pferd wetten wollte und das Wettgeschäft nur durch Entzug der Rennzulassung gerettet werden konnte. Sein epochaler Rekord wird mit 71 Stundenkilometern über gut 7 Kilometer und 6 Minuten hinweg verbucht. Diese Geschwindigkeit entspricht etwa dem heutigen Rekord über kürzere Distanzen. Der Rennausschluss befeuerte die Karriere des Eclipse, dem Mass aller englischen Zuchtanstrengungen, als Landbeschäler. Seine Schädelschale und das Gerippe sind im britischen Museum in Newmarket. 

Er war Nachfahre in männlicher Linie der vierten Generation von Darley Arabian, dem Stammvater fast aller englischen Vollblüter. 1702 kauft der Textilhändler Thomas Harley in Aleppo einen Araberhengst und schmuggelte ihn trotz striktem Exportverbot nach Alibi Park. Die wichtigste Transaktion in der Pferdezucht war Darleys Pension. Seine Rettung. Schwarzgeld aus dem Libanon? Mark Pieth beschwichtigt. Die Abstammungslinie eine Pferdes wird jeweils mit drei Hengsten beschrieben: Vater, Vater der Mutter, Vater der Grossmutter mütterlicherseits. Die Stuten dominieren sowohl die Ontogenese der Nachkommen wie auch deren Charakter und Sozialverhalten. Auch der Rang in der Herde wird durch die Mutter vererbt. Weil aber die Stuten selten werfen dominieren die Hengste die Zuchtlinien.

Die Telegonie hat Aristoteles erfunden und überzeugte damit Darwin. Letzterer weiss von einer braunen Araberstute, die einmal mit einem Quaggahengst gedeckt wurde und in Folge nur noch Fohlen mit Zebrastreifung warf. Die Mendelschen Gesetze machten die Telegonie obsolet, doch heue weiss man, dass im Ejakulat seminale Proteine erscheinen können, auf die Eizellen zu reagieren vermögen. Für viele Rassenzüchter gilt, dass eine reinrassige Stute, die einmal ein Fohlen zur Welt bringt, dessen Vater nicht reinrassig ist, nie mehr ein reinrassiges Fohlen gebären kann. Die Römer haben aus einem Eselhengst und einer Pferdestute den mulus (das führt auch zum Mulatten) gekreuzt: Mulis verbinden die besten Eigenschaften von Pferd und Esel miteinander. Sie sind trittsicher und ausdauernd wie ein Esel und kräftig und mutig wie ein Pferd. Dabei sind sie weniger temperaturempfindlich und in gesundheitlich besserer Kondition als Pferde. Mulis sind im Allgemeinen charakterstarke Tiere mit einem sehr guten Gedächtnis und hoher Intelligenz. Gleichzeitig sind sie zäh und mutig und geraten nicht so schnell in Panik wie Pferde. Das Vertrauen des Tieres zu gewinnen ist allerdings noch schwieriger als bei Esel oder Pferd. Eine gute Erziehung mit konsequentem Durchsetzungsvermögen und liebevoller Geduld ist sehr wichtig, damit das Tier den Menschen als Leittier anerkennt. In umgekehrter Kreuzung geht die Sache schief: Der Maulesel ist störrisch, träge, sieht aus wie seine Eselmutter, nur etwas hässlicher. Diese Hybriden können sich nur als Zugtiere nützlich machen. Die Zebroiden – Mutterpferd, Zebravater – haben von der Mutter ihre Pferdeschönheit, dazu vom Vater holographische Zebrastreifen, die ständig ihre Form und Farbe ändern.

Reitpferde im Grab der Kriegerin von Birka, dazu ein Schachspiel. Freydis Eriksdottir! Hunnen, Mongolen, Kriegspferde. Keine Leichenreden, kein Totenjodel, nur Kriegshandwerk als Existenzgrundlage mit Zusatzbeute. Als Dschingis Khan 1227 gestorben war, wurden alle Lebewesen in seiner Umgebung, inklusive die Begräbnisgesellschaft von zweitausend Menschen, getötet. Die Grabstätte ist ein Geheimnis und für immer ungelöst. Das Mongolenreich, einst in kleinstämmiger Anomie, das bei seinem Tod die doppelte Fläche des heutigen China hatte, wuchs zum grössten Weltreich in der Menschheitsgeschichte. Dschingis Khan zeugte mit einer Vielzahl von Frauen zahlreiche Kinder, und mehrere seiner Söhne und Enkel führten das so weiter, so dass heute weit über ein Dutzend Millionen Männer den grossen Kahn zum Stammvater haben. Die Töchter konnten nicht mithalten in der Anzahl. Der Mongolenkaiser beanspruchte in den Vernichtungskriegen gegen Nachbarvölker alle Beute und verteilte sie strikt nach militärischer Leistung (Anzahl getöteter Fremder). Die Armee ist im Dezimalsystem über vier Potenzen und Hierarchiestufen organisiert, der Kern eine riesige persönliche Garde, die meisten Söhne der Offiziere und Stammesführer. Die Mongolen entwickelten aus verschiedenen Materialien den Komposit-Reflexbogen mit gewaltiger Durchschlagskraft und grösserer Reichweite. Im Köcher steckten unterschiedlichste Pfeile, auch solche mit tödlichem Schlangengift, und die feuerten sie mit dem beringten Daumen nach vorne wie nach hinten ab, auf ihren schnellen Kriegspferden. Sie konnten sich auch von Stutenmilch und -käse ernähren; ihr Nomadenleben hat die Laktoseintoleranz überwunden. Sie umzingelten den Feind nie ganz, verfolgten aber den Rückzug so lange, bis der letzte tot war. Sie mixten vor der Schlacht Eiweiss-Powershots, mit Trockenfleischpulver. Und errichteten Gebäude aus den Gebeinen der Feinde. Die Elitekavalleristen tragen mehrere Lagen Seide als Panzerung. Zitathaftigkeit aller Existenz. Delicately dedicated. Eine venezianische Kanonenkugel lässt das Parthenon explodieren, weil darin Munition gebunkert ist. Die Kanonade von Valmy, ein nicht durchgefochtenes Artillerieduell: Hoch die Revolution. Der Industriealisierungsschub im ersten Weltkrieg war das Aus für alle Kriegsreiter und Ritter, nur Ketten und Eisen blieben. Die Atombombe auf Hiroshima war das Ende aller Ritterlichkeit. Der Bundesrat irrt, wenn er das UNO-Atomwaffenverbot nicht ratifizieren will, mit der Argumentation, dass  damit die Bemühungen um schrittweise Begrenzung dieser Wahnsinnswaffen entwertet würden: Das steht in seiner Macht. 

Wunderbar, wie das rätoromanische pacific schmeichelnd um sich greift und sich vermehrt, ohne viral zu gehen.

Dahin gehe ich

Wenn man sich der göttlichen Liebe nicht widersetzt, kann man kein Sünder sein. Ich habe das christliche Sakrament der Taufe empfangen, baptizatus sum, also werde ich im zugehörigen Himmel erwartet. Meine Seele wird Ganzteil der ewigen Glückseligkeit, an der ich jetzt nur Anteil habe, ein Seelementarteilchen. 

Der reformierte Heidelberger Katechismus versteht den alttestamentarischen Sündenfall als Ungehorsam und lehrt, dass der Mensch von Natur geneigt sei, Gott und seine Nächsten zu hassen. Mir geht das nicht so. Kenne auch niemanden dieses Schlages. Hat dieses Menschenbild mit dem Stachel der Theodizee zu tun? Christliche Philosophie versteht den Sündenfalls als Metapher. Gott hat sein Verbot ergänzt mit der Information über den Tod, welcher der Übertretung folge: Er hat dem Menschen die Möglichkeit eröffnet, die ewige Existenz im Paradies einzutauschen gegen Erkenntnis und Sterblichkeit. Tanach-Manga.

Mag sein, dass auch bei uns einige ins eigene Jenseits gehen. Nietzsche erlebte eine kurze Erleuchtung, verschwand dann in der Umnachtung: Wer nichts erwartet, wird vom Nichts erwartet. Himmel und Hölle sind Glaubenswirklichkeiten aller christlichen Konfessionen, weil sie Jesusworte sind und in den Evangelien bezeugt. Biblisch weniger sicher ist das Fegefeuer. Die christliche Eschatologie zählt das jüngste Gericht zu den vier letzten Dingen, so dass die Logik ein Weiteres fordert, die Läuterung im himmlischen Vorraum, wo man Gott spürt, sich aber seiner Liebe unwürdig fühlt. Der lateinische Kirchenschriftsteller Tertullian dachte noch an ein refrigerium interim, einen Erfrischungsraum, wo die Gläubigen auf das Gericht warten. Papst Gregor der Grosse, ein Heiliger, der eigentlich das Recht auf sofortige Vereinigung mit Gott hatte, aber fast siebenhundert Jahre auf seine Heiligsprechung warten musste, konzipierte dann eine individuelle richterliche Vorinstanz und das Läuterungsfeuer, das später kanonisierte Purgatorium. Sixtus VI. autorisierte den kirchlichen Verkauf von Urkunden zur Verkürzung der Feuerqualen oder auch zur vorzeitigen Entlassung aus dem Fegefeuer für Arme Seelen, die schon dort büssten. Die Ablassbriefe waren vorgedruckte Formulare, bei denen nur Name, Zahl der erlassenen Feuertage und der Preis eingefügt werden mussten. Der Handel florierte vor allem im nördlichen Europa, wo dann bald die Reformatoren nicht nur das Bombengeschäft versauten, sondern gleich das Fegefeuer zur Hölle schickten. Geblieben ist vorerst der Limbus als Ort derjenigen, denen die Gottesschau verwehrt ist: Früher bewohnt von ungetauften Kindern, heute von ahnungslosen Agnostikern bevölkert.

In der Wissenschaftstheorie gilt, dass Erkenntnis immer auf Voraussetzungen beruht, die nur im Modus subjektiver Wahrheitsgewissheit zugänglich sind. Dies entspricht der theologischen Erkenntnis, dass Gottes objektive Offenbarung nur durch subjektive Glaubensgewissheit zugänglich ist. Glaube ist unbedingtes Vertrauen, auch in das Gegenüber. Eine suchende Bewegung von sich weg. 

Der Satz zeigt die logische Form der Wirklichkeit. Er weist sie auf. Tautologische oder kontradiktorische Sätze sind sinnlos. Echte Wittgenstein-Anhänger lehren, dass die Unterscheidung von sinnvoll und sinnlos selbst unsinnig ist. Folgt: Er muoz gelîchesame die leiter abewerfen, sô er an ir ufgestigen. Kontradiktorische Widersprüche zeigen zwar die altlogischen Grenzen unserer vernünftigen Erkenntnis, müssen aber nicht in ein wissenschaftliches Schweigen münden, wie das auch einige Theologen bejahen, sondern können als Offenbarung des heiligen Geistes verstanden werden: Wie die Weisheit Gottes die Torheit des Kreuzes einschliesst. Da kriege ich Kopfweh.

Christliche Theologie bezieht sich auf ein kontingentes geschichtliches Ereignis, das nicht aus einer Idee abgeleitet werden kann. Das ist Dogma. Materialistisches Fundament des ausschweifenden Geistes. Christliche Konfession beinhaltet die Verkündigung durch alle, was zur Staatsförmigkeit der Kirche und zur Kolonialmission führt. Christliches Ausrichten auf Gott geschieht exemplarisch im Gottesdienst und Lesen der Bibel. Für den Glauben als Lebensgestalt ist das Gebet charakteristisch, liturgisch in der Gemeinschaft oder persönlich als Klage, Bitte, Fürbitte, des Dankes und Lobes. Wir können Gott durch Meditation nur begegnen, wenn die Meditation von Gottes Wirklichkeit in Dienst genommen wird. Zu den Elementen, in denen die Lebensbewegung des Glaubens zum Ausdruck kommt, gehört ferner die gedankliche Durchdringung des christlichen Glaubens. Zustimmung zum letzten Satz, kopfliche Entspannung.

Glaube funktioniert, und zwar als paradoxer selbstreflexiver Zirkelschluss: Kein Seelenvermögen wie Gefühl, Wille oder Vernunft kann der anthropologische Ort des Glaubens sein; das kann nur deren Dreiheit und gegenseitige Durchdringung und zirkuläre Einheit sein. Die Seele in ihrem Gesamtvermögen, dem Lebensprinzip, der prinzipiellen Unsterblichkeit. Der Mensch ist selbsterkennendes Ebenbild Gottes, dank dem sinnlichen Genuss dessen Frucht vom Baum der Erkenntnis. 

Christliches Dogma umfasst die jüdische Erbsünde und macht daraus die Epochengeschichte vor Christus, die gefallene Welt vor unserer Zeitrechnung. Der Messias des alten Testamentes ist der Erlöser der Welt und bescherte uns die andauende Epoche der Versöhnung sowie eine Neuzählung der Jahre. Jesus ist die Selbstoffenbarung und Selbsterschliessung Gottes. Er ist eine historische Person und sowohl ganz Mensch wie ganz Gott. Den Beweis lieferte die Auferstehung und die Himmelfahrt, nur wenigen Augenzeugen erschlossen. Solus Christus wird dann zur sola scriptura, der Kanon der Schriftzeugen. Die Bibelexegese wird verfeinert zum vierfachen Textsinn: Der historisch-kritische Literalsinn, darunter die Allegorie (was glauben?), die Moral (was tun?) und die eschatologische Anagogie (worauf hoffen?). Die Historia ist auch dem Laien zugänglich, der Gebildete entschleiert die Allegorie, der Erhabene erkennt die Moral und der Weise erfasst den letzten Sinn. Johannes lehrt: Jesus wird das Buch mit den sieben Siegeln öffnen: Die Apokalypse:::

Unsere kontextuelle Lebenswelt wird ausdifferenziert und komplex. Das dadurch geweckte Bedürfnis nach Vereinfachung und Rückbindung (religio) führt zu religiöser Individualisierung und nichtkirchlicher Gemeinschaftlichkeit. Der Gekreuzigte passt nicht mehr zur Gotteserfahrung oder steht ihr gar im Weg. Wenn Glaube keine Illusion sein soll, muss die Gott- und Welterkenntnis als Konstituierung einer neuen Wirklichkeit gedacht werden. Erkenntnis bedeutet immer auch erkennen des Möglichen, schafft also produktiv neue Möglichkeiten. Natürlich geht diese christliche Modallogik auf Aristoteles zurück. Jesus ist als inkarnierter Logos mit Gott wesenseins. Jesus war Wanderprediger und Wundertäter, der das nahende Gottesreich verkündete. Jesus hat seinen Tod nicht gewollt, aber als notwendig und notwendend hingenommen. Er hat seine Auferstehung nie vorhergesagt. Der Sühnetod des Schuldlosen versöhnt Gott und die Menschen, verkünden die Evangelisten. Als Gottes Sohn wurde Jesus erst nach dem Osterwunder benannt. Maria ist Jesu leibliche Mutte; die Jungfrauengeburt, die ewige Jungfrauschaft und die Himmelfahrt Mariae kommen erst später dazu, trotz leiblichen Geschwistern. Der Einbezug der heiligen Jungfrau Maria in die Gotteslehre banalisiert die dynamische Trinität zur Quaternität, lebloses Ausgewogenheitsgegender. Die Inkarnation steht felsenfest, die Auferstehung aber wird im Korinther als somatopneumatisch beschrieben, als geisthafte Leiblichkeit. Bibel-Manga.

Aus der daseinskonstituierenden Beziehung Gottes zu allem welthaft Seienden folgt in der christlichen Theologie das Personhafte Gottes, der selbst aus drei Personen besteht. Die Dreihaftigkeit der Trias in der speziellen Metaphysik – Gott, Welt, Mensch – wird christlich überboten durch die göttliche Trinität. Und Gott ist Liebe. Diese Erkenntnis erschliesst sich Christen aus der Person und dem Werk von Jesus. Liebe ist frei und lässt frei. Sie kann nur von innen erkannt werden, aus ihrem geschehen. Im neuen Testament ist Liebe immer Agape, nie Eros. Ein leidenschaftliches Brennen schon, da berühren sich Himmel und Erde. Die Liebevolle Zeugung und Empfängnis eines Kindes wurde immer schon als nächstliegende Analogie zum Schöpferwirken Gottes empfunden und bezeichnet. In den synoptischen Evangelien findet sich keine Liebe Gottes als genitivus subjektivus; Der liebe Gott ist eine niedliche und harmlose Beschwörungsformel von Theophilos Amadeus Gottlieb. Der personhafte Gott ist der Grund alles Personhaften und trägt in sich die ontologische Macht des Personhaften. Das Reden von Gott ist eine transzendentale und potenzierte Metapher. Ein weiblicher Gott als Ursprung des Lebens wäre zu menschenhaft. Die christliche Metapher Gott Vater wirkt der Gleichsetzungs- und Verwechslungsgefahr entgegen, schafft Distanz. 

Gott handelt nicht, er wirkt. Die relationsontologische Theologie spiegelt sich in der theoretischen Physik: Relationen und Ereignisse statt Substanzen. Gebete in Form von Jammer, Klage und selbst Anklage sind weiterhin erlaubt. Es gibt nur gute Engel als Boten Gottes, Dämonen und Teufel sind nicht von Gott gewollt, sondern nur zugelassene Wirkweisen des Bösen. (Kopfbrummen) Die christlichen Attribute Gottes unterteilen sich in formale Kategorien wie Allmacht, Allwissenheit, Allgegenwart und in personale Qualitäten wie Güte, Weisheit, Liebe. Geschaffen sein heisst Bejaht- und Gewolltsein. Schon Boethius und Augustinus haben Zeit als gewährte Möglichkeit und Dauer erfahren. In der Liebe ist Transzendenz und Anteilhabe an der Ewigkeit erlebbar. Giordano Bruno wurde als Pantheist verbrannt, in der protestantischen Dogmatik wird anerkannt, dass der Geist Gottes in Allem wahrgenommen werden könne. Zwyngli liess Manz ersäufen, weil er dem katholischen Priester und Glaubenstäufer Grebel nicht abschwören wollte. Gott ist heilig, im hymnischen Trishagion gefeiert: Orthodoxie. Das Theodizee-Problem ist christlich gelöst durch die Charakterisierung von Gottes Wirklichkeit als Ereignis, als Beziehung, und als Verborgenes. Verborgen unter dem Gegenteil: Kreuz und Tod. (Wieder Kopfweh!) Das Problem hatte der vorchristliche Epikur formuliert und damit den Widerspruch zwischen der Allmacht, der Allwissenheit und Güte Gottes nach klassischer Logik kritisiert. Leibniz hat das Problem dank Modallogik gelöst: Wir leben in der besten aller möglichen Welten. Die Unschuld Gottes am Bösen wegen seiner Nichtexistenz kann man als Atheismus ad maiorem Dei gloriam verstehen und reiht sich in an die dogmatischen Paradoxa. 

Aus der Kontingenz des Welthaften folgert das notwendige Sein Gottes, so Leibniz. Religion ist Kontingenzbewältigung, folgert daraus Lübbe, Theologie ein philosophisches Fach. Die jüdische Genesis setz sich gegen die griechische Kosmologie durch, der Schöpfung aus dem nichts steht nun die annihilatio gegenüber, die Auflösung in nichts. Aber auch wenn dereinst wieder nichts ist, die Wirklichkeit Gottes bleibt. Daraus folgt die Apokatastasis panton, die Allerlösung, das Versprechen der Teilhabe aller Menschen am ewigen Leben. Ganztod ist ohne Auferstehung undenkbar. Die auferstandenen Leiber sind ohne Organe, präzisiert Paulus. Glaube ist Einübung des sterbens, sterben ist Ratifizierung des Glaubens, so Karl Barth. Kant glaubte an Gott als höchsten Urheber, lehnte aber Gottesbeweise prinzipiell ab, das sei eine arrogante Anmassung. Geist ist sowohl Information als auch Energie. Der heilige Geist ist sowohl Gabe wie Geber. Die Wirklichkeit ist Gottes Dienstbotschaft.

Können Hunde Schlüsse ziehen?

Der Sohn der Maria Stuart, James I, war ziemlich selbstbewusst. Mit grosser Selbstverständlichkeit hat er seine Königreiche politisch erfolgreich zu Grossbritannien proklamiert und den Union Jack als Logo erfunden (schottisches Andreaskreuz und englisches Georgskreuz überlagert). Den Trennstrich des amerikanischen Bürgerkrieges hat er vorgezeichnet, indem er auf dem neuen Kontinent zwei konkurrierende Aktiengesellschaften mandatierte. Die Bibel liess er auf englisch übersetzen. Das Parlament löste er auf, als die Abgeordneten ihm in seine Pläne für die Verheiratung seines Sohnes reinreden wollten. Dieser James liess es sich nicht entgehen, als an der Universität von Camebridge eine Gelehrtendebatte über die Frage, ob Hunde Schlüsse ziehen können, abgehalten wurde, diesem philosophischem Sportskampf beizuwohnen. Der Streit hatte sich einmal mehr an Aristoteles entzündet, der die Intelligenz der Hunde analysiert hatte. Ausgegangen waren die antiken Denkprofis von der Beobachtung, dass ein Hund auf einer Witterungsfährte bei einer dreigabligen Wegscheidung nach zwei erfolglosen Schnüffelversuchen den dritten Weg losstürmt, ohne sich mit der Nase vergewissert zu haben, dass hier die zielführende Riechspur aufgenommen werden kann.

Wieviel Vernunft soll man dem Hund zubilligen? Die Scholastiker hatten einen fünfstufigen Syllogismus im Hund entdeckt, eine gehörige Portion logischer Vernunft. Sie seien Verächter der echten Wahrheitsliebe, wenn sie nicht einsehen könnten, dass der Hund ohne Vermittlung einer rationalen Logik zum richtigen Ergebnis kommen könne, hielten dem die konservativen Antidialektiker entgegen. Die göttliche Wahrheit sei, das der Hund unmittelbar so handle.

James soll sich blendend unterhalten gefühlt haben. Er schlug sich auf die Hundeseite: Instinktive Intelligenz.

Bewiesen ist heute, dass Hunde ihre Intelligenz dem Menschen zuliebe ausschalten können. Ihnen ist wichtiger, dem Menschen zu gefallen und dessen nicht nachvollziehbare Erwartung zu erfüllen, als ihre logischen Fähigkeiten und objektiven Kenntnisse zu berücksichtigen. Hunde suchen beim Menschen soziale Wertschätzung. Sie geben auf Kommando die Pfote, aber wenn nur der Hundenachbar belohnt wird, wird gestreikt. Ein Stück Brot oder eine Karotte ist auch okay, selbst wenn der andere Wurst kriegt. Missachtung aber geht nicht. Das ist ungerecht!

Umgekehrt scheint das Gerechtigkeitsempfinden weniger ausgeprägt: Wer Wurst deponiert und seinem Hund einschärft, diese nicht anzurühren, dem gehorcht er so lange, wie er beobachtet wird. Verlässt der Hundeführer kurz den Raum, ist die Wurst weg, wenn er zurückkehrt. Die soziale Intelligenz des Hundes kennt kein Schuldbewusstsein. Allerdings akzeptiert die Wissenschaft ein negatives Ergebnis nich als positiven Beleg für die Nicht-Existenz. Affirmative Aussagen können generell nicht verifiziert, nur allenfalls falsifiziert werden. Hunde sind sich der Grenzüberschreitung sehr wohl bewusst und sie können auch schuldbewusstes Verhalten zeigen, aber beim fressen ist das eben Wurst.

Wölfe können am Bildschirm Flächen mit mehr oder weniger Punkten unterscheiden, Hunde nicht. Der Mensch kann bis etwa sieben Objekte deren Menge erfassen, ohne zählen, auf einen Blick. Hunde denken und leben in Hierarchien. Wölfe fressen gemeinsam, Hunde warten, bis das Leittier sattgefressen ist. Es liegt nahe, den Ursprung des im Vergleich zu Wölfen höheren Respektes der Hunde vor der Dominanz des Ranghöheren im Zusammenleben mit dem Menschen zu vermuten. Hierarchie-Junkies nennt sie der Wiener Hundepapst Kotrschal. Leben mehrere Hunde in einem Haushalt, ist der älteste der Chef, lernt am besten, folgt am liebsten und ist am aggressivsten. Die anderen Hunde sind in einem Beziehungsdilemma zwischen Herr und Chefhund. Wenn der Wolf begriffen hat, dass nach dem Trockenfutter Frischfleisch folgt, rührt er die Guetzli nicht an, wenn der Hauptgang spätestens nach einer Minute gereicht wird. 

Niculina, am See der Seelen: Hör zu, Ladina, ich werde nicht wieder heimkommen. Die Nona ist lächelnd ins Wasser des Lebens gestiegen. Und mir gefällt es in der Innerwelt. Ich bin ein Wolf.

Die ersten Hunde tauchten vor etwa 35’000 Jahren gleichzeitig mit Camps von Mammutjägern auf. Menschen und Wölfe ernährten sich fast ausschliesslich von Mammutfleisch, Hunde jedoch nicht. Wolf und Mensch in Jagdgemeinschaft und gesellschaftlicher Verwandtschaft, beide im Familienrudel. Der Wolf akzeptiert den Menschen als seinesgleichen nur, wenn das junge Welpen, die Augen noch zu, an der Brust genährt wird wie Menschenbabys. Unklar ist, ob der Mensch bereits in Afrika oder erst im Nahen Osten Wolfskontakt aufnahm. Klar ist, dass die Vorläufer der allgegenwärtigen Dorfhunde in Ostasien lebten, mit den ersten sesshaften Menschen, die sich um Heiligtümer herum niedergelassen hatten. Acker- und Gartenbau betrieben wurde, um alkoholische Getränke herzustellen, die ideale Begleitung zu Fleisch. Vor etwa 150 Jahren begann in England die Hundezüchterei so richtig, James hätte seine Freude. Gelegentlich besteigt ein Hunderüden ein Wolfsweibchen, seltener sind Hybriden mit Wolfsvater. Das schwarze Fell der Timberwölfe geht auf ein Hundegen zurück. High-End-Hybriden kommen gerade in Mode. Die Gehirne von Hunden sind, wie bei allen domestizierten Tieren, kleiner als die der Wildform. Mit der Sesshaftigkeit hat sich der Mensch selbst domestiziert; auch sein Hirn schwindet seither. Die Menschenhaut wird wegen diesem Haustiergen irgendwann gepunktet. 

Am Parthenonfries, vor gut zweihundert Jahren vom britischen Botschafter von Athen nach London verfrachtet, sieht man Molosserhunde, wie sie Perser zerfleischen. Der deutsche Schäferhund ist genetisch ein Molosser. Rüden, die mit Menschenfrauen leben, sind gegenüber fremden Menschen abweisend, sie wollen ihr Menschenweibchen ganz für sich. Rüden bei Männern überlassen das Regeln der Aussenbeziehungen ihrem Herr. LGBT*-Hunde sind aber vorauszusehen. Durch die Domestikation hat der Hund die Dominanz des Menschen verinnerlicht, kann auch in Gewaltherrschaft leben und funktionieren. Er geht freiwillig auf den Abrichteplatz wie ein dummes Kalb zum Metzger. Werwolf-Mythen machten den deutschen Schäferhund zum Nazi. Moderne Hundepädagogik frönt einem kooperativen Führungsstil mit positiver Motivierung. Die Führung wird zu emotionaler Unterstützung. Das braucht der Hund, der ist ein Leben lang kindisch. Wenn der Auserwählte nicht mitkommen will, nimmt man einfach ein Williges aus dem Rudel, was der nun Aussengelassene einfach nicht ertragen kann. Ausser er ist etwa einjährig, also pubertär verstockt. Prinzipiell sollten Situationen immer positiv für beide Seiten abgeschlossen werden, auch um eine Kultur des gemeinsamen Scheiterns einzuführen: paradoxe Pädagogik. In Wirklichkeit ist die Wirklichkeit nicht wirklich wirklich, wir bauen uns unseren Hund. Was unsere Sinne wahr nehmen, ist Reduktion, aufgefrischt mit mentalen Repräsentationen und emotional eingebettet. Immerhin werden unsere mentalen Repräsentationen vom Hund als Kategorie und von Millie als Individuum im Zusammensein etwa fünfmal pro Sekunde nachjustiert (im Stirnhirn, ist gut messbar). Glücks- und Stress-Hormonausschüttungsmechanismen sind bei Hund und Mensch identisch und können symmetrisch ablaufen, eine Liebesbeziehung. Plato sprach Diogenes Verstand ab, weil er im Tisch seine Tischheit nicht erkennen könne; Diogenes warf dem Akademiker vor, den Menschen als gerupftes Huhn zu sehen. Die Diogenes-Statue in seiner Heimatstadt, dem türkischen Sinope, zeigt den Aktionsphilosophen in Begleitung eines Dorfhundes. Diogenes lernte im Gymnasion von Antisthenes, ein Sokratesschüler, im ehemaligen Heiligtum des Herakles Kynosarges, seit je her Brutstatt des Kynismus. Am Lykeum des Aristoteles wurde das Denken des besitzlosen, ortsungebundenen Veganers, des Priesters der Unabhängigkeit, der sich in Syllogismen über die Schlussfolgerungslehre der Logik lustig machte und seine Positionen mit eleganten Zirkelschlüssen unter die Sonne stellte, weniger als Philosophie, mehr als Lebensstil verstanden. Erst Foucault und Sloterdijk setzten sich für eine Rehabilitation ein, der Linksnietzscheaner Michel Onfray für die Nobilitation: Ich, der Dorfhund.

Dekalog der Hundertwortziffern

Eins Die Einheit. Das Einssein. Der Erste. Die Einzige. Das Absolute, Allumfassende, Vollkommene. Gott. Bin das Subjekt. Du bist die Basiseinheit der metrologischen Zählweise. Der Normalzustand. Einer von irgendwelchen. Einheit des Geistes, des Fleisches. Meist der Zeigefinger. Das Zusammenfallen der Gegensätze: Daumen hoch. Eine der wichtigsten Konstanten der Analysis. Sie trägt den Wahrheitswert in sich. Wenn man das Unteilbare in sieben Zahlenteile trennt, zeigt sich der unendliche Zahlenzyklus 142857. Die monophile Monade widerlegt die Behauptung, 0.999… sei gleich 1. Bierdeckelnotation und Strichlisten sind Unärsysteme.

Zwei Das andere folgt aus dem einen. Aus dem gleichen Wortstamm sprossen Zweifel, Zwirn und Zwist. Die kleinste Vielheit: Das Paar, Yin Yang, Polarität, Spaltung. Mindestzahl von Zeugen vor Gericht. Das Dualsystem on/off, Binärcode, QR. Im Binärsystem schreibt man die 2 als 0010. Gerade Zahlen und Dinge können gut halbiert werden. Zu deutsch ist die Schere oder die Brille ein Gegenstand, französisch und englisch bestehen diese aus zwei gleichen Teilen, also Plural. Der Numerus Dual stirbt aus. Bilateria sind spiegelsymmetrisch und die meisten pflanzen sich zweigeschlechtlich fort. Die Verwechselbarkeit von Zwillingen ist wenig inspirierend. Das mikrokosmologische Schalenmodell der Atomphysiker (Aristoteles: Analogie-Fehlschluss) nennt die Zwei magisch (bisher gibt es sieben magische Zahlen), da sie als harmonisches Mass des Verhältnisses von Protonen und Neutronen im Kern eine höhere Anregungsenergie aufzuweisen befähigt ist. Die Ordnungszahl zwei ist die atomare Stabilität. Bivalenz-Axiom in formaler Logik. In der Fibonacci-Reihe folgt die 2 an dritter Stelle. Eins drei hopp zwei. Wo zwei ist, drängelt die Drei. Zweiseitig symmetrische Tiere entwickeln im Embryoblast drei Keimblätter.

Drei Die heilige Trinität. Drei römische Einser. Eine Arabische Elster. Der dreiteilige Retroreflektor wirft alle von einer Seite einfallenden elektromagnetischen Strahlen, zweimal genbrochen, an ihre Quelle zurück. Dort wird es genau soviel wärmer, wie die nachfolgende Strahlung schwächer, wodurch sich die Stabilität des Einen perpetuiert zum dialogischen Prinzip Katzenauge, dem Gegenstück zum Hohlspiegelteleskop. Drei Impulse in Regelmässigen Abständen machen den dritten vorhersehbar. Dreigliedrige Spruchkörper sind mehrheitsfähig. Wer dreimal unhöflich ist, wird negiert. Der Mensch hat drei Sorten Zapfen und sieht drei Grundfarben. Die Dimensionen des Raumes, x y z. Auf der 200 Franken Note ist die Dreifingerregel abgebildet: Der rechte Daumen zeigt in die Flussrichtung des Stromes, der Zeigefinder zeigt auf den magnetischen Anziehungspunkt, der Mittelfinger geht quer zur Winkelfläche und zeigt die Lorentzkraft, nicht den Rütlischwur. Was folgt: Die spezielle Relativitättheorie und die heutige Teilchen-Metaphysik. Ein Dreibein wackelt nicht. Aufgrund der Schwerkraft kann das Dreikörperproblem nur mathematisch gelöst werden. Wenn sie dann mal stillstehen würden. Zur Dreiheit oder Dreieinigkeit schau auch त्रिमूर्ति, die Dreifaltigkeit zählt zum Polytheismus. 

Vier Elektrisches Quadrupol: zwei positiv und zwei negativ geladene Teilchen gruppieren sich im Quadrat mit sternsymmetrischer Spannung. Quadratur des Kreises. Raum und Zeit zusammen: Hier und Jetzt als Jubelworte. Spiefarben. Die Katholiken schlagen die vier Punkte des Kreuzes mit zwei Fingern, die Orthodoxen mit drei. Nochmals die Zweierkiste, dreifach als Summe, Produkt und Potenz. Der spätplatonische vierfache Schriftsinn der Bibel: wörtlich, allegorisch, moralisch, anagogisch (Aristoteles christianisiert). Pythagoräische Sedimente der Tetraktys, die antike Ordnung schlechthin. Der Vierflächner aus Dreiecken. Die DNS des Genoms wurde in Dreiersequenzen von vier Nukleinbasen codiert. Kohlenstoffatome in Diamenten bilden Tetraederwinkel. Vier Kardinaltugenden und die vier letzten Dinge.

Fünf Die big five: Das Standardmodell der Persönlichkeitspsychologie geht von fünf weitgehend kulturunabhängigen Merkmalen aus, welche in ihrer individuellen Ausprägung die Person erfassen und ausmachen. Die Theorie wurde auf Grund der Sedimentationshypothese erarbeitet: Alle möglichen Persönlichkeitseigenschaften finden sich in der Umgangssprache, weil sie benannt werden wollen. Das Modell beruht auf achtzehntausend Lexemen aus dem Amerika der dreissiger Jahre. Mittels Faktorenanalyse wurden die fünf unabhängigen Dimensionen errechnet. Die Faktorenanalyse wurde eine Generation früher von einem britischen Psychologen entwickelt durch Testanalysen des Persönlichkeitsmerkmals Intelligenz. Dieses Merkmal ist in der modernen Persönlichkeitspsychologie irrelevant. Ocean wird gemessen: Openness, Conscietiousness, Extraversion, Agreeableness, Neuroticism. Geeicht auf den Durchschnitt, das Menschennormal. Im Durchschnitt aller Dimensionen sind sie zur Hälfte ererbt. Tausende Arten von Stachelhäutern verbindet ihre fünfstrahlige Radiärsymmetrie, der Mensch ist nur Pentadaktylist. Der Drudenstern besteht aus fünf Alpha. Alle Längen im Pentagramm folgen sich im Goldenen Schnitt, folgt man Pythagoras. Symbol der fünf Wunden Christi. Abwehrzeichen gegen Dämonen. Okkultisten, Satanisten, Dark und Death Metal verwenden das Symbol invers, die Sternspitze kopfüber: Welcome to the hell (Venom). Die Chinesen wissen fünf Himmelsrichtungen: N, S, O, W und oben. Plato bewies die Symmetrieidentität der fünf Körper Tetra-, Hexa, Okta-, Dodeka- und Ikosaeder. Aristoteles erfand die Quintessenz. Der Islam zählt fünf Grundregeln. Die fünf ist Venus zugeordnet; einige verehren sie als zusammengesetzte Primärzahl aus der weiblichen zwei und der männlichen drei */Aufschrei. Wenn fünf heilig ist, wird 23 mit der Quersumme fünf zum Cosmic Code. Nur Fünf, Genf, Senf und Hanf enden auf nf.

Sechs Es gibt keine drei anderen Zahlen, deren Produkt mit ihrer Summe identisch ist: Eine vollkommene Zahl nennen sie die Mathematiker. Sie ist die Wurzel der Summe ihrer in die dritte Potenz gesetzten Teiler. Wenn man sechs Kugeln um eine siebte legt, so berühren sich alle: Die Kusszahl. Die Biene steht mit sechs Beinen auf der hexagonalen Wabe und staunt über die sechsstrahligen Schneeflocken. Das Hexagramm ist der Davidstern, der Judenstern, der Tantrastern, der Bierbrauerstern. Zählt man die Buchstabenwerte des Wortes Allah zusammen, summiert man 66. Die Liebenden sieht man auf der sechsten Tarotkarte. Augustinus sprach der Zahl Vollkommenheit zu, weil der HErr die Welt in sechs Tagen erschuf. Am letzten Arbeitstag schuf er den Menschen und weil es der sechste war, schuf er Mann und Frau. Seither wird der Sündenfall sexualisiert, obwohl es den beiden um die Teilhabe an der göttlichen Weisheit ging. In der nichtapostolischen Johannes-Offenbarung kommt dann die Sache mit 666 und dem Antichrist. Im Mittelalter brachten die Franziskaner die Zahl mit dem Papst selbst in Verbindung, heute sind es die ersten drei Ziffern auf implantierten Chips, um die Träger als menschliche Wesen zu kennzeichnen. Crowley, dem mit dem Haus in Cèfalu, wurde offenbart, dass er selbst das Grosse Tier sei. In China bedeutet das Telefon-Handzeichen die Zahl sechs. In Hawai bedeutet es cool, gute Welle. Die Schwermetallfans strecken den kleinen und den Zeigefinger zum Gehörntengruss. Das texten von 6-Wort-Geschichten wirkt metamethodisch (Hemingway).

Sieben Das Grosse Tier ist siebenköpfig. Die sieben Dimensionen des Einheitensystems: Zeit, Länge, Masse, Stromstärke, Temperatur, Molekülgehalt oder Stoffmenge, Candela als Lichtstärke. Die Offenbarung das Buch mit den sieben Siegeln. – – . . . ist das Morsezeichen der Zahl. Die angelsächsiche Schriftzahl ohne Querstrich kann irrtümlich als eins gelesen werden. Mit zwei Würfeln erzielt man am häufigsten die durchschnittliche Wurfzahl sieben. Wir können uns sieben Dinge merken. Der lunare Zyklus beträgt vier Siebentagewochen, die Summe aller Zahlen bis und mit sieben ergibt einen vollen ovalen Zyklus. In einer Bibliothek erscheint die Sieben deutlich häufiger in Buchtiteln als die benachbarten Zahlen. Die Zahl der Weisen und Weltwunder blieb konstant bei sieben. Rom hat sieben Hügel und Winterthur weniger Hügel aber so viele Stadtkreise. Die Menora leuchtet mit sieben Armen. Der heilige Gregor hat den Katholizismus ganz um die sieben gewickelt: #Tugenden #Laster #Sakramente #Gaben des heiligen Geistes (#freie Künste) #Werke der Barmherzigkeit über Mariens Schmerzen und Freuden bis zur Harmonie der Heptatonik. Voilà. Im siebten Himmel wohnt der Gott der Juden, Christen und Muslime (mit den jeweils Auserwählten). Der Mensch kann sich schon auf Erden so himmlisch fühlen, man sagt auf cloud nine. Bei Aristoteles beherrscht Saturn die siebte Himmelsschale: Hüter der materiellen Schwelle zum Idealen: Träume und Phantasie, Wünsche und Wunder. 

Acht Ach am Schluss ein t

Neun Heilige Zahl der Bahai als Ausdruck der Einheit Gottes, der Religionen und der Menschheit. Bildet man die Quersummen von Operanden und Ergebnis in korrekten Additionen, Subtraktionen oder Multiplikationen, so stimmt auch die verkürzte Rechnung. Findet man eine Differenz von 9, so suche man die Stellenwertverwechslung in der Buchhaltung. Der Neuntöter spiesst seine Beutetiere zur Vorratshaltung auf Stacheln und Dornen, ein komischer Vogel. 

Null Stellenwertzeichen des Dezimalsystems. Die tamilische Schrift schreibt die Null als Leerstelle, die Araber als Punkt. Die Chinesen haben für jede 10er-Potenz bis 10’000 ein eigenes Zeichen, dann wieder für 10 hoch 8 und so weiter bis 10 hoch 44 (100 Septillionen). Grösser wird die Sache, wenn man durch null dividiert (Urknall). 

Daimon Philomania & Furor Amantis

Darin liegt die Würde des Menschen, dass er frei sei in seiner Gesinnung. Dazu hat ihm Gott das Gewissen gegeben. Mit solchen Sätzen provoziert Pierre Abaelard die Kirchenoberen, die das ihrige und alleinige Vorrecht, zu entscheiden, was gut, was böse ist, bedroht sahen. Abaelard lebt um das Jahr tausendundeinhundert als theologischer Reformator und dialektischer Kreuzritter. Als Student und Rittersöhnchen legte er sich mit dem Philosophie-Lehrstuhl in Paris an, auf dem der Bischof sass. Er lieferte ihm Rededuelle im Hörsaal, die den kirchlichen Philosophenkönig bis auf die Unterwäsche ausgezogen und blossgestellt haben, so dass die Mehrheit der Kommilitonen gleich an seine improvisierte Freiluft-Schule ausserhalb Paris wechselte, als Abealard Rede- und Lehrverbot in der Hauptstadt erhielt. Aber er darf bald wieder zurück, er hat unterdessen auch Anhänger am Hof. Nun sucht ein Kanoniker namens Fulbert den besten Hauslehrer für sein Ein und Alles, die junge Heloise, seine wunderschöne Nichte aus bestem Landadel und blitzgescheit. Später sitzt unter den Studenten auch sein Sohn, den er seit der Geburt nicht mehr gesehen hat, beide sich aber gegenseitig erkennen, ohne in Gesprächen je persönlich zu werden.

Abaelard und Heloise verlieren sich im Paradox dialektischer Vorstellungskraft und elektrischer Fliesskraft; ihre Liebe steht sofort unter verschränktem Absolutheitsanspruch und der Unmöglichkeit dieser Wirklichkeit. Glück. Das ist es. Philosophie und Theologie: Nichts als dämonische Hoffahrt und vergebliche Mühe zu wissen, was man nur dann weiss, wenn man’s mit den Sinnen begreift und liebt. Das ist’s: Lieben! 

In seinem eigenen platonisch-aristokratischen Liebeswahn bemerkt Fulbert die reale Intimität der aristotelischen Lehrbeziehung erst kurz vor der Niederkunft der Leibesfrucht. Pierre lässt sie in seiner Herkunftshofburg in Sicherheit bringen und sucht eine Einigung mit dem Bezahlonkel, indem er die Legalisierung der heimlichen Schwängerung durch nachträgliche Heirat anbietet. Sie aber wollte ihm ganz Weib sein, lieber als seine Hure denn als Ehegattin, weil das seiner beruflichen Lehrtätigkeit und Karriere hinderlich wäre. Abaelard vereinbart mit Fulbert, dass die Heirat geheim bleiben würde. Eloise gehorcht und heiratet in Paris, ihr Sohn, benannter Astralabius (Sternengreifer) wächst bei der Tante auf. Er weiss nichts über seine Abstammung, bis er seinen Philosophielehrer als Vater erkennt. Eloise gehorcht ihrem Liebsten wieder, den sie mehr fürchtet zu verlieren als Gott: Und geht ins Kloster. Fulbert wird vom Fuchsteufel befallen und bezahlt Knechte, die Abaelard festbinden und entmannen. Und ja, die Geschlechtsteile werden nicht wie in antiken Religionen in die Gemeinde geworfen, sondern gleich dem kläffenden Hund verfüttert. 

Wir assen beide vom Baum der Erkenntnis, und unsere Erkenntnis ist dialektisch, schreibt Abaelards Sohn später seiner Mutter, so erzählt Luise Rinser. Aber diese war jung in Adolf Hitler verknallt, hatte mit Schnell ein eheliches Kind, dazu ein uneheliches, heiratete dann einen schwulen Kommunisten, dann einen Komponisten, verfolgte das zweite vatikanische Konzil aus ihrem Römer Domizil, wurde Linkskatholikin und schrieb diesen Satz im Alter von neunundsiebzig Jahren. RIP

Jeder Lehrsatz kann durch präzise Begrenzung seines Geltungsbereiches wahr bleiben. Ob ein Begriff an bestimmter Stelle ein- oder mehrdeutig aufgefasst werden muss, bleibt unentschieden. Auch Sätze in Form von Tatsachenbehauptungen sind auf andere Bedeutungsebenen zu befragen und um eine dialogische Dimension zu erweitern. Abaelard war der schärfste scholastische Methodiker; er geht ins Kloster, lehrt weiter, deckt den Fehlglauben an den Klostergründer Dionysius Areopagita mittels philologischer Textanalyse auf: Das Kloster wurde ein paar Jahrhunderte später durch jemand anderes gegründet, nicht durch den Schüler des Apostels Paulus. Das Kloster lebt vom falschen Glauben der Pilger, Abaelard fliegt raus und unterrichtet wieder in einer Freiluftschule bei seiner Einsiedelei, er ist jetzt der Peripathetiker des Paraklet (Aristoteles vom heiligen Geist). Dann lässt er sich irgendwo zum Abt wählen (er ist der erste vernunftgetriebene Klostermanager und wird dementsprechend von seinen Mönchen beargwöhnt), übergibt die Schule an Heloise, die daraus ihr eigenes Kloster macht. Dort ist er Berater und sie küssen sich heimlich. Liebte er Ideen oder Wirklichkeiten? Oder sind das wirkliche Ideen? Abaelard landet schliesslich in einem klösterlichen Irrenhaus, zieht sich in 1 Turmzimmer zurück und schreibt nurmehr in Geheimsprache und -schrift. Orthodoxe Juden kastrieren auch keine Tiere. Die Figur: Ich rede als meine Wahrnehmung.

Die Nazis haben mit Röntgenkastration an ihrem Menschenvieh herumexperimentiert. W.C. Röntgen verzichtete auf Patentierung, weil er die möglichst rasche medizinische Anwendung, die Durchleuchtung der Lunge, nicht behindern wollte. Chiel, ein jüdischer Pragmatiker aus Galizien sollte später das Röntgengut kaufen, das nachher in Loorengut umgetauft wurde, dem Flurnamen gemäss und fünf Hektaren gross und nur im leicht abfallenden Süden ohne angrenzenden Wald. Mit vierundzwanzig gebar ihm seine spätere Frau Frieda ein Töchterchen. Vor den Kindern brüstet er sich damit, alleine auf die Hochzeitsreise nach Venedig gefahren zu sein, ohne sie. Josef Moritz wird geboren. Die junge Familie zieht in das sichere Wien, Chiel arbeitet für eine Bank und wird, nachdem er ein solches Geschäft auf fremde Rechnung getätigt hat, selbständiger Filmproduzent. Heini kommt zur Welt. Chiel verliebt sich auf Geschäftsreise in Lemberg in die blutjunge Bertha und zieht mit seiner Familie in unmittelbare Nachbarschaft. Zufällig ziehen beide Familien nach Wien, zweite Begegnung. Zufällig ziehen beide Familien weiter, nach Zürich. Er wird ihr Klavierschüler, um sie zu sehen und zu riechen und manchmal ihre Hände auf seinen zu spüren, wenn er sich hilflos gibt. Er stellt Berthas jüngeren Bruder in seinem Büro an, der dafür Geheimtreffen deckt. Sieben Jahre lang. Und nochmals sieben Jahre lang. Dann die Leibesfrucht. Frieda willigt nicht in die Scheidung ein. Bertha geht nach Ungarn und dort eine Scheinehe ein, mit einem Arzt auf Morphium, dort kommt Karl zur Welt. Dann die Nachricht vom unerwarteten Tod ihres Vaters, so dass sie zurück nach Zürich zu ihrer Mutter fährt. Chiel und Frieda werden im zweiten Anlauf zusammen mit den ehelichen Kindern eingebürgert. Nun nimmt Frieda den jüngsten an der Hand und zieht nach Lugano, die Scheidung wird vollzogen. Bertha löst ihre Scheinehe auf und sie werden Ehegatten. Er ist weiterhin rund um die Uhr auf Geschäftsreise, sie begleitet ihn in der mondänen Geschäftsaristokratie. Der kleine Karl wird von einer Nanny grossgezogen und erhält 1 englische Muttersprache. 

Marion geborene Röntgen verkaufte das vor zehn Jahren neu angelegte, englisch anmutende Landgut, weil sie die Familiengeschäfte an der amerikanischen Westküste ausbauen wollten. Chiel war unterdessen als Direktor der bayrischen Lichtfilmgesellschaft und selbständiger Filmproduzent zu viel Geld gekommen, er kaufte für Bertha das Röntgengut und für sich das erste Kino in Zürich, das Radium. Bertha beauftragt Pariser Innenarchitekten und verleiht dem Interieur den Charme absolutistischer Höflichkeit und aufgeklärter Bourgoiesie. Das Loorengut passt eigentlich nicht nach Zürich, bemerkt das Hochbaudepartement. Im Bedienstetenhaus wohnen mehr Personen als im Herrenhaus. Nach zwei Jahren home-schooling durch die Nanny, winters in St. Moritz, kommt der Jüngste, Karl, in die dritte Primarklasse der Volksschule und hört erstmals Schweizerdeutsch. Er lernt schnell und ist rasch integriert. Manchmal fährt ihn Mama im Zwölfzylinder-Maybach vor das Schulportal, manchmal kommt er barfuss wie die anderen Jungen, die Schuhe auf dem Weg deponiert. Karl verknallt sich in eine Mitschülerin. Fasst sie beim Besuch der Landesausstellung an; Mobilmachung. Die Familie geht mit viel Gepäck und einem Koffer voller Geld und Wert via Portugal nach Rio, die Nanny zurück nach Englang. Karl lernt seine Eltern kennen. Er wird nun Charles gerufen, lernt Portugiesisch und wird in einer Missionarsschule unterrichtet. Bertha gebiert ein weiteres Kind, Chiel adoptiert bei dieser Gegelenheit Karl. Rösli, das Dienstmädchen, das auf das Loorengut aufpassen sollte, nimmt sich das Leben. Nach Kriegsende kommt die ganze Familie zurück nach Zürich-Witikon, Karl besucht das Gymnasium. Nun machen seine Eltern Winterferien in Rio und der Gymnasiast schwängert eine Hausangestellte aus dem Südtirol, die zurückzieht und eine Abfindung bekommt, bevor die nun Zwölfjährige ihren Vater sucht. Karl studiert Medizin, zusammen mit Fredi Gilgen, der ihm später ein eigenes Institut übergibt. Nach dem zweiten Propi gibt er im Loorengut eine Party, tanzt wild und wirft sein weinbeflecktes Hemd in das Kaminfeuer. Er verliebt sich in die Tochter eines Basler Missionärlers, Sigi. Er doktoriert, macht Zweitstudium Chemie, seine Mutter versucht ihn mit einer Rabbiner-Tochter zu verkuppeln, die ihm ganz gut gefällt und die er heimlich ausführt. Noch ein Doktortitel. Die Einbürgerungskommission will wissen, wie man so jung Vater wird. Die herrische polnische Grossmutter stirbt im Herrenhaus. Der Rabbiner-Tochter verwehrt er das Eheversprechen und sie zieht nach Antwerpen. Sigi wird schwanger, Karl bekommt eine wissenschaftliche Stelle in New York, die beiden heiraten. Noch zwei Kinder, Karl immer in seinem Forschungslabor, ausser Sonntag Nachmittag. Wegen der Kinder kommen sie wieder nach Zürich, Karl erhält sein Institut beim Milchbuck, die junge Familie einen grossen Neubau gleich gegenüber dem Familiengut. Mondlandung. Die ganze Woche wird im Institut von allen sehr lange gearbeitet, am Samstag ist Teamsitzung. Die Rabbinertochten in Antwerpen sieht den Zeitungsartikel über Karls Professur. Juliette ist dreifache Mutter. Die beiden Treffen sich in Zürich und wieder ereignet sich der furor amantis. Karls Vater reisst sich auf der Intensivstation die Schläuche aus den Venen. Juliette umschwärmt den nun auch erfolgreichen Unternehmer und Karl baut ihr ein Haus neben dem Loorengut. Das geht zehn Jahre so, dann wechselt er seine Heimbasis. Mutter Bertha stirbt, Karl übernimmt das Herkunftsgut, heiratet wieder und zieht mit Juliette dort ein, die daraus ein Kunst- und Design-Wesen macht. Nun hat er seine Begleiterin für Forschungaufenthalte in London und Florida. Ausbleibt für einmal die Leibesfrucht. Das Tor zum Loorengut steht weit offen, ein Namensschild fehlt.

Wir Kuponschneider

Die Menschheit ist dem Kindesalter entwachsen, sie braucht keine Geschichten mehr. Hier wird nicht erzählt, sondern gehandelt. Keine Endzeitgeschichte, ein Neuanfang.

Mal regieren die einen, mal die anderen. Demokratische Spielregeln zur Entscheidfindung sind unabdingbarer Ausgleichsmechanismus für die Entwicklung menschlicher Gesellschaft. Natürlich kann man die Mitwirkungsrechte noch etwas ausbauen und dezentralisieren, aber daran liegt es nicht. Wir haben das mit unserer Bundesregierung perfektioniert. Das Rotationsprinzip macht das Präsidialamt zum Moderationsjob, kein suspekter Herrschaftsanspruch möglich. Ein Stabilitätspakt gegen Willkürherrschaft. 

Hab mir einen Feierabend-Drink gemixt: Limettensaft, ein paar Tropfen Passionsfruchtsirup aus der Teisseire-Metallflasche, junger Havanna-Rhum, 1 Eiswürfel aus Fever-Tree Indian Tonic Water (incl. natural quinne). Der Text Café de l’heure bleue muss warten, das wird dann die Stunde von Chartreuse verte. 

Natürlich leben wir in der besten aller möglichen Welten, im Grundsatz hat Leibniz recht. Aber die seither anhaltende Aufklärung hat ebenso recht, wenn da reale weltliche Mängel benannt werden. Die Geschichte unseres geliebten Abendlandes hat Schönheitsfehler. Wir brauchen kein neues Betriebssystem; wir brauchen nur die angealterten bugs fixen.

Bin gestern einer Lesegruppe dialektische Philosophie, Epizentrum Wien, beighetreten. Doch doch, dieses gehauchte ‘h’ ist besonders gefährlich. Nägelis Vater äusserte diesen letzten Laut, bevor er verschied. Ja, ich rede von Christian Krachts Buch ‘Die Toten’, mit Schweizer Buchpreis. Lustig verwirrte Trailer-Literatur. Lese weiter, hab auch den ganzen Heimkehr von Hürlimann durch. Etwas langfädig mit vielen Wiederholungen, aber toll, wie sich die Identität selbst regeneriert. Der vormalige Guru der marxistischen Zürcher Schule Literaturtheorie entlarvt ihn: Vokabular der neuen Rechten, Paushalisierungen (sollen wir das c nachliefern, oder ist das opportunistisch?): mafiöse Italo-Machos, serbischfiese Yugos, schwarze Lümmler. Bin aus der Lesetruppe desertiert, den Marxisten entfolgt. Kwatsch aus der Kwarantäne.

Da gibt es eine Art Virus im Betriebssystem, ein Logarithmus statt einer an das Fundament gebundenen Wachstumslinie, das eisige Schneesturmsystem des Zinseszinses, der teuflischen Ausgeburt der heuchlerischen Ökonomen-Orthodoxie. Kein Kirchenvater hat sich bisher für die kleinlaute Aufhebung des jüdisch-christlichen Zinsverbotes entschuldigt, aber wenn wieder ein europäischer Papst den Petrus macht wird es ihm bestimmt einfallen. 

Es ist nicht das Privateigentum an den Produktionsmitteln oder der freie Markt als Regulator, sondern der Zins ist der kapitale Käfer im System. Den Zins kann man per Gesetz verbieten, aber schöner wäre natürlich die Zinsfreiheit neben den anderen Freiheitsrechten in unserer Verfassung festzuschreiben. Mit der Abschaffung des Zinsdienstes auf Finanzwerten würden die Wert- und Marktkurven flacher, wieder näher an der Bevölkerungsentwicklung und der Wirtschaftskraft. Alle zahlen langsam ihre Schulden zurück, ohne Zinsen, und dann sind wir alle zins- und schuldenfrei. Eine Verlangsamung des Wachstums tritt ein, was ja eigentlich alle wollen. 

Eine politische Idee kommt aus dem Lebensstil von Menschen. Wer zins- und schuldenfrei lebt, wird entschleunigt und erlebt eine organische Erweckung. Er hat immer genügend Geld dabei, um keines borgen zu müssen, sondern andere einladen kann. Vielleicht nutzt er gelegentlich eine Gratis-Kreditkarte, aber nutzt sie dank Vorausdepot als Debit-Karte. Eine Zinszahlung an diese kleingeistige Geldgier wäre peinlich und unehrenhaft. Er will kein Wohneigentum, solange er es nicht selbst bezahlen kann. Doch über Mietwohnung und Altersvorsorge stehen wir alle unter dem Zinsregime, infiziert vom moral hazard. Wird dauern, bis alles sauber ist. Da braucht es bestimmt Übergangsbestimmungen.

Geldgier und das Zinsdenken fussen tiefer. Wir müssen den Boden vergesellschaften, um den Zins als Nachfolger des Zehnten zu verbannen. Der Boden muss durch den Staat verwaltet werden, Nutzungsrechte und Abgeltungen politisch ausgehandelt werden. Möglichst dezentral. Unser Staat soll nicht nur auf saubere Luft und sauberes Wasser achten, sondern auch auf eine saubere Bodenpolitik. Mit diesen beiden updates im Betriebssystem sollte der Klimawandel eigentlich gestoppt sein. 

Wenn der Staat in Zukunft unseren Boden zum Gemeinwohl bewirtschaftet und ein neues Standbein für seine Finanzierung erhalten hat, kann das politische Wirken auf weitere System-Bereiche verstärkt werden. Vorab hat sich der Staat um die medizinische Versorgung der Bevölkerung in eigener Regie zu kümmern. Betriebswirtschaftliche Renditerechnungen haben in privatwirtschaftlichen Gesundheitsbetrieben oberste Priorität; das ist falsch, auch lächerlich und peinlich. Der Markt ist da, das staatliche Angebot auf Effizienz-Kurs zu halten und zu ergänzen, das ist alles. 

Adidas hat seine keuschen Töchter und strammen Söhne angewiesen, keine Miete mehr zu bezahlen. Diese Fremdkosten bedrohen die Dividendenausschüttung an die Eigentümer, das wird bald im Blick stehen. Das Volk findet das Scheisse (so sagen die auf Twitter). Die UBS plant trotz Mahnungen des Bundesrates Dividendenausschüttungen. Moral hazard? Die Dividendenjäger haben Jagdverbot. Jawohl, dieses Geld, eine Art Zins auf Anteilsscheinen, gehört eingezogen. Wir haben ja gerade ausserordentliche Ausgaben in dieser Höhe. Es macht Sinn, von allen Anteilsgesellschaften eine Sondersteuer in der Höhe der letztjährigen Dividendenausschüttung zu verlangen, statt die Sondermassnahmen durch weitere Staatsverschuldung zu finanzieren. Der Bundesrat muss das Notrecht in einer langfristigen Perspektive nutzen. Und wenn das Parlament wieder mal Zusammentritt, soll die Kostenmiete für alle geltend gemacht werden.

Da hatten wir diese christliche Revolution, neue Gott-Mensch-Relation, Subjektivität, Kollektivität, eine neue humane Identität für unser abendländisches Rundumsmeer. Dann die vollmundige französische Revolution mit der individuellen Freiheit, der Gleichheit und der heute einvernehmlichen *Geschwisterlichkeit (Wo gehört der Stern hin, an den Himmel!). Dann die sozialdemokratischen Werte Demokratie, sozialer Ausgleich und Regelung der Marktwirtschaft. Und da haben wir uns dann nach den Kriegen eingerichtet und niedergelassen. Und darüber ist der zinsbasierte Globalkapitalismus gewuchert. Vorsicht, der Begriff ist politisch neurechts.

Wir sind gerade daran, den Staat als gemeinschaftliche Wirtschaft und territoriales Ordnungsprinzip neu zu erfinden, den Föderalismus dezentraler neu zu beleben, das Fundament unseres Wirtschaftens zu verstärken, einigen ökonomischen Unsinn wegzulassen. Lassen wir die Flugzeuge in den musealen Flughäfen, die Jungen können mit dem Fahrrad um die runde Erde und sich in den Hangars treffen. Man muss erleben, was man sagt. Beim Schreiben reicht die Vorstellung.

Der Richter darf nicht einfach dem Experten folgen, sondern muss diesen so lange befragen, bis er das Problem selbst geistig durchdrungen hat. Die Politik darf nicht einfach den Richtern vertrauen, auch nicht der Staatsanwaltschaft. Die direkte Demokratie darf das Notrecht nicht einfach dem Bundesrat überlassen. Jetzt machen wir eine Notinitiative: Zinsfreiheit. Gemeineigener Boden. Wer macht das schönste Plakat für zweimal Ja? Wenn wir das System hochfahren, laufen die Programme wieder richtig. Hissen wir die weisse Flagge, wir sind schwanger, aber unbefleckt.

Der Stiefograf

Sie gurrt, sie tänzelt und scharwenzelt, dann erliegt sie Wenzels Unverstelltheit. Der Erzähler lauert dort, wo der Text hinweht. Ich kann schneller sprechen als hören. Ich kann schneller schreiben als Lesen. 

Es war schon eigenartig unter sowjetischer Militärherrschaft in Erfurt zu leben. Die zwei Jahre Dienst in der Wehrmacht boten ihm privilegierten Zugang zu hochgestellten Personen und wichtigen Sitzungen oder Verhandlungen. Als gestandener Journalist und Kurzschriftweltmeister weckte er Neugier und der eine und andere Offizier wollte sich im Schnellreden üben. Die Militärs waren besser als die Parteisoldaten, Befehlsalven. Selbst wenn der Ley noch so besoffen war oder der Bormann noch so einen Mist zusammen stammelte; ich schrieb mit und bearbeitete hinterher die Texte so, dass das Ganze einen Sinn ergab. Die Bonzen haben dann selbst gestaunt, was sie für eine ordentliche Rede gehalten hätten. (sic) Zuerst liessen die Russen die Thüringer in Ruhe, es fanden Landtagswahlen statt und eine Koalitionsregierung führte die Geschäfte. Helmut Stief fand die zu ihm passende Stellung als Protokollführer des Parlamentes, bald dazu einen Direktorentitel. Die Alterspräsidentin Ricarda Huch liess über dem Eingang an der Arnstädter Strasse „Es sei dem Lande Thüringen beschieden, dass niemals mehr im wechselnden Geschehen ihm diese Sterne untergehen: Das Recht, die Freiheit und der Frieden.“ anbringen. Ausgerechnet dort, wo heute Streit und Unregierbarkeit ganz Deutschland zu Lippenbekenntnissen verführt. Mehr Wunsch denn Prophezeiung, ohne persönliche Gewähr. 

Der Stammvater der rationellen Stenographie wurde vom sowjetischen Militär am frühen Morgen zu Hause abgeholt und gefangen gesetzt. Nachdem die Russen mit der sozialistischen Einheitspartei auch politisch Fuss fassten, konnten die deutschen Genossen aus dem ehemaligen Widerstand Listen mit missliebigen Landsleuten anfertigen, die dann plötzlich nach Bautzen verschwanden. Als unangetasteter und gesamtdeutscher Steno-Meister hielt er sich nicht an die neuen Anstandsregeln und wirkte arrogant. Ein Opportunist, vielleicht Reichssozialist. Eine zwielichtige Gestalt halt. Eine geborene Agentenfigur. Das Militärtribunal verurteilte ihn zu 135 Jahren Gefängnis. 

In Erfurt regieren nun die, welche von den Sowjets aus Bautzen befreit wurden. Und Bautzen füllt sich mit ehemaligen Gegnern und internen Querulanten. Der neoklassizistische Bau wird siebenfach überbelegt. Die Kriegsgefangenen in den Barackenlagern werden für entnazifiziert erklärt und dürfen zurück, in untergeordnete oder subordinierte Berufsstellungen. Stief blieb. Nun war er wieder der, auf den alle herunterschauen, mit seinen knapp ein Meter fünfzig. Seine Zellengenossen zeigten nur Mitleid gegenüber seinem pedantischen Gekritzel. Viel zu kompliziert, nichts für unsereins Komplizen. Nach der Wende wurden hundert und achtzig deutsche Skelette aus den zugeschütteten Schützengräben rund ums Gefängnis geräumt. Nach einer Gefangenenrevolte wurden Stahlbleche vor die Fenster gehängt. Stief blieb. Das Licht war jetzt deutlich schlechter, aber seine Arbeiten kamen voran.  

Die deutschen Kurzschriftsysteme würden in einem neuen, stark vereinfachten System aufgehen, die nach rationellen Kriterien und Regeln funktioniert. Stief hatte im Gefängnis genug Zeit, die Häufigkeit von Silben und deren Stellung im Wort auszuzählen, um die einfachsten und am schnellsten geschriebenen Zeichen den meistverwendeten Laut-Mitlaut-Kombinationen zuzuordnen. Spätere maschinelle Untersuchungen geben ihm recht. Die Grundschrift kann in vier Stunden gelernt werden: Fünfundzwanzig Zeichen, zwölf Regeln. Die erste heisst: Schreib deutlich. Die Sache mit dem unterschiedlichen Druck der Feder fällt weg. Trotzdem liess sich kein Mitgefangener herab, sowas zu lernen. Regelmässiges üben bringt Erfolg. Die Aufbauschrift erlaubt höhere Schreibtempi durch Bedeutungszuweisung an Tief- und Hochstellung sowie Kürzel für die häufigsten Wörter. In der high-end-Version werden Vorschlagkonsonanten weggelassen und ein Thesaurus privater Kurzzeichen aufgebaut. Die kryptologische Meisterschrift ist also prinzipiell unlesbar. Man muss die uneingeschränkte Draufsicht bewahren.

Als Stief das perfektionierte Schnellschreibsystem seinen Justizvollziehern aufschwatzen wollte, entliess man den Spinner und schob ihn in den Westen ab. Den Rest des Lebens konzentrierte sich Herr Stiel darauf, seine Lehre weiterzuverbreiten, bis ihm Parkinson den Stift zum Krakeltanz verführte. An den Volkshochschulen wurden seine ausgewählten Meisterschüler zu Lehrern der neuen Jünger. Seine Gefolgschaft erreichte über vierzigtausend. In den siebziger Jahren waren die meisten unerlaubten Hilfsmittel an schriftlichen Prüfungen an Gymnasien und Hochschulen in Stiefo verschlüsselt. Heute wird die schnelle Kurzschrift im Fernstudium angeboten. Die Stiefo-Szene hat sich verkleinert und ist mehr in Intellektualitäten verwickelt als in kaufmännische Geschäfte. Die meisten sind Linkshänder. Helmut Stief lehrte sein System auch für diese einst geschmähten Falschschreiber und liess sie von rechts nach links schreiben, die Zeichen seitenverkehrt. Voll Leonardo.

Von rechts nach links sollte es an diesem Tag auch in Thüringen gehen. Bei den Landtagswahlen hatten SPD, Grüne und die Linke mit einer Stimme Mehrheit den Rat erobert. Ramelow tritt unter Ricarda Huchs Worten durch in den Plenarsaal und nimmt als Abgeordneter seinen Sitz weit links ein, ein evangelischer Sozialist. Wenn das klappen sollte mit seiner Wahl zum Ministerpräsidenten, müsste er einen Personenschützer an seiner Seite aushalten. Aber er hatte ja jahrzehntelang Verfassungsschützer neben sich, vielleicht kommt ja 1 Netter. Im ersten Wahlgang fehlt die eine Stimme. Also müssen nochmals alle an seinem Linksaussen-Posten vorbei zur Wahlkabine, im zweiten Anlauf ist die absolute Mehrheit Tatsache. Jubel links, feindhöfliches Gratulieren dort, Höcke und seine Fraktion bleiben hocken. Der christliche Staatsmann wird zum landesweit beliebtesten Politiker. Ein gnadenloser Pragmatiker. Er, der Rechtschreibschwäche hat. Die Vereidigung. Ramelow spricht den Eid. Die Gottesformel lässt er weg. Aus der CDU brüllt einer: So wahr mir Gott helfe!

Er entschuldigt sich in seiner ersten Präsidialansprache bei einem auf der Tribüne sitzenden Freund und allen anderen Stasi-Opfern, so hatte das Amt noch nie jemand interpretiert. Sein Gegenspieler Höcke gewinnt in den folgenden Wahlen auch einen Sitz im Landkreis, wo er mit seinen beiden LKA-Personenschützern Platz nimmt. Als der Sitzungsleiter die beiden Beamten vor den nicht-öffentlichen Ratsgeschäften aus dem Saal weist, kommandiert er die ganze Fraktion zum Protest mit dem Rücken ab. Ein ostpreussischer Sprössling, herrisch. Im Kampf um den Landtag verlautbart Höcke, der nachweislich den AfD-Vorstand angelogen hat, dass der Gegner Wahlfälschungen beabsichtige. Es gibt Indizien, dass wir bei den Briefwahlen signifikant schlechter abschneiden als bei Abstimmungen im Wahlbüro. (sic) Daher solle man besser im Wahllokal wählen. Selbsterfüllende Prophezeiung. Faktenmächtig. Dann hat die Rechte unter Führung von Höcke Kemmerich gewählt. Und nun ist Ramelow wieder gewählt und hat dem Höcke die Hand verwehrt. Diese stahlblauen Augen überall, Hitler, Höcke und seine junge Blondine Muhsal, Stief, Ramelow. Schizogrosk.

Transwortation. Teleport. Digitan. Transmental. Protokollwahn. Redefreiheitskontrollzwangsvollzug. Effizientstechnologietreiber. Alles spricht dafür, dass schreiben überflüssig ist. Dieser Text wird nicht geschrieben, sondern gesprochen, Wort für Wort, das sich am Bildschirm visualisiert und mit Gesten abgesegnet wird. Standardisierte Prozesse, Standardsprache, Protokolle der Verzweiflung. Das ist ein armseliger Schüler, der seinen Lehrer nicht übertrifft. Die Probleme in den Parlamentsdiensten sind geblieben. Dort sprechen sie in maschinenfernen Dialekten politische Prophezeiungen und Fachchinesich. In der Ostschweiz, wo sich die Dialektfärbungen kaum in das mehrere hundert Zeichen umfassende internationale phonetische Alphabet zwängen lassen, herrschen nun die Staatsschreiber über eine Walliser Technologie – die sprechen dort ja wirklich unverständlich -, die in vierzig Minuten das Protokoll einer vierstündigen Sitzung druckreif ausfertigt, mit Satzzeichen und allem drum herum. Natürlich, mit Stiefo wäre das Protokoll mit dem Ende der Sitzung fertig. Die Protokollführer heissen nun recapp-Anwender. Besuch aus Thüringen steht an.

Cäcilia und das Dreiminuten-Ei

Nach Ansicht mancher Forscher lassen biologische Vorgänge beim Orgasmus Rückschlüsse auf das Sexualverhalten der Frühmenschen zu. So gibt es über die für einen Teil der Frauen erlebbaren multiplen Orgasmen anthropologische Erklärungsversuche, die von der Annahme ausgehen, dass sich frühmenschliche Weibchen üblicherweise während der Ovulation mit mehreren Männchen paarten. Der Eisprung wird zum Evolutionsvorteil genutzt, indem die verschiedenen Spermien ihren Fitnesstest durchführen. Geblieben ist das weibchentypische Orgasmusverhalten. Für den Eisprung wurden Coitomimetische Stimuli sekundär. 

Das Schreien ist jedoch nicht zwangsläufig ein Anzeichen eines Orgasmus, es könnte auch Schmerz ausdrücken, der durch den bedornten und mit Widerhaken besetzten Penis des Katers verursacht sein könnte. Die Ovulation beim Kätzchen aber ist durch die Penetration mechanisch induziert.

Laut Elisabeth Lloyd und Donald Symons ist der Orgasmus der Frau keine Evolutionäre Anpassung, sondern ein evolutionäres Nebenprodukt, ähnlich der männlichen Brustwarze (was haben die beiden miteinander zu tun? Das einzige evolutionäre Nebenprodukt ist Religion). Seilschaften sind den Männern wie Netzwerke den Frauen.

Anstatt mit einer Ejakulation kann der männliche Orgasmus mit einer Injakulation verbunden sein, die sich als sexuelle Kunstform bereits in den altchinesischen Schriften des Daoismus findet und in unserer Zeit als Methode zum Erreichen männlicher multipler Orgasmen propagiert wird. Im Büro ist das besonders schwierig.

Frühe westliche Forscher dachten noch, zur Empfängnis wären zwei Orgasmen nötig. Mit der richtigen Erkenntnis aber, dass nun doch einer ausreicht, hat die Aufklärung den anderen wegrationalisiert. Die männliche Form des Höhepunktes als Gipfelstürmerei mit anschliessendem base jump wurde Norm. Orgasmus ist mehr Empfangsbestätigung, wobei die Empfängnis dahingestellt bleibt. Die Empfängnisverhütung hat den Orgasmus blossgestellt und Onan verhöhnt. Onan sollte auf Geheiss seines Vaters zu Tamar, der Witwe seines Bruders Er, um dem Verstorbenen Nachkommen zu zeugen. Sie empfing ihn und sie überliessen sich dem Liebesspiel, bis Onan sein Glied aus der Scheide zog, sich neben der Liegestatt aufrichtete und mit den Händen zum Himmel seinen Samen auf den Fussboden tropfen liess. Der Gott der Genesis bestrafte ihn durch Tötung. Tamar aber ging zum Schwiegervater, der sie schwängerte und zur Ahnfrau Jesu machte.

Liv Strömqvist: Der Ursprung der Welt. Eine Kulturgeschichte der Vulva. Slavoj Zizek ist gegen diese Entmystifizierung der Vagina, schreibt die junge Welt am 1. Mai. Der Natur nach haben beide recht. Das Marignano des Maskulismus (Maskulinismus gibt es nicht; falsche Wortbildung:) war die Unterwerfung unter die feministische Forderung nach dem Sitzpinkeln. Damals hätten die Männer die Einrichtung von Urinalen in geschlechtsgemischten Privathaushalten durchsetzen müssen.

Es gibt sie, die Angst des Mannes vor der weiblichen Sexualität. Das wird schnell mal zum Problem der Frau. Die Philosophin Svenja Flasspöhler fordert Frauen deshalb auf, ihre Sexualität frei zu leben, nur sich selbst und dem Gegenüber gehörend. Warum nicht die Initiative ergreifen und verführen? Philosophisch spricht nichts dagegen. Untenrum frei, obenrum nicht, wirft Stokowski ein, doing gender steckt in unserem Körper, egal welchen Geschlechts. Doing Gender bezeichnet Repertoires und Schemata des Handelns, der Wahrnehmung und der Bewertung, die funktionieren und verständlich werden, indem sie geschlechtliche Klassifikationen aufgreifen. Den soziopsychologischen Mustern entsprechen Zellstrukturen und neurologische Vernetzung.

Wegen der anatomischen Voraussetzungen der Klitoris droht Überreizung oder mechanischen Schädigung während des Stechens; so ist diese Variante des Intimschmucks eher selten. Es besteht die Gefahr einer Nervenschädigung des Nervus dorsalis clitoridis, in dessen Folge sich dann ein völliger oder teilweiser Sensibilitätsverlust einstellen kann. Wird das Piercing vertragen, kann es jedoch einen erheblichen Lustgewinn bedeuten. Mit einer Materialstärke von 1,2 Millimetern.

Es ist Tabu, also lasst es bleiben. Diese ganze Wixerei. Einer Zwillingsstudie zufolge liegt die Heritabilität der weiblichen Orgasmusfähigkeit bei Geschlechtsverkehr um die 34 %, bei Masturbation aber bei 45 %. Wixen ist also vererbt und angezüchtet. Tourette-Syndrom. Ungewolltes Herausschleudern obszöner und aggressiver Ausdrücke, eine zentralnervöse Spontanentladung. Primäre Tic-Störungen können weder geheilt noch ursächlich behandelt werden. Knöppel spielt damit. Bildungssprachlich vulgär. Wenig schmackhaft.

Im Französischen kommt der Begriff zuerst bei Montaigne in der Form «manustupration» vor. Mittellatein manu stuprare (manus „Hand“ und stuprum „Unzucht“). Gustav Klimt malte eine masturbierende Frau mit geschlossenen Augen, in weissen Rüschenbeinkleidern, welche eine grosse Öffnung am Geschlecht aufweisen – schliesslich musste sie irgendwie brünzeln. Sezession. Diogenes von Sinope masturbierte auf dem Markplatz. Autofellatio ist bei männlichen Primaten eine verbreitete Form der Autosexualität.

Laut Hite genießen die meisten Frauen die Masturbation meist zwar physisch, nicht jedoch psychisch. Die Phantasien der Frauen sind stärker als bei Männern auf die bereits erlebten Arten sexueller Handlungen beschränkt. In Kinseys Studien gaben 45 Prozent der Frauen an, durch Masturbation üblicherweise innerhalb von drei Minuten einen Orgasmus zu erreichen, weitere 25 Prozent in vier bis fünf Minuten, wobei viele der Frauen ihn mit Absicht hinauszögern. Viele Frauen geben darüber hinaus an, Masturbation bis zum Orgasmus zu nutzen, um die ablenkende sexuelle Erregung möglichst schnell abzubauen. Das trifft auch bei vielen Männern zu. Weiterarbeiten!

Freud wendete sich resümierend gegen eine grundsätzliche Verharmlosung: In der Neurasthenie als direkte Folge, aber auch durch Verminderung der Potenz, Verweichlichung des Charakters durch Fixierung auf phantasierte Befriedigung und Stagnation der allgemeinen psychosexuellen Entwicklung disponiere die Selbstbefriedigung zur Neurose. In chronischen Fällen empfahlen Pädagogen das Anlegen von Fesselbändern, Gürteln und Leibchen. Drastischste Maßnahme war die Infibulation: Ein Draht, der durch die Vorhaut über die Eichel angelegt wurde. Campe, Pädagoge und Verleger von Aufklärungsliteratur, propagierte diese Methode und konnte nur bedauern, dass die Infibulation „nur bei der einen Hälfte unserer Jugend“ anwendbar sei. Vaginalzunähung war hier unbekannt. Als Infibulation wird in älteren Quellen auch das Durchspießen der Glans penis durch Knochenspangen oder Metall zu Schmuckzwecken und zur Reizerhöhung beschrieben. Materialstärke unterschiedlich.

Philosophisch wurde die christliche Masturbationsächtung bis in die Aufklärung gestützt. Sexualität bezweckt Fortpflanzung. Kant legt klar, dass die wollüstige Selbstschändung eine Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst ist, weil er seine eigene Persönlichkeit aufgibt, indem er sich selbst als Mittel zur Befriedigung seiner Triebe gebraucht. Entwürdigende Selbstobjektivierung.

Der Orgasmus macht nicht nur Individuen und Paare sprachlos, sondern auch die Philosophie. Nun befasst sich ein Buch mit dem Thema. Lest den kahlen Mahnkopf! Aus anthropologischer und sexologischer Sicht gibt es keinen Unterschied zwischen männlichem und weiblichen Orgasmus, aber unterschiedliches Erregunsverlaufsverhalten. Die Spannweite geht von Penis- oder Klitoriskonzentration bis zur Ganzkörpererregung und autopoetischem Neurophysiologismus. Von Befriedigung bis zum Frieden, von der Erlösung bis zur Freiheit. Die längste Beschreibung eines Orgasmus in der Belletristik beträgt hundert Seiten.

Die Fähigkeit zur Sublimierung kann sexuelle Lebensenergie in geistige und künstlerische Schaffenskraft verwandeln. Der Rückzug der Libido von äusseren Objekten auf das Ich und das Göttliche kann aber auch zum Martyrium werden. Die heilige Cäcilia wird am 22. November gefeiert. Bei Vollmond gezeugt und geboren weihte sie ihr Leben und Ihr Frausein dem vor zweihundert Jahren lebenden Gottessohn. Ihre Eltern vermählten sie aber mit dem heidnischen Jüngling Valerianus. Sie führten eine Josefsehe bis er den gemeinsamen Glauben gefunden hatte und erkannten sich dann ohne Zeugung. Als sie auch ihre Dienerschaft bekehrt hatte und der Grosshaushalt in wilder Josefskommune lebte, tauchten die Christenhasser die Braut in kochendes Wasser. Das ihr nichts anhaben konnte. Etwas gerötete Haut. Als der Henker daraufhin versuchte, sie zu enthaupten, gelang es ihm nicht, der Heiligen den Kopf abzutrennen. Sie lebte noch drei Tage, verteilte ihre Reichtümer unter den Armen, den Kopf etwas wacklig auf dem schwer beschädigten Hals. Sechshundert Jahre später wurde sie in der Kalixtus-Katakombe unverwest ausgegraben, die Halswunden verheilt. Der heidnische Hochzeitslärm war verebbt, Cäcilia wurde Patronin der Musikanten und Geliebte der Organisten. Papst Pius IX hat die restaurativen Cäcilienvereinigungen während dem ersten Vatikan anerkannt. Wer lange in einem ordentlichen Kirchenchor mitsingt, bekommt das Cäcilienabzeichen zur Ehre. 

vaticana †

Philosophische Tröstung oder mysthische Offenbarung: Des unaufzehrbaren Reichtumes gewahr werden, der in seiner Einbeschlossenheit in jene grössere und wirklichere Wirklichkeit besteht. Aber wenn Du an der Himmelspforte das Formular ausfüllen musst, stehe Dir Aristoteles bei:
Existiert Gott?
Ja (Kästchen)
Nein (Kästchen),
Kann man nicht wissen (Kästchen)
Du musst Dein Kreuz setzen.
Wer erhält Einlass, fragst Du dich. Wer nein sagt, wird anderswo suchen. Wer es nicht weiss, bleibt im Ungewissen. Wer ja sagt, geht rein ins Gewisse. Aber trotzdem. Dein eigenes Kreuz setzen? Sag doch, Du wartest auf einen Freund, einen standhaften Agnostiker. Unfehlbar ist nur der Papst, Du willst das alles nochmals diskutieren. 

Der Papa buono, Johannes.23 aus Bergamo, hat den Fusskuss und die drei Verneigungen bei der päpstlichen Privataudienz abgeschafft. Sein nur fünf Jahre älterer Vorgänger Pius.12 feierte am 5. Oktober 1958 seine letzte Heilige Messe und sprach im Anschluss daran die päpstlichen Abschiedsworte „Adesso non posso più“. Er hatte einige Jahre zuvor die päpstliche Unfehlbarkeit genutzt und die leibliche Himmelfahrt Mariä als Dogma verkündet, obwohl diese Idee keine biblische Grundlage hat und die älteste Quelle im 6. Jahrhundert datiert (Faktenstempel). Pius erlitt am Tag nach seiner unfehlbaren assertiven Illokution, dem Adhortativ, einen Schlaganfall und war dann rasch weg, Formular ausfüllen. Früher hatte er nur Magenprobleme und monatelangen Schluckauf gehabt. Aber er hatte sich durch seine Neutralität in politischen Dingen übernommen. Raushalten aus aller Politik war sein Motto während dem Krieg. Die Judenfrage war Politik, da wollte man sich auch raushalten. Aber er war der erste, der auch Kardinäle aus den Kolonien ernannte, vorher war gerade mal einer Nichteuropäer, aus New York.

Der Bergamasker eröffnete am 11. Oktober 1962 das zweite vatikanische Konzil, das er schon kurz nach Amtsantritt angekündigt hatte. Seitdem ist dies der Gedenktag des Konzilpapstes. Johannes begrüsste die Aktivitäten der UNO und anerkannte die Menschenrechtserklärung. In der Kubakrise schrieb er an Kennedy und Chruschtschov, sie sollten sich beruhigen. Auch dieser illokutive Akt zeigte faktische Wirkung. Chruschtschow überliess die Atomraketen doch nicht dem zu heissblütigen Castro, Kennedy zog die Atomraketen aus der warmen Türkei und Italien ab. Die katholische Weltkriche diskutierte derweil in der Peterskirche, hunderte Konzilsväter nutzten ihre acht Minuten Redezeit zu Plädoyers und Verteidigungsangriffen, alles in ganz unterschiedlich dialektgefärbtem Latein. Ein Parlamentsbetrieb mit Cafeteria und Lobby. Es herrschte ein Geist, der die Grenzen eines verengten lateinischen Horizontes sprengte und dazu zwang, nicht lateinisch, sondern katholisch zu denken, wie Ratzinger später analysierte. Gleichzeitig konnte das Trauma der französischen Revolution durch den Blick auf die angelsächsischen Kirchen überwunden werden.

Das Konzil begann mit einer großen Prozession, aberhunderte Konzilsväter zogen in den Petersdom im Vatikan ein. Der Papst trug nicht seine Tiara als Zeichen der Macht, sondern eine bischöfliche Mitra. Auch nutzte er den Tragesessel nur auf dem Petersplatz, um besser gesehen werden zu können. In der Peterskirche liess er anhalten und ging den Rest zu Fuss, obwohl er kurz vor seinem 81. Geburtstag stand. Bischöfe aus 133 Ländern waren anwesend. Der Papst hatte seine Freude und strahlte. Die Schweizer Zeitung Blick vermeldete dann seinen Tod bereits am 1. Juni 1963, zwei Tage zu früh, bei Krebs kann das ja alles plötzlich schnell gehen. 

Hans Küng und Joseph Ratzinger waren die Teenager-Theologen am Konzil. Da war auch Hélder Câmara, der brasilianische Befreiungstheologe mit seinen kirchlichen Basisgemeinden, Marcel Lefebvre und der Karol Wojtyla aus Krakau, der spätere Johannes Paul.2. Am 1. Mai 2011 sprach sein Nachfolger Papst Benedikt.16, das ist der Ratzinger, bei einem Pontifikalamt auf dem Petersplatz den Wojtyła selig und nahm ihn in das Verzeichnis der Heiligen und Seligen auf. Nach dem Seligsprechungsritus brachten zwei Ordensschwestern, eine davon Marie Simon-Pierre, deren Heilung von der Parkinson-Krankheit während dem Seligsprechungsprozess als Wunder auf die Fürsprache des Seligen anerkannt worden war, ein Reliquiar mit einer Ampulle, die etwas Blut von Johannes Paul.2 enthält, zum Altar. Franziskus sprach dann Johannes.23 heilig. Sukzessionsreligion eben. Über Hans Küng war im Vatikan schon 1957 eine Akte angelegt worden, mit neunzig Jahren schreibt er immer noch gegen das Unfehlbarkeitsdogma an, obwohl das Konzil damals auch der Gesamtheit der Gläubigen Unfehlbarkeit zugesprochen und er ein fakultätsunabhängiges theologisches Institut samt Professur erhalten hatte. Lefebvre weigerte sich, die Reformen anzuerkennen und berief sich auf die Unfehlbarkeit der Vorgängerpäste, gründete die Piusbruderschaft, wurde exkommuniziert, flüchtete ins Wallis. Der Bündner Bischof Huonder, der hatte es mit dem Ratzinger, ging auf die Altenbank im Pius-Knabeninstitut im Sarganserland.

Der frischgekürte Paul.6 hatte anfangs etwas Mühe mit dem Konzil; er legte eine Passionspredigt vor, in dem die alte Judenbeschuldigung durchschimmerte. Josef Frings, Erzbischof in Köln, der schon 1942 bei seiner Wahl die Judenverfolgung öffentlich als himmelschreiendes Unrecht bezeichnet hatte, hielt seine historische Protestrede. Achille Liénart, Erzbischof von Lille, doppelte nach. Sie akzeptierten auch die vorgedruckten Wahllisten nicht und wandten sich gegen das Heilige Offizium und seinen Sekretär, Kardinal Ottaviani. Der hatte bisher nach Aktenlage, ohne Verfahrensgarantie und ohne Begründung entschieden. Paul.6 hat eingelenkt und nun heisst es unter den Dokumenten „Paulus episcopus servus servorum Dei una cum Concilii Patribus“. Der Papst führte dann das Vat2 erfolgreich zu Ende. Er war der erste, der die römische Ziffer mit dem Ordinalpunkt selbst hinter seinen angenommenen Namen setzte. 

Die Liturgiereform nach über vierhundert Jahren war umfassend. Das Stundengebet klösterlichen Ursprungs passte nun in die Hosentasche der Arbeiter und Angestellten. Der Priester zelebriert nicht mehr alleine vor dem Hochaltar, gegen Osten und den Rücken zur Gemeinde. Missa cum populo, nicht mehr missa solitaria. Der Gottesdienst und die nun zahlreicheren Lesungen, auch aus dem alten Testament, erfolgen in der Landessprache. Man betet nun auch für die, die nicht an Christus glauben, und auch für die, die nicht an Gott glauben. Und nun betet man auch für die Juden, zu denen Gott, unser Herr, zuerst gesprochen hat. Nun werden die Mitfeiernden gegrüsst mit “der Herr sei mit Euch” sowie mit einem Schlussegen bedacht “er segne euch”. Amen wird von der ganzen Gemeinde gesprochen, es ist die Akklamation des Gesagten. Nach dem liturgischen Ausspruch “der Friede des Herrns sei allzeit mit euch” lädt der Priester die Gemeinde zum persönlichen Friedensgruss: Die Gemeindemitglieder sagen sich gegenseitig “Der Friede sei mit Dir”. Die katholische Reformation ist mit der Liturgiereform durch. Das Individuum wird erneut ausgewildert, es folgten die antiautoritären Kommunen, Basisdemokratie und Vollversammlung; andere Zusammenrottungen.

Der Liturgiebewegung schwebten ursprünglich charismatisch geführte Gemeinschaften vor. Ildefons Herwegen, Mönch und deutscher Wortführer der Reformer, meinte: Das Individuum, durch Renaissance und Liberalismus grossgezogen, hat sich wirklich ausgelebt. Es sieht ein, dass es nur im Anschluss an eine ganz objektive Institution zur Persönlichkeit reifen kann. Es verlangt nach der Gemeinschaft. Was auf religiösem Gebiet die Liturgische Bewegung ist, ist auf dem politischen Gebiet der Faschismus. So die Hinwendung zum Volk. In Billard um halbzehn beschreibt Böll diese Figur, die später Adenauer gegen die Nazis beistand. Pius.10 verbot 1903 den Einsatz von Kastraten in der Kirchenmusik. Der Vatikan ist die letzte absolute Monarchie im Abendland. Urteile werden im Namen des Papstes gefällt. Die Todesstrafe wurde 1969 formell abgeschafft. Das vatikanische Gefängnis hat noch zwei Plätze, in die man whistleblower steckt.

Der französische Fideist L.G. de Bonald trat mit dem Satz, dass an die Stelle der Autorität der Evidenz die Evidenz der Autorität zu treten habe, gegen die säkulare Beschneidung der Kirche an. Nachdem der Wiener Kongress nach den napoleonischen Verheerungen den Kirchenstaat wieder aufrichtete, griffen die Republikaner 1848 erneut an, Papst Pius.9 musste verkleidet fliehen. 1861 wurde das Königreich Italien gegründet und die Marken, Umbrien und die Romagna säkularisiert. Vittorio Emmanuele II langte während dem Konzil nochmals zu: Latium und Rom wurden italienisch durch militärische Besetzung. Der Papstmonarch herrschte nur noch über den Vatikan. Erst mit Mussolinis Lateranverträgen erhielt die Kirche wieder staatspolitische Souveränität. So heisst das Konzil, das Pius.9 einberief, um seine Unfehlbarkeit festzuschreiben, vaticanum I. Auf dem Petersplatz erteilte er den Segen im drive-in-style: Alles mit Fiakern und Kutschen zugestellt. Der Erzbischof von München schwörte dem Papst, für die dogmatische Verschriftlichung der päpstlichen Unfehlbarkeit zu kämpfen, nötigenfalls sein Leben dafür zu lassen. Der Kurienkardinal hatte sich der höheren Leitung unterstellt. Louise Beck, ein spiritistisches Medium, kam in Kontakt mit der jung verstorbenen Ehefrau des Redemptoristenprovinzials, der Louise vorgängig einige Dämonen ausgetrieben hatte, weil sie an Mondsucht und Nervenfieber litt. Die Verstorbene konnte direkt mit der heiligen Mutter kommunizieren und Anfragen an diese beantworten lassen. Wer am “Geheimnis im Geheimnis” teilhatte und mit Louise sexuelle Riten zelebrierte, stammte meist aus Bayerns Klöster. In Rom war sie nie. 

Die Gegner des Unfehlbarkeitsdogmas, etwa 20%, setzen sich über das Konzilsgeheimnis hinweg, umgingen die Postzensur und publizierten in der deutschen und französischen Presse. In der Schlussabstimmung gab es nur noch zwei Stimmen gegen das Jurisdiktionsprimat und die Unfehlbarkeit des Papstes, die anderen waren abgereist. Römisch-katholische Christen, welche das neue Dogma ablehnten, wurden exkommuniziert. In den Niederlanden gründeten sie die Altkatholische Kirche, in der Schweiz die christkatholische. 

Pius.9 wurde zwar von Wojtyla, dem Sukzessor mit dem zweitlängsten Pontifikat, selig gesprochen, aber im Heiligsprechungsprozess kam zu viel zum Vorschein. Er hatte befohlen, Zündhölzer zu konfiszieren, weil sie als fiammiferi infallibili angepriesen wurden. Einem Bischof, der ihm protokollgemäss den Fuss küsste, setzte er seinen Schuh gleich auf den Kopf, wie eine antike Siegermacht dem Unterworfenen. Pius.9 war Epileptiker, jähzornig und ekstatisch. Er hatte persönliche Offenbarungen. Als junger Papst verkündete er das Dogma von der unbefleckten Empfängnis Mariä – nach seiner Logik durfte auch die Mutter von Maria nichts von der menschlichen Erbsünde abbekommen haben. Mit fast 32 Jahren längstes Pontifikat der Geschichte. 

 

 

 

 

Tourette à Tourtour

Jetzt sitze ich im klimatisierten TGV von Aix nach Norden, zurück in die Hamburger Redaktion am Speersort. Dank dem klimapolitischen Rating auch unserer digitalen Medien war die Eisenbahn die naheliegende Option und ich komme so zu einer entschleunigten Reportage, für welche die Zeit trotzdem zu knapp wurde. Die Sonnenbrille noch im Haar überlege ich mir, warum ich nichts über ihre Musik erfahren habe? Ich konnte keine autorisierte Ton- oder Bildaufnahme finden, selbst habe ich noch keinen Auftritt miterlebt. Ich hoffte natürlich auf den Abend. Soll ich den vorausgefertigten Entwurf einfach durch die persönliche Begegnung anreichern? Warum hat sie mir alles andere erzählt?

Begegnet bin ich Tourette auf dem Dorfplatz von Tourtour. Das Bergdörfchen nennt sich le village dans le ciel, im Wappen zwei Rundtürme aus Steinquadern. Das ganze Dorf ein Meisterwerk friedlichen, einfachen Lebens. Mit grossartigem Rundblick. Im einen der Brunnentürmchen finden sich Steine aus Madagaskar, Brasilien, Peru, Australien und Südafrika. Fünf Zacken die Sterne über den Turmzinnen. Als ich auf dem E-Roller den Berg hochfahre und zum Dorfplatz gleite, packt mich für die Zeit zwischen einem Augenblick und dem nächsten das kühle Grauen der Gewöhnlichkeit, bevor ein warmes Glücksgefühl aus mir strömt und sich in die Umgebung einfügt. Tourette wartet wie vereinbart auf der Parkband vor der eisernen Butterfly-Skulptur. Ein seltsam widersprüchliches Bild, im Hintergrund die funktionale Schwere der modernen Plastik, vorne die lachend winkende Musikerin, welche die ganze Intimität der Schönheit verkörpert wie darstellt, mit einer Selbstverständlichkeit der Formen und feiner Bestimmtheit ihrer Kunst. Sie ergriff meine Hände, sprach freundliche Begrüssungsworte, bot mir die Wangen zu einem Rechts-links-Küsschen und fragte nach meiner Reise. Als mir eine klimapolitische Bemerkung rausflapste, winkte sie zum gegenüberliegenden Farigoulette und rief laut und bestimmt nach Kaffee. 

Dann forderte sie mich auf, zu ihrer Rechten Platz zu nehmen, legte den Arm um meine Schultern und legte los. Auf meinen Wunsch sprachen wir Englisch miteinander, sie ist ja in Algier und Marseilles aufgewachsen, ihre Mutter ist die jüngste Tochter von Fernand Pouillon, in Algerien geboren, wie mir bald klar wurde. 

Vielleicht schaff ich das ja hier, begann sie. Ich muss von dieser Verehrung los, die mir das Elternhaus bescherte. Steine und Töne, singender Fels, die Wildheit im Stein. Diese Anbetung geht einfach nicht mehr. Das ist zu sehr im Kopf, zu wenig zentriert. Diese Manie schafft Wunder, ist aber an widerspruchslose Unterwerfung gebunden und bleibt der Dauer verhaftet. Willst Du diesem Stein gegenüber unberührt bleiben, wo ich nur hier bin, um dieses Gestein lieben zu lernen, rief das Alter Ego meines Grossvaters auf der Baustelle. Sein Stellvertreter entgegnete: Ich werde dich immer verehren und lieben. Ich akzeptiere alles, um so zu werden wie du. War das nun Einsicht in den Grundsatz des Glaubens und der Schönheit, oder wurde er in dieser Situation an sein Versprechen des Gehorsams erinnert? Kein vollwertiger Stein? Ich werde mich schliesslich gezwungen sehen, ging es im Kopf meines Grossvaters weiter, den Willen meiner engsten Vertrauten zu brechen und mich entschieden gegen eure Skepsis zu stellen! Wenn ich einmal nicht mehr da bin, werdet ihr mich um so mehr lieben. Denn ich verteidige nicht nur das Material, ich verteidige meinen Glauben an diese Blöcke. Denn ohne Glauben gibt es keine Schönheit. Da hatte er natürlich schon recht. Man befiehlt leichter ohne Erklärung, denn die Männer befolgen Entscheidungen oft lieber, wenn sie das Ende nicht absehen. Der Gehorsam ist es, der uns antreibt, verpflichtet, zur Arbeit zwingt – aus zisterziensicher Vorgesetztenperspektive. Mein Grossvater war wie der Cellerar, Kellermeister mit Macht über alles weltliche. Nach dem Prior der Dritthöchste. Auf der Baustelle ist er alleiniger Gesamtchef, Bauherr, Architekt, Ingenieur, Planer, Bauführer, Personalchef und Alleinunternehmer. Macht kein langes Gesicht wie die falschen Bussfertigen, das innere Feuer wird uns begeistern, dass wir bis an die gefährliche Grenze kommen, die uns vom Hochmut trennt, sagte er zu seinen Brüdern. Manche werden sich eigene Gedanken gemacht haben. Der funktionale Plan ist ein klösterliches Kunstideal, aber ohne Inspiration. Die Gestalt muss in aufeinanderfolgenden Visionen in mir entstehen, die sich dann in den Tiefen meines Bewusstseins festsetzen. Keine Gebetsmühle, sondern eine funktionale Anlage wollten die Brüder bauen, wie wenn man Geist und Materie, Gebäudeform und Baumaterial trennen könnte. Eine Bernhardiner Regel verlangt ein Leben ohne überflüssige Bewegungen: Wir dürfen unsere Zeit nicht vertun, sie aber auch nicht einholen wollen. Das Studengebet gab den Takt an. So waren sie natürlich nur sehr selten auf der Höhe der Zeit. Doch einmal hatten sie eine kollektive Erleuchtung.

Bonjour Monsieur, deux Noisettes pour vous, ma chère Tourette. Mit breitem Lächeln übergab die Frau aus dem Farigoulette das Tablett der brennenden Künstlerin, Abramovic und Anderson, aber jünger, ging es mir durch den Kopf, und die Wirtin fügte hinzu, dass das Haus ihr gerne auch weitere Wünsche erfülle. Tourette streckte mir das Serviergeschirr hin und ich nahm mir das tiefbraune Tässchen, das so gut in die Szenerie passte. Ich hing noch irgendwie am Vorhergesagten und hatte meine Musikfragen vergessen. 

Die Mitarbeiterführung ist nicht einfach, da gibt es neben den Mönchen noch die Gesellen und die Laienbrüder. Für sich selbst hatte er zwei Grundsätze, welche mir meine Mutter weitergegeben hat: Deine Arbeit ist dann gut genug, wenn sie auch schön ist. Und wenn sie mehr wert ist, als sie kostet. Man muss sich an diese Regel halten, aber man kann sie nicht erklären, nur vorleben. Jedermann konnte sich auf der Baustelle zur Mitarbeit melden und kein Angebot durfte ausgeschlagen werden. Nach kurzer Zeit arbeitet ein Grüppchen besonders locker und langsam, die gute Laune geht vorm wortgewandten Gesellen aus, die sich über die Konversen stellen. Der Kellermeister holt ein Geständnis bei einem nicht beteiligten Konversen ab, inklusive Einverständnis zur Prügelstrafe, was die ganze Gemeinschaft ihm willig macht. Da ist einer und nennt Gabriel als seinen Taufnamen, schuftet wochenlang lächelnd vor sich hin, lebt enthaltsam, ganz schweigend, den Blick immer zum Himmel. Das geht einem so auf die Nerven, dass Prüfung des Gehorsams angesagt ist. Wie bei den Konversen üblich, wusste man nichts über deren Vorleben. Der Kellermeister lässt ihn die demütigsten Arbeiten machen, die mühseligsten, die anforderungsreichsten. Gebete während der Arbeitszeit ab sofort verboten! Nun ist Gabriels Glück verschwunden, er wirkt in sich gekehrt und ausgebrannt. Der Cellerar richtet sich provozierend an ihn: Ich habe den Eindruck, dass Du seit einiger Zeit nicht mehr gleich glücklich bist, dass Du den Seelenfrieden zu verlieren drohst. Und ich bin der Grund. Gabriels Augen gehen suchend nach oben. Na komm schon, ich wollte nur Deinen Gehorsam prüfen. Ich weiss jetzt, dass Du in allen Aufgaben klug und geschickt handelst, sag mir jetzt, welchem Beruf Du vorher nachgingst. Ich war Priester, Doktor der Kirchenlehre, dann Bischoff. Aber als ich spürte, dass meine Seele in Gefahr geraten war, schloss ich mich der Bruderschaft in Florielle an. Verzeih mein Bruder, wenn ich durch meine Haltung Deine Neugier erregt habe. So einer sollte allein in eine Waldklause, das ist kein Teamplayer.

Wir hatten hier unten, sie zeigt gegen Südwesten, auch muslimische Klöster. Das ging nicht lange gut. Da haben sie sich geprügelt, die Sarazenen und die Kreuzritter, sie zeigt noch etwas tiefer. Das alles brodelt noch manchmal in mir. Erst die individuelle, dann die kollektive Erleuchtung!, ruft sie nach einer Pause und fährt nach einem Schluck Milchkaffee weiter.

Der Abt befiehlt dem Baumeister, die Turmspitze kleiner und niedriger zu bauen oder überhaupt wegzulassen. Ein Glockenstuhl aus Holz genügt uns! Der Abt gibt ihm zu verstehen, dass ein Bruder auf dem Bau nichts von den religionsphilosophischen Grundlagen ihres Ordens und der Glaubensregeln verstehe und macht ihm klar, dass auch von ihm Gehorsam gefordert sei. Aber die Pyramide wird von all den monotonen und fensterlosen Mauern erzwungen! Blitzt es in seiner kunstgestalterischen Logik durch den Kopf. Gott möge mir diese Begeisterung, diese Freude verzeihen! unterwirft er sich, aber nur diesem einen Schlag. Diese Gesichter drücken die Unabwendbarkeit des Sklavenlebens aus, versprachlicht sich seine Sicht. Und dann die Vision. Unser seeliger Bruder kommt in seinem Skapulier in den Himmel und sucht seine Zisterzienserbrüder. Aber er findet sie nicht und unser Bruder steht ratlos auf der Wolke und staunt über sein Hiersein. Aber seine Seele will sich mit den Brüdern vereinen, die Gemeinschaft leben. Und als er sie auch nach weiterem suchen nicht finden kann, wendet er sich weinend an die heilige Jungfrau. Sie lüpft den Rock und siehe da, da sind alle seine Brüder versammelt wie Küken, in der Mitte Bernhard, zwischen ihren Füssen. Unsere Brüder im Himmel leben die Gückseeligkeit im Paradies und sind so nahe der heiligen Jungfrau wie niemand, direkt unter dem Mantel der Gottesmutter, und wir können ihr hier unter unserem Kirchturm so nahe sein wie nirgends sonst. Wir, die wir sie mit ganzer Seele lieben, die uns auf Erden die Frau ersetzt, auf die wir ihretwillen verzichten. Schon sahen sich die Bauarbeiter unter dem heiligen Mantel, und niemand wollte die Pyramide missen, weil sie das Röckchen schauten. Die Blicke der Brüder saugten sich am Imaginierten fest, der Abt blickte etwas überrumpelt in die Runde, senkte dann den Blick und schritt gegen den Ausgang. Er zeigte sich nie mehr persönlich, aber schickte den Prior. Nun hatten sie eine Koleitung mit Zuständigkeiten für kirchliche und weltliche Belange. Die trockengebaute Pyramide wirkt etwas statisch und konstruiert, hat etwas Kleinliches. 

Nein! Ja. Ein Bautrupp ist immer eine anarchische Gemeinschaft, wie jede Gruppe. Sie anerkennt als Führer den, der am aussergewöhnlichsten ist. Sie anerkennt als Meister den, der eine Vorstellung vom freien Menschen hat. So hat mein Grossvater das Klosterbauwerk nachgestaltet. Das, was ich baue, liebe ich am meisten. Ist es dann fertig, wende ich mich ab und will es nicht mehr sehen. In meiner Kunst geht es genauso. Wir ähneln dem Bautrupp und unsere Strukturen und Regeln sind verwandt. Sie schaut auf ihr Handy und murmelt etwas entschuldigend, dass sie bald aufbrechen werde. Wir haben heute Abend einen Auftritt am Meer unten, ich fahre zu Marcel, dann steigen wir weiter bei jedem um, bis wir mit den anderen vor Ort zusammenkommen. 

Jetzt unterbreche ich sie und frage nach der Möglichkeit, teilzunehmen an ihrem Konzert. Das ist keine Musikveranstaltung, das ist ein performatives Happening. Unsere Kunst ist keine Ware und wir vermarkten sie nicht. Keine Aufnahmen, keine Reproduktion, mehr Fluxus. Ich selbst weiss nicht genau, wo wir auftreten. Alles bleibt Abenteuer. Vielleicht ein ander mal.

Mein Grossvater war nach der Vollendung seiner Arbeit in Marseille nie mehr dort, er ging nach Paris und an die Grenzen zum Hochmut, wie ihm die dortigen Machthaber zu verstehen gaben. Ich aber musste in seinen Bau schlüpfen, wie seine Bernhardiner, bevor ich selber flügge wurde. Ich heisse nicht nur Tourette, ich wohnte auch im Tourette.

Ich kannte den Bau zufällig, ich sah Bilder von der Eröffnungsfeier nach der aufwändigen Sanierung. Die Keramik-Kacheln an den Wänden der Eingangshalle, eine Ikone der Moderne! Azurblau der Grund, Himmel wie Meer, einige Kacheln weiss und andere schwarz, dazu Tupfer in mediterranem gelb und rot. Konkrete Poesie keramischer Pixel! 

Funktionalität und billiger Kitsch, wies sie meine schwärmenden Gedanken zurecht. Nachdem mein Grossvater in den späten Kriegsjahren Mitglied der Kommunisten geworden war, bebaute er das Nordufer des vieux port mit billigen Wohnsiedlungen, die durchaus ihren magrebinischen Charme haben, aber den Turm hat er gegen seine Überzeugung als Stahlbetonskelett hochgezogen. Die Deutschen haben die Sprengung des alten Quartiers angeordnet, meinem Vater oblag die Aufgabe, den Faden der Tradition wieder aufzunehmen und die Gemeinschaft neu zu ordnen, er war dem Kollektiv verpflichtet, nicht wie Corbusier der individuellen Autonomie. In Paris bekam er Schwierigkeiten, weil er seine Funktionen als Bauherr, Architekt und Generalunternehmer nicht nach geltenden Absprachen und Gesetzen ordnete; er wurde trotz dem Protest seiner vielen Freunde inhaftiert. Nun hatte er Zeit, mit seinem Buch über den Cellerar von Thoronet zu beginnen, bevor er dank seinem Bruder flüchten konnte uns sich nach Algier absetzte. Schliesslich wollte er doch wieder in Paris weiterbauen und stellte sich der französischen Justiz, die ihn nun der alten Vorwürfe freisprach, aber seine Flucht mit erneuter Inhaftierung quittierte, welche allerdings zu kurz war, um den zweiten Teil des Buches schön werden zu lassen. Ich war noch ganz klein, als ihn Mitterand zum Offizier der Ehrenlegion ernannte, das Herz des Südens fand nun Ruhe.

Sie küsste mich zum Abschied auf die Stirn, wünschte mir eine gute Reise und drückte mir die Daunen für einen schönen Text, rief in Richtung Wirtshaus ihr Adieu und verschwand Richtung Dorfausgang.

Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich eine unerlaubte Tonaufnahme gemacht habe. Ich werde sie geheimhalten und auch nicht um Authorisierung nachfragen. Ich lösche das file, wir sind in Lyon. Ja, ich muss meine musikkritische Textkonserve in den Mittelpunkt stellen und mich auf die Beschreibung unserer Begegnung beschränken. 

Wer bin ich

Ich binz. 

Das bin ich, ein Es. Ich bin ein Erstes und ein Drittes. Auch ein Fünftes und ein Siebtes, dann das Elfte. Ein Zahlen-Es, ohne die Primzahl 2, eine Nichtdualität. Ein identitäres Haiku. Das einzige was mich hier hält ist, dass es keinen Ausweg gibt. 

Ich bin damit beschäftigt, zu überlegen, was in meinem Hirn vorgeht. Manchmal beschäftigt mich auch die Physis. Ich denke, was gedacht werden muss. Was der Wille als sein Ding objektiviert oder der Geist sich vorknöpft.

Prämisse ungültig. Bisher ereignete sich alles stets woanders. Unsere Ergebnisse untermauern die Annahme, dass das Ich ein reales Phänomen ist. Ich spüre die Abenteuerlichkeit, die in den geistigen Räumen herrscht. Das Ich spielt stets ein wenig Theater und konterkariert damit alle Vorstellungen einer unverrückbaren Identität. Dä Fiirabigkari und dä Schachersepp under em Himmel vo Tsüri. Wenn Wünsche wirken, dann tun sie dies, weil sie selbst als Hirnzustände realisiert sind. Alles ist gut gesichert, aber flüchtig.

Wir unscheinbaren Wesen müssen uns in einer höheren Person aus der Zeit in die Dauer retten. In Jedem ist Jeder und Jedes, in Allem ist Alles. Alles und unwiderruflich, sonst ist es sinnlos. Gesteuert durch das Belohnungszentrum droht mir eine Endlosschlaufe statt der Ewigkeit. Aber ewige Wiederkunft ist ihm zu langweilig. Einer wie Er befindet sich immer zuvorderst, ins Ungewisse gerichtet. Mentales Eigenblutdoping.

Er sagte in seinem Tractatus logico-philosophicus “Ich bin meine Welt”. Des Anderen Mantra “Ich bin nicht Stiller”. Der nachgelassene Geiger, der seinen Vater später König hiess, mit dem Zusatz “im Exil”: Der einzige verbliebene Platz für ein Miteinander, das sich lohnte, war die Welt, wie der Vater sie wahrnahm.” Er glaubte zwar nicht an Gott, aber er lag so da, als hadere er mit Gott. Beim Schreiben sagte er: „Ich habe mich sozusagen verloren“. Schertenleibs Er verspricht ihr, Ihr Ich zu erlösen, wenn es nicht mehr geht. 

Er lebte in natürlicher Sicherheit der Gegenwart und trieb im immersiven Erzählstrom der Ewigkeit. Der Geist ist in der Zeit und weiss, dass in der Zeit sein sich zeitlos anfühlt, blosse kognitionslogische Physiologie. Die Vergangenheit und das Frischgedächtnis beste Freunde. Schuldgefühle und Selbstreflexion nehmen im weiteren Verlauf ab. Die Instinktintelligenz nimmt zu und verfeinert sich.

Das Bettuch fühlt sich nass an, raus hier. Er geht barfuss über den Teppich, ein hässlicher Teppich, Er hat daheim auch einen Blumenteppich, aber in schön. An der Wand viele Bücher, Geschichten noch und noch, alles Mögliche eben. Verwirrendes geträumt. Ein lebendiges Durcheinander, schöpferisch und vergänglich. Heimat ist kein Ort, es ist Erinnerung, Büchertücher.

Er knöpft das Hemd zu. Was hat er da überhaupt an? Ähnelt dem Schlafanzug. Wird doch gut gehen. Er öffnet die Zimmertür. Jetzt hört er Gesang. Von hinter der dritten Türe kommt der her. Er tritt ein: Ein Wohnzimmer. Als sei er schon mal hier gewesen. Der Fernseher singt. Ein Sofa unter einen hellen Decke, als wäre ihm kalt. Leben als. Ist das meine Tracht?

Das Geheimnis der blauen Blume. Abends, wenn die Sonne bereits tief stand, war die Mosterei am schönsten. In der grellen Sonne des Vormittags war das Gebäude militärische Sperrzone, Fabrik, voller eingefangener und dann kasernierter gefleckter Äpfel in gestapelten Harassen. Zogen sich dann aber die ungeheuren Maschinen zurück, wurde der Ort zum Schloss, wo der Apfelsaft bis zum Überfliessen quöllte, randvoll gefüllte Korbflaschen von riesigen Ausmassen, unten ein dünnes und kurzes Stück roter Schlauch, mit einer Metallklammer abgeklemmt, wie man das später an Infusionsgestellen oder Urinsäcken kennen lernt.

Manche Menschen erleben das Schicksal, in der Mitte ihres Lebens gleichsam umzukehren, zurückzukehren. Denken, Fühlen, Verhalten, alles nähert sich langsam wieder dem Ursprung, dem Kind, dann dem Kleinkind, dem Säugling. Eine grossartige Symmetrie des wundersam Banalen, der basalen Biologie, der Verwicklung und Abwicklung, alle Puzzleteile einzeln und sorgfältig aus dem ehemaligen Bild lösend, zurück in die Verpackung des Uterus. Das Ich verschwimmt langsam, wie sich der Tuschetropfen in der Badewanne auflöst. Solche Menschen sterben, wie sie geboren wurden, nur umgekehrt, ein letztes Luftholen. Wird er sich am Ende selbst objektivieren?

Ist Erinnerung auch eine Frage des Willens oder des Glaubens? Wahrscheinlich schon. Aber ich bin zu faul dazu. Er jedenfalls weiss, das seine ersten Erinnerungen fremde sind. Vater, Mutter, alle haben auf ihn eingeredet, dass er sich erinnern könnte, wenn er denn wollte. Meine Erinnerungen sind Ideen, die sich irgendwie aus der Wirklichkeit gelöst haben, wie die kleinsten Partikel meiner selbst, die sich im Nichts der Umgebung verirren. Ideen, die sich wie eine Blase aus dem wirklichen Moment gelöst haben und dann in mein Hirn diffundierten. Es sind fast ausnahmslos Verzauberungen der Aussenwelt. Ich kann nur mich sein, wenn ich draussen bin, nur das gibt einen Sinn als Ganzes. Behausungen sind mir grundsätzlich zu wider, suspekt, da lauert Arbeit, Mühsal, künstliche Wiederholung. Ausser natürlich, bei Schlechtwetter, die Küche, warm, dampfend, wohlriechend, voll Müttern und Mamas. Die verzauberte Aussenwelt auf dem Feuer, verbunden und vermengt. Der Küchenstuhl im Terrassenzimmer hat den gleichen weissen Anstrich wie das kastenartige Kinderbett, in dem ich immer mit dem ersten Tageslicht erwachte und mit einer kleinen Kette, mit der man das Taschenmesser an der Hose befestigt, die Gitterstäbe ansägte, bis mich Mutter aufnahm und vor die Türe stellte. 

Da standen im Sommer, wenn die Tage lang waren und die Sonne nicht genug von uns bekommen konnte, Waschzuber bereit, gefüllt mit Wasser, das am Nachmittag so warm geworden war, dass ich mich da mit dem Nachbarmädchen vergnügen konnte. Und draussen an der Mauer, in einem bäuerlichen Bergweiler, waren die Löcher, in die man Pfosten stellen konnte, noch gefüllt mit verblitztem Gewitterwasser, so dass ich selbst kochen wollte, eine himmlische Mischung mit teuflischen Zusätzen, Blütenblätter, grünes Gras zur Sättigung, zerriebene Käferbeine, sich windende Wurmteile, zermantschte Köpfe von Gänseblümchen, auch einige Donnerkiesel und etwas Staub. Daraus stieg die Sehnsucht der Berge, das weisse Licht, die Andeutung von Gerüchen, die asketische Kahlheit der Gedanken, die erahnte Kühle des ewigen Schnees, das leise Flirren der heissen Luft, das Prickeln des Sonnenbrandes, ein Vorbote der Schneeblindheit. Athletische Klarheit.

Die Wartauer Gegenreformation

Wir lesen heimatliche Urkundensprache ihrer Zeit, die Schrift gesetzt in der Schwabacher Fraktur, den Judenlettern. Mann schrieb das Jahr 1542, als an Mittfasten in der St. Martinskirche zu Gretschins über den Glauben gemehret wurde. Von Sargans waren dabei die Schultheissen. Das Mannsvolk einer ganzen Gmeind Wartauw sass unter selbem Dach versammelt: Gretschinser, Schaner, Malanser, Funtenaser, Murriser und Atzmaser. Auch etliche Mannen vom Hohlenweg und Trüebenbach fehlten nicht. Das gab ein hartes Gedränge. Hinter den gestossen vollen Zugbänken im Gang bei der Tür standen erst noch Rücken an Rücken die gefreiten Walser von Matug und Belfries und mussten staunen über das grosse Gevölk.

Dieweil sie solches erschauten, hub der Priester von Ragaz zu sprechen an und als er die Red beendet, ward alsbald gemehret. Und es wurden beider Religionen Zugewandte abgezählt und befunden auf Evangelischerseits 332; deren aber, so die Mäss begehrten 22. Da hat der Pfaff ab der Kanzel geschrieen: Verloren seid ihr! Die gefreiten Walser sollen sich zu selbiger Stund deshalb wieder zur römischen Religion geschlagen haben, weil ihre Weiber, so sie geheuratet, römischen Glaubens waren. Zu Wartauw hätten sie keine Mädels zu Frauen bekommen, da es diesen in ihrer höchen Wildnis zu rauh war.

Der Kaplan und der Amman von Funtenas hatten schon etliche Jahr vordem zu Wartauw neben Hans von Hewen, dem ehemaligen Priester und dem ersten evangelischen Prädikanten zu Gretschins, mannhaft getan für die Ausbreitung der reinen, uralten evangelischen Lehr. Anno 1578 verstarb der Letzte, so zu Wartauw die Mess begehrte und es gab in der Gmeind der Römischen keinen mehr. Solches geschah nicht einmal fünfzig Jahr nach der Kappeler Schlacht, allwo man einem Meister Zwingli die eisern Sturmhauben zerschmettert.

Als der Meister damals den evangelischen Taufstreit zu schmälern und schlichten suchte, schloss man zu Warthauw alle Kapellen und zog die Stiftungen ein. St. Martin sollte alleinige Pfarrkirche sein und über alle Mittel verfügen, nachdem kaum drei Jahrzehnt zuvor der Streit zwischen dem Pfleger der Pfarrkirche und den drei Kapellpflegern durch den eidgenössischen Vogt im Sarganserschloss entschieden werden musste. Besonders die Atzmaser, die am weitesten weg von der Hauptkirche wohnten, begehrten Kerzen für ihre Andachten zu Ehren der Toten in der St. Nikolauskapelle. Gretschins musste darauf pro Leiche eine Kerze liefern. 

Noch oftmals wünschten die Evangelischen dieser Dorfschaft die Öffnung der Kapelle zu Religionsunterricht und Abend-Gebätten bei schlechtem Wetter, aber ihr Begehr blieb unerhört. Es waren eben andere im Land Herr und Meister. Zweifach war das Völklein geknechtet und begehrte nicht nur Lösung von der kirchlichen Obrigkeit, sondern auch die Abschaffung der Leibeigenschaft. In diesen Dingen aber waren alle Machthaber einer Meinung.

Nach der Niederlage Berns und Zürichs im zweiten Kappeler Krieg schrieb der Zweite Landfrieden den konfessionellen Status quo fest, aber – den Stimmenverhältnissen in der Tagsatzung entsprechend – benachteiligte in den Gemeinen Herrschaften die Reformierten: Zwar durften die Evangelischen ihren Glauben weiter ausüben, aber es durften keine neuen Gemeinden entstehen. Umgekehrt sollten herkömmliche oder neu entstandene katholische Minderheiten das Recht auf eigenen Kult beanspruchen können. 

Die römischen Priester in der Landvogtei dieweil lebten in neuem Stile, auch gerne mit Konkubinen, so dass die alten Orte und der Churer Bischoff ein Kloster stiften mussten, von dem aus die Festigung im alten Glauben kommen würde.

Es gab dann auf Palfris eine einzige Haushaltung, die während der Pest­zeit durch Heirat zum alten Glauben übergetreten war. Da der Schwyzer Landvogt Joseph Anton Reding auf dem Schloss Sargans noch drei weitere Familien zum Abfall vom reformierten Glauben überreden konnte, verfügte er kategorisch, dass in der Kirche zu Gretschins wieder die katholische Messe gelesen werde. Das eigenmächtige Vorgehen des Landvogts warf nicht nur in Wartau hohe Wellen; es wurde in jener Zeit zum Hauptgespräch an der Tagsatzung.

Nach der Wiedereinführung der katholischen Messe für die vier Seelen, gehalten durch Kapuziner aus dem neugegründeten Kloster in Mels, gab es Krach und Handgreiflichkeiten, weil die Kapuzenmänner ihren Gottesdienst überzogen und die evangelische Mehrheit vor ihrem Gotteshaus warten sollte. Der Stand Zürich verlangte darauf an der Tagsatzung zu Zug, die römische Messe in Wartau abzustellen; Reding aber hiess die Messe weiterhin am Sonntag genug früh zu halten. Zürich wollte das nur hinnehmen, wenn denn die Wartauer die Nikolauskapelle renovieren und dort evangelischen Gottesdienst halten könnten. Die fünft alten Orte wollten dies nicht zugestehen, man rüstete sich auf beiden Seiten zum Krieg. 

Die Rösslerin hat wiederholt böse Unwetter über die Weinreben geschickt. In ihrem Zinnteller hat sie Kieselsteine stark durcheinander gerührt und so Blitz und Donner heraufbeschworen. Je mehr Kieselsteine sie genommen hat, desto stärker ist das Gewitter geworden. Dafür fand die Rösslerin ihr Ende im Hexenturm. Am 22. August 1695 wurde in dem damals von einem schwyzerischen Landvogt regierten Uznach die Hexe verbrannt, wobei viel Volk zuschaute. Sie hat auch verjahen, dass sie ein Mal bei dem Bösen in einem Wald und zwei Mal allweg auf freier Heide gewesen sei und da seines Willens mit ihm gepflogen hat. Auf dem Heimweg vermeinten nun einige dieser Zuschauer, auf dem Felde bei Ermenswil und Eschenbach unter einer riesigen Staubwolke eine ganze Armee Soldaten zu sehen, und sie befürchteten sogleich einen zürcherischen Überfall. In Wirklichkeit war es eine Herde Schafe, welche von einem Zürcher Metzgerknecht nach Hause getrieben wurde. Indessen liess der Pfarrer von Eschenbach auf die alarmierende Meldung hin die Sturmglocken läuten und Bericht nach Uznach erstatten. Drei Stunden später standen 300 Mann in Waffen bereit. Als der Kommandant der Grafschaft Uznach schließlich erkannte, daß das Ganze ein blindes Lärmen sei, entliess er zwar sofort die Bewaffneten und sandte auch ein Entschuldigungsschreiben an den Zürcher Amtmann in Rüti. Inzwischen waren aber bereits einige Grüninger Amtsleute, die sich gerade in Uznach aufhielten, gefangengesetzt und mit Schlägen und groben Worten übel traktiert worden. Gleich dem Vieh sind sie durch die Gassen in den Turm getrieben worden, wo zuvor die Hexen waren. Erst nach der Rückkehr des schwyzerischen Landvogts wurden die Grüninger freigelassen. Wohl hiess er sie persönlich mit freundlichen Worten und Darreichung der Hand willkommen, gab auch seinem Bedauern über die Misshandlung Ausdruck und liess ihnen Wein, Brot und Käse ohne Bezahlung zur Gnüge auftischen, versah sie schließlich noch mit einem eigenhändig geschriebenen Pass zur ungehinderten Rückkehr; doch es erforderte umständliche Korrespondenzen, bis für die Geschädigten ein Schmerzensgeld erwirkt und der Uznacher Hexenkrieg zu guter Letzt mit einer splendiden Belohnung für den Landvogt und für die Landvögtin – zur Discretion – endgültig beigelegt war.

Pfarrer Tschudi meldete von Wartau nach Zürich, dass der eine römisch gewordene Palfrieser vom Landvogt Reding die für den Übertritt versprochenen 300 Gulden verlangt, aber nicht erhalten hätten. Eine Woche später erschienen die Abtrünnigen wieder zum evangelischen Gottesdient in Gretschins. Die Tagsatzung in Baden beschloss so, dass die einzig katholisch verbliebene Familie von Palfries nach Sargans zur Messe könne, sintemal auch der Weg eine halbe Stunde weniger weit sei. Zu Wartau soll wieder alles beim Alten bleiben. 

Von den elf verbürgten walserischen Haushaltungen anno 1503 – zwei im Hinter­ und zwei im Vorderpalfris, sechs am Walserberg und eine auf Matug – existierten 1639 noch deren fünf (Stammvater Klemenz zog kurz davor von Weisstannen über Mels auf den Walserberg) und 1778 noch drei am Berg – in der kleinen Eiszeit sind sie talwärts gezogen und haben sich in die Bürgergemeinde eingekauft. Die letzten freien Walser – die katholischen Nachkommen von vier Schlegeln und eines verstorbenen Schumachers in Palfris – er­hielten nach dem Sieg der Föderalisten durch die Kantonsgründung 1803 zwar das kantonale Bürger­recht, nicht aber dasjenige der Gemeinde Wartau. Als Heimatlose wur­den sie erst 1827 auf Druck der Regierung ins Ortsbürgerrecht aufgenommen und verloren eine weitere hoheitliche Freiheyt. 

Dorther komme ich

Er rief die Wissenschaft in den Zeugenstand: Die Theorie des Urknalls inklusive Datierung war für Papst Pius XII. bestätigender Beweis, dass das Universum durch einen Schöpfergott hervorging. Heringe furzen, die Blasen aus ihrem After erzeugen Frequenzen im Ultraschallbereich. Die Nahrungsaufnahme des Myllokunmingia, das erste fischartige Wirbeltier, war aktiv: Eine Halsmuskulatur musste her, um Beute zu verschlucken. Die Pumpröhre wurde zu einem Herz mit seinen Kammern und einer gesteuerten Rhythmik. Fossile Funde nahe Zürichs Partnerstadt Kunming, fünfhundert Millionen Jahre alt. Die Grünalgen gingen an Land und wurden Moos.

Erste Würmer fressen lieber Mikroben. Werden der Würmer zu viele, fallen sie übereinander her. Motorneuronen steuern das sensomotorische Programm zum Paarungsverhalten von Fadenwürmern: Partnersuche, Kontakt, Umkehrwenden, Tasten nach der Vulva, Eindringen des Begattungsorgans, Spermatransfer. Der Botenstoff, der den Ablauf der Sequenz vorgibt, ist ein Neuropeptid und entspricht unserem Neurotransmitter Oxytocin. In unserer Brust leben anderthalb Milliarden Bakterien.

Der letzte universale gemeinsame Vorfahre, englisch kurz Luca, war Einzeller mit ATP-getriebenem Stoffwechsel und einer DNA von einigen hundert Genen. Davon trägt heute jegliches Leben eine merkwürdige Sequenz: GTGCCAGCAGCCGCGGTAATTCCAGCTCCAATAGCGTAATATTAAAGTTGCTGCAGTTAAAAAG. Vor dreieinhalb Milliarden Jahren blitzt, was heute GT-Fahrer, GC-Nazis, AG-Weisssocken, TATA-Fahrer, Triple-A-Experten sind.

Das erste Leben kommt nicht aus einem besonnten Süsswasser-Tümpel oder feuchten Vulkankratern. Im ersten Evolutionsschritt des Lebens bilden sich in den Poren der weissen, auf den Meeresalpen wachsenden Schlote aus der dort abgelagerten Materie Enzyme, welche Reaktionen von Wasserstoff und Kohlendioxyd hervorrufen (Elektronenwanderung, Redox-Reaktion). Dazwischen röhrenartige schwarze Schlote, welche heissen Dampf und brennende Gase ausspeien, direkt aus den Magmakammern im Erdinnern. Voraussetzung war, dass das häufigste Mineral Olivin Wasserstoff band und zu Terpentin wurde, dem Schlangengestein. Der erste weisse Raucher wurde auf dem Atlantis-Massiv um die Jahrtausendwende entdeckt und die amerikanischen Forscher erinnerte das an eine versunkene Industrielandschaft, darum benannten sie die atlantischen Thermalbäder als Geburtsstätte des irdischen Lebens lost city statt Earth Abiogenese Center. Einfache organische Moleküle kommen im All häufig vor. Leben entsteht überall. 

Die Vorfahren des heutigen Menschen separierten sich von den Schimpansen und Bonobos vor sechs Millionen Jahren. Der aufrechte Gang ging der Vergrösserung des Gehirns eine Million Jahre voraus. Das Gehirnvolumen hatte sich vor zwei Millionen Jahren verdoppelt. Damit differenzierte sich die Basis-Emotion Angst in Ekel, Zorn, Freude und Traurigkeit. Gehirn wie Knochenmark sind die energiehaltigste Nahrung. In der Wonderwerk-Höhle am südlichen Kap Afrikas finden sich die ersten Nachweise für den kontrollierten Gebrauch des Feuers, vor einer Million Jahre.

Kannibalismus war wohl über Hunderttausende Jahre hinweg regulärer Teil der Subsistenzwirtschaft des Homo antecessor. Unsere heutige genetische Diversity zwischen 0,1 und 0,15% ist insgesamt geringer als jene der Schimpansen oder Fruchtfliegen. Wir haben aufgehört, morphologisch zu evolvieren, mit einer Ausnahme: Unsere Schädel samt Gehirn sind durchschnittlich 10% kleiner geworden als noch vor 10’000 Jahren. Und unsere Gesichtszüge sind infantiler geworden – ein Effekt, der auch bei domestizierten Tieren zu beobachten ist. myheritage

Spätestens vor einer halben Million Jahren entstand die hominide Sprache, evolutionslogisch um besser zu kooperieren. Da bereits Grünmeerkatzen eigene Alarmrufe für Leoparden, Adler oder Pythons haben, lässt sich vermuten, dass unter den ersten Hominidenworten Namen häufig waren. Mama ist ein starker Kandidat, das ‚m‘ wird in allen Sprachen gebildet. Die sprachliche Grundstruktur entstand als Syntax von Subjekt-Objekt-Verb. Laborversuche haben gezeigt, dass Lautmalereien das von ihnen Bezeichnete zu 35% identifizierbar machen. Sprache ist Selbstreferenz: 90% des Lexikons werden durch die anderen 10% definiert, welche meist aus der Sensomotorik stammen. Bewusstsein ist nach Christoph Koch „das, was sich wie etwas anfühlt“, Sinneseindruck und Körpererfahrung.

Der homo sapiens entstand gemäss genetischer Datierung vor etwa 340’000 Jahren. Das Kopfhaar hörte danach nicht mehr auf zu wachsen. Die ersten Hippies beim ostafrikanischen Graben vertrugen die Klimaschwankungen schlecht und wurden im zweiten vorzeitlichen Jahrhunderttausend von gut 10’000 auf 1’000 dezimiert. Eine asiatische homo erectus-Population, der Denisova-Mensch in Sibirien und die Neandertaler in Europa, bekamen ab dem Jahr 100’000 Besuch von den Sapienten, zuerst die in Indien. Vor 60’000 Jahren gelangte unsereins nach Australien. Seit dem Besuch trugen die Neandertaler einige sapiens-Gene. Vor 44’000 Jahren liess sich der sapiens in Europa nieder, liess nun ab von den Neandertalern. Diese guckten vor 28’000 Jahren von Gibraltar sehnsüchtig nach Afrika und starben aus. Der sapiens war damit beschäftigt, aus Wölfen Jagdhunde zu machen. Daheim in Afrika hatte er das schon geschafft. Er trägt Neandertaler-Gene in sich: Gensteuerung für weisse Haut, glattes Haar, rötliche Haartönungen und Sommersprossen. Als Primarschüler wollte ich mir diese Jauchespritzer wegmachen, mit einer biologischen Zitronencrème. Bereits zu Neandertaler-Zeiten hatte der sapiens begonnen, zu gravieren und zu zeichnen, erst mal eine Vulva und einen Phallus, samt in Ocker gehaltener Tierfigur, dann die Bilder in der Chauvet-Höhle. Die Kombination von Symbolzeichen II Λ III X II taucht öfter auf. Reichlich später geschieht mit den Vinča-Zeichen die erste Schrift, in Südosteuropa zwischen der Ukraine und Griechenland, etwa 1000 Jahre vor der numerischen Keilschrift. Nur der Mensch und sein nächster Verwandter, der Schimpanse, weisen eine Neigung zu gemeinsam verübten Aggressionen gegenüber Artgenossen auf. Der Wagen mit Rädern wurde dann bekanntlich zeitgleich verschiedenerorts erfunden.

Einwanderungen aus dem mittleren Osten brachten vor 7’000 Jahren in der schwäbische Alb den ansässigen Jägern und Sammlern wieder neue Gene: Durch die Bauern aus Anatolien und Nordsyrien wurde in Europa die schwarze Hautfarbe erneut dominant. Sie brachten auch Ackerbau und Käseherstellung. Vor 4’500 Jahren kamen dann nomadische Viehhirten aus den Steppen nördlich des Schwarzen und des Kaspischen Meeres, Menschen der Jamnaya-Kultur, brachten Pferde mit und die weisse Haut zurück, ferner auch Laktosetoleranz. 

Der Rest: Polypoem kommt aus dem griechischen Mythos ins Wallis. Kelten und Alemannen mischen sich im Mittelland und auf der voralpinen Plattform. Die Römer übernehmen den Lindenhof und benannten den Ort Turicum, was nach der hochdeutschen Lautverschiebung, dem i-Umlaut und apokopischer Verkürzung Zürich wird. Rom ist feminin und Paris ein Mann in den Zwanzigern, verliebt in eine ältere Frau. Woher? Väterlicherseits Seeztal, oben bei den Weisstannen, beim Batöni. Seitens Mutter aus unteren Emmental, Bichselberg. Aussersihl!

त्रिमूर्ति Dreiheit

Er hat die ganze Stirn mit Asche eingerieben, das ist ausdrucksstärker, wenn auch weniger ansehnlich als ein oder drei waagrechte Striche. Fahles weiss, um die Vernichtungskraft wie das Unzerstörbare auf sich zu tragen. Ein Memento mori wie auch Zeichen der göttlichen Seele. Tempelbesuche sind seine Leidenschaft, dafür vergisst er auch mal einen Fahrgast. Das Fenster auf der Fahrerseite ist immer offen, der Fahrtwind schmeichelt dem Berufsstolz. Von weitem schon sieht man den Arulmigu Subramanya Swami Temple in Maruthamalai, auf dem ersten Hügel der Westghats. Am Fusse der grünen Erhebung eine staubige Budenstadt, Erfrischungsgetränke, Knabbereien, Früchte, Helgen und Modeschmuck vor rötlichem Ocker. Er lässt das Fenster auf der Beifahrerseite runter, um dem Uniformierten an der Schranke einen Geldschein zuzustrecken. Am Strassenrand vereinzelt sonnengegerbte Männer in schmutzigen Lunghi, einfachen Hüfttüchern, in der Hand eine Sichel, mit der sie gelegentlich irgend ein Kraut vom Blütenteil befreien oder im Boden kratzen. Auf dem Parkplatz ein Schwarm rosa uniformierter Studentinnen, schwatzend und kichernd, die Hände zum Tempel gestreckt. Im Schatten eines Banyan ein dunkler Jüngling mit schneeweissem Lächeln, auf seinem schwarzen T-Shirt steht I chill harder then you party. Unter den Luftwurzeln sitzt eine schmatzende Familie. Er geht die Treppen hoch, schreitet rasch in die Höhe, durch den Torbogen in den Tempelhof. Absperrstangen lotsen ihn im Zickzack zum Ende der Menschenschlange. Nun geht es langsam, vorbei am Wachmann mit grimmigen Augen und schussbereitem Gewehr. Die Köpfe recken sich, um einen Blick auf das sanctum sanctuorum in der kleinen Höhle zu werfen. Der Priester dreht sich weg und geht ins Innerste, ein Glöcklein wird wild geklingelt, der Messingteller mit der Öllampe umrundet Muruga dreimal, gegen den Uhrzeiger. Muruga ist der Gott der Hügel und des Honigs und hilft auch solchen, die sich die Fertilitätsklinik nicht leisten können. Der Priester wendet sich wieder zur den Gläubigen, die langsam an ihm vorbeischreiten, mit beiden Händen die Wärme des göttlichen Lichts sich über den Kopf giessen und eine kleine Handvoll geweihter Asche entgegennehmen. Nochmals ein Kopfrecken nach rechts, dann links durch den Ausgang. Eine Schlange kommt jede Nacht in die Höhle, um sich die Nahrung zu holen, die dort geopfert wird. 

Ich hatte noch nie von Adiyogi gehört. Wir parken in der Nähe des über 30 Meter hohen Brustbildes. Adiyogi ist Shiva, der vor 15’000 Jahren, vor aller Religion, seinen sieben Saptarishis Yoga lehrte. Bei der Einweihung vor fünf Jahren sprach der indische Premier Modi und verband das Monument mit der Tourismus-Kampagne Incredible !ndia (Protest: #4aCredibleIndia). Die UNESCO anerkannte Yoga als Immaterielles Weltkulturerbe. Das Guiness book verzeichnet die Büste wegen ihrer Rekordhöhe. Shiva, einer der Hauptgöttern der Hindu-Trinität Trimurti, wird auch formlos gedacht und anikonisch als Linga dargestellt. Sadguru verehrt im Linga das Ellipsoid als Urform aller Universen und jeder Schöpfung. Du kannst die Erleuchtung nicht suchen, das ist wie ein Hund, der seinem eigenen Schwanz nachjagt. Du kannst nur eines tun: Sei loyal zu deiner einen Qualität. Mantras dämmern aus der Box. Ein bärtiger Zeremonienmeister hantiert mit Räucherstäbchen, Pulver, Wasser und dem obligaten Öllämpchen. In der Ecke eine blasse Frau, die rechte Hand vor dem Gesicht, den Ringfinger an der Nasenwurzel, in angestrengter Verzückung schaukelnd. Wir umkreisen das Zeremoniell und erhalten etwas Wasser, das ich mir ins Gesicht klatsche. In Adiyogis rückseitiger Haarpracht eine Tür, hinter der sich das Geheimnis verbirgt oder Putzzeugs. Über dem Ashram-Eingangstor eine gewaltige Kobra mit gespreiztem Nackenschild. Wir müssen die Schlarpen und unsere Smartphones hinterlegen. Ein grosses gedecktes Wasserbecken, in dem zwei Gurus Siesta puddeln. Ein schlaksiger Rotschopf treibt die Besucher auf der anderen Seite des Handlaufs die Treppe hoch, mit stummen, energischen Gesten. Vor dem Dhyanalinga weisshäutige Volontärinnen in wallenden Gewändern, welche ebenso stumm die Gäste einweisen und mit einem Schild absolute Ruhe heischen, bis das Glöcklein die Session beenden wird. Sukhasanas rund um das Heiligtum, der schwarze Linga aufgerichtet in der tropfenförmigen Yoni. Ich versuche, anikonisch zu blicken. 

Sie huschen zum Allerheiligsten des Sabarimala Tempels, der Statue von Lord Ayyappa, eskortiert von unauffällig uniformierten Polizeikräften. Die zwei Frauen tragen schwarze Umhänge und Kopfschleier, die UrbanNaxals schwarze Kleidung und Bandanas. Ayyappa lebte zölibatär. Seine Anhänger meinen, Frauenbesuch könnte den Gott versuchen. Ayyappa ist bei zwei männlichen Göttervätern aufgewachsen und besiegte einen bisher unbezwingbaren weiblichen Dämon. Der Dämon verwandelte sich in eine weibliche Schönheit, die sich in ihn verliebte und sich vermählen wollte, was Ayyappa aber mit dem Hinweis von sich wies, dass er im Wald leben müsse und die Gebete seiner Anhänger bearbeiten. Auf ihr Drängen versprach er, sich mit ihr zu vereinen, wenn der Strom der Gläubigen versiegen werde. Der Strom fließt noch immer. Sie wartet noch immer, in einem Tempel unterhalb. Frauen besuchen auch ihren Tempel nicht, weil das diese unbefleckte Götterliebe stören könnte. Die Tempel sind mitten im Tiger-Reservat, doch der schöne weisse Tiger zeigt sich ungern. Kerala wird seit gut zwei Jahren wieder durch eine Linkskoalition regiert, angeführt von der Kommunistischen Partei / Marxisten. Die Vorgängerregierung hatte das traditionelle Verbot für gebährfähige Frauen (im menstruierenden Alter, erwidern Aktivistinnen) unterstützt, ebenso das Gericht von Kerala. Den Briten war das damals egal gewesen. Parasumara, sechster Avatar von Vishnu, eroberte das Gottesland und suchte im Norden Tempelhüter. Er fand zwei Brüder, welche er zur Prüfung einen Fluss überqueren hiess. Der eine ging über das Wasser, der andere stoppte den Fluss und lief über den Sand. Thazhamon ist Malayalam (Palindrom 🙂 für letztere Methode. Thazhamon heisst die Familie, die seit über hundert Jahren den Hohepriester stellt. Nun hat der Oberste Gerichtshof das Urteil auf den Kopf gestellt. Die bisherige Regelung sei religiöses Patriarchat, es gehe nicht an, die Last des männlichen Zölibates den Frauen aufzubürden. Nur die einzige Frau im Gericht sah dies anders: Fragen religiöses Praxis sollten durch die Religionsgemeinschaften geregelt werden, juristische Rationalität würde Glaubensfragen nicht gerecht. Die Frauenbewegung jubelte und bildete eine riesige Menschenkette durch Kerala. Die Hindunationalisten riefen Protesttage aus und Streiks. Eine Polizistin wurde verletzt, hunderte Demonstranten verhaftet, ein Toter. In Kotchin wurde eine gigantische Yoni aus roten und pinken Stoffen aufgebaut, an Stelle des Linga eine Musikerin. Besucherinnen haben sich rote Farbe zwischen die Hosenbeine ihrer Shorts gegossen.

Der Sandmann

Durch den Sandstaub in der Luft erschien der Nachthimmel gelblich fahl, der Mond gestaltlos. Jumpei starrte nach oben, doch statt Orientierung zu spenden schienen die Sterne seine Gedanken zu verklumpen. Die Dünen wurden zum sandigen Ozean, er konnte den Wellengang hören, einzelne Brecher. Um die Lichter des Dorfes wieder zu finden, welche den Fluchtweg weisen sollten, musste er auf die höchste Düne steigen. Das Nur-weg-hier, das ihn bisher angetrieben hatte, verengte sich zum Jetzt-hoch-hier. Er schien den Rhythmus gefunden zu haben, er stapfte mit dem linken Fuss beim Einatmen, mit dem rechten, wenn er die Luft ausstiess und dabei versuchte, die Sandkörner auf seiner Lippe wegzupusten. Das Herz unterlegte den Stepper im Achteltakt. Von oben rutschte stetig Sand nach, wie in seinem Lehrberuf schien er an Ort zu treten. Hinter der Stirn hämmerte es, als würden Sandkörner zu Staub geklopft. Ein paar Liter würden genügen, um mit einer Sanduhr ein ganzes Menschenleben zu bemessen, wenn jede Sekunde ein Sandkorn durch die Enge schlüpft. Unten ein tellergrosser Haufen, schön gekegelt, genau mit 30 Grad Schüttneigung. Hier galten keine theoretischen Bedingungen, die klebrige Feuchtigkeit schuf hier Steilwände.

Wenn seine Füsse im Sand endlich festen Stand fanden, war ihm, als berührte ihn die Frau mit ihrem Hintern. Sie kniete plötzlich vor ihm, er stand auf ihren Hüften. Für einen Moment fühlte er sich stark wie ein Wagenlenker. Vielleicht deckte sie seine Flucht bis zum Morgengrauen. Zudem war es möglich, dass sie erst am Morgen bemerkte, dass er aus dem Sandloch entwischt war. Hatte sie nicht gesagt, dass es noch keiner geschafft hätte? Hatte der Kollege nicht recht, der harte Arbeit als solche lobgepriesen, weil sie uns lehrt, über uns herauszuwachsen? War es nicht das, was er jetzt tat? 

Der Dünenkamm schien immer weiter entfernt und höher, die Neigung stetig steiler. Der misslungene Fluchtversuch rieselte in seine Gedanken, er zwang sich, den Verstand zu behalten. Er musste hinauf, wollte er die Orientierung zurückgewinnen. Beide Füsse begannen zu rutschen, er sank auf die Knie.  Er spürte Feuchtigkeit am Unterleib. Nein, der Sand flutete gegen seine Beine! Er durfte auf keine Fall nach hinten stürzen, er würde nie mehr aufkommen. Sand, Sand. Ihm war, als würde eine rostige Blechdose durch seine Knochen gezogen, sein Herz ein geplatzter Tennisball. Da war kein Sand mehr, nur noch ein schwellendes Sandkorn. Er war das Sandkorn, das durch das Universum fällt und jetzt verschluckt wird.

Sein zerfetztes Bewusstsein nahm langsam wieder Form an. Er spürte, dass ein Hund an seinem Ohr leckte. Er konnte seine Augen nicht öffnen, sie waren zugeklebt, gepflastert, die Lider zu Stein erstarrt. Sein Kopf war frei, er lebte noch. 

Immerhin.

Es geht ja um die Story in einen japanischen Roman von Kobo Abe, im existentialistischen Duktus eines unpolitischen Camus, in welcher der Protagonist immer mal wieder auf seine pure Existenz eingedampft oder eben auch mit Sand zugeschüttet wird. “Er konnte immer noch nicht begreifen, warum…” und dann folgt nach dem Blackout im Sand “…hatte jemand die Schaufeln gebracht.” Gut dreitausend Wörter fehlen, 16 Seiten. Ein ganzer Druckbogen falsch montiert, obwohl jeder einzelne nicht nur mit “Abe, Frau” gekennzeichnet ist, sondern auch säuberlich durchnummeriert. Im handlichen und stark vergilbten Oktavbändchen ist der dritte statt der fünfzehnte Druckbogen mit Faden eingebunden, ein Teil der Geschichte wiederholt sich wie Jumpeis Alltag, die Fluchtszene mit Sandeinsturz bleibt verschollen wie schlussendlich Jumpeis Person. Ich musste mir den Klassiker antiquarisch beschaffen, jetzt gibt es eine Neuauflage im Zürcher Unionsverlag.

Gesamtherstellung Offizin Andersen Nexö, Leipzig. Verlag Volk und Welt, Berlin 1978. Klappentext: “Seine Entscheidung für das Dünendorf ist zugleich eine deutliche, wiewohl aus der begrenzten individualistischen Sicht des bürgerlichen Autors formulierte Absage an die kapitalistische Gesellschaft.” Aus heutiger Sicht kann man den Roman auch als Lehrbuch für DDR-Bürger lesen: Überwindung der Sinnlosigkeit und Absurdität der eigenen Existenz durch trotziges Akzeptieren und durch Pflichterfüllung. Unpolitische Flucht ins Alltagsleben. Vielleicht war das Hauptargument des realsozialistischen Lektors auch bloss Abes Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei, die er allerdings just mir der japanischen Erstveröffentlichung der Dünenparabel beendete. Oder es war der Reiz von Jumpeis schillernder Sexualität. 

Am Morgen nach der ersten Nacht im Sandloch bemerkt er, dass die Frau völlig nackt dalag, bis auf eine Tüchlein, welches ihr Gesicht bedeckte und vor Flugsand schützte. Diese Frau war wie ein Tier. Sie kannte nichts als das Heute. Jumpeis Intellekt sträubt sich dagegen, von der Romantik blanker Sexualität zu träumen, bejahte aber das Primat des allgemeinen Verlangens, bevor man zwischen Kobe-Beef und Hiroshima-Austern ratlos wurde. Bisher war für ihn geschlechtliche Liebe ein Metaakt der Selbst- und Fremd-Beobachtung, so dass man seine Sexualität wie die Arbeitskleidung jeden Tag frisch aufbügeln musste. Der Koitus war nichts anderes als gegenseitige geistige Vergewaltigung. Die Frau in den Dünen diagnostizierte bei ihm eine psychische Geschlechtskrankheit.

Die erektile Teil-Dysfunktion führte er selbst auf eine frühere, klinisch ausgeheilte Infektion mit Syphilis zurück. Aus durch Selbstuntersuchungen geschürter Angst, weiterhin Träger von Krankheitserregern zu sein, schützte er seine geistigen Vergewaltigungsopfer durch Kondomgebrauch, was dazu führte, dass ohne Kondom eine Erektion undenkbar und unmöglich geworden war. Und nun sass er in diesem gummilosen Sandloch fest. Die Krankheit wurde nach der zweiten Amerika-Reise von Kolumbus von den Antillen in die alte Welt gebracht. Sie verbreitete sich im Hafenviertel von Barcelona und dann mit den europäischen Armeen über den Kontinent. Der Schotte John Hunter, Begründer der wissenschaftlichen Chirurgie, wollte 1767 beweisen, dass Syphilis und Gonorrhö eigentlich die gleiche Krankheit sind. Mit einem Skalpell brachte er Eiter aus der Harnröhre eines Tripperkranken in seinen eigenen Penis. Dabei ist ihm ein methodischer Fauxpas unterlaufen. Der Spender hatte sich mit beiden Krankheiten infiziert. Hunter verstarb an den Spätfolgen. Quecksilbervergiftung durch Quacksalberei. Syphilisationskrankheit, Pinselschimmel das Heilmittel. In der Spätphase von Syphilis, am Anfang der Gehirnaffektion, steigern sich kognitive Fähigkeiten stark. Thomas Mann macht so einen Komponisten erst zum Genie, dann zum Schwachsinnigen. Johnny Depp der Libertin. Jumpei ist Abes Geburtstagsvetter, astrologischer Zwilling. 

Der Möbiuseffekt blieb aus. Er hatte gehofft, dass sich die instinktive Sexualität irgendwann in zärtliche Liebe verwandeln würde, wie das magische Band die Aussenseite zur Innenseite verwandelt. Die Frau wünschte sich eine Paulownia, Blauglockenbaum, er Nadelholz.

Den Geist anknipsen

Existenz impliziert den permanenten Test, ob man sich sehen lassen kann. Les dieux ont soif. Gott ist mir innerlicher als ich selbst und höher als meine Vorstellung. Die Anachoreten sind die Athleten der Verzweiflung. Die Reformation fusst in der Vorverlegung des Purgatoriums ins irdische Dasein. Erfolg meint Kausalität, die Glück hat. Manichäer erfahren Weltfremdheit und üben sich in der Vereigentlichung ihrer Existenz. Jedes pneumatische Selbst ist dazu berufen, zum Helden im höchsteigenen Erlösungsroman zu werden. Der Mensch ist in der Welt, aber nicht von der Welt. Das Pneuma sieht sich als etwas von aussen Hineingeratenes. Auferstehung als Lebensstil.

Der sokratische wie der jesuanische Justizmord sind Geburtshelfer der spirituellen Welt-Abständigkeit. Erlösung tritt ein als Einsicht in die Gnade des Nicht-mehr-zugehörig-sein-Müssens zur unerlösbaren Unrechtstotalität Welt. Die gnostische Seele ist beflügelt von der charismatischen Erinnerung an ein vor-ursprüngliches Recht auf Vollkommenheit. Sie fühlt sich den Realitätsdämonen nicht mehr unbedingt tributpflichtig. Seit alles, was von der Welt ist, negierbar wurde, erklingt jubilatorische Dissidenz.

Der aus dem Osten herandrängende Erlösermythus sprengt die griechische Theorie des zeitlos Seienden durch eine Ereignisphilosophie in der Zeit: Schöpfung, Fall und Erlösung als Diskontinuitäten des Seienden. Die sich zeitigende Wahrheit reisst Philosophen mit, Heidegger bedenkt sie als das Beben des Seins im Dasein.

Die Seele ist zunächst gezwungen, ihr Ich durch Anlehnung an das Übergewicht des welthaft Vorgegebenen zu bilden. Das innere Weltsystem entsteht mit Realitätsfitness, Wille und Selbsterhaltungspriorität, die psyche. Die Verirrung in die Welt und das werden wie sie ist die Phase des Selbstvergessens. Wenn die Kehre eintritt, durchflutet das Licht eigentlicher Geschichtlichkeit das pneumatische Selbst. Die Wende kann nur von selbst geschehen. Im Rückweg gibt das Selbst seine Psyche, das innere Sediment des Lebens im welthaften Müll, nach und nach an den Kosmos zurück. Das Selbst übt sich rückwärts aus dem Gewordensein heraus. Wenn die Seele den Staub der erworbenen Eigenschaften abgeschüttelt hat, erfasst sie sich neu in ursprünglicher Eigenschaftslosigkeit: Als etwas Ungewordenes, Schwebendes, Vollkommenes. Von da an lässt sie ihre eigene Produktion von Zeit fallen.

Die Seele sorgt sich um Vergöttlichung durch Einsicht. Sieht sie Licht, erhellt sich auch die Verdunkelungszeit. Gross denken heisst gross geirrt haben. Die glückliche Theorie lebt aus dem Versprechen, den ontologischen Vorrang der Angst zu überwinden. Das schwebende In-etwas-Sein des kampflosen Gehirns erinnert sich selbst an den flüssigen Anfang seiner Geschichte. Wenn die Umwendung gelingt, findet das Subjekt auch In-der-Welt den Freiraum, der ihm zukommt. Die Minuten werden kostbar.

In der klassischen Metaphysik ist Gott die Einheit von Bei-sich-Sein und Ausser-sich-Sein. Genau das kann auch dem endlichen Dasein zugesprochen werden, wenn man es mit Heidegger als insistent und ekstatisch begreift. Die platonische Erotologie hatte der christlichen Theorie inniger Beziehungen den Stachel gesetzt. In der Intimität von Intersubjektivität und Interintelligenz schlummern hinter den theologischen Diskursen die patinierten Schätze eines vormodernen Primärbeziehungswissen. Für die menschliche Liebe gilt, dass sie, bevor sie sich ereignet, auf keine Weise existiert.

Spräche die Mystik mit moralischer Stimme, würde sie gebieten: Erwärme dein Eigenleben bis über den Gefrierpunkt und tue, was du willst. Wenn die Seele taut, wer wollte zweifeln an ihrer Neigung und Eignung, mit anderen zu kooperieren und zu feiern?  Die erregendsten eigenen Gedanken sind fremde Gedanken, die unseren Kopf benutzen.

Das Enthaltensein im Umfang Gottes lässt sich vorstellen wie die eines Punktes in einer alles einschliessenden Kugel, wobei der Punkt auf seine Weise die Kugel spiegelt und enthält. Die geliehene Seele verleiht dem Ich-Sein Amtscharakter und die Subjektivität ist als Planstelle im Haushalt Gottes konzipiert und bewilligt. Wenn der Mensch eine Kugel wäre, so kann man sich diese nur als unrund vorstellen. Cusanus hat in de ludo globi gezeigt, wir schwierig es ist, diese ins Haus und ins Ziel zu bringen. Das ist wenig handfest, eher Fussnote.

In einer von egalitaristischen Kriterien dominierten Situation tut sich der Mensch schwer damit, sich als Wesen zu erkennen, das in einer konstitutiven Vertikalspannung lebt. Seit der Aufklärung heisst Politik, die Vertikaldifferenzen zwischen Menschen in Horizontaldifferenzen umzuwandeln. Mit dem Rangbegriff sind alle existenziellen Wertigkeiten verschwunden. Doch der Mensch bleibt vom Stress des Mehr-oder-Weniger-aus-sich-Machens nicht entlastbar. Jeder Mensch, der etwas auf sich hält, ist zu einer Art Unfehlbarkeit verdammt. In der Malerei der Renaissance verschwinden die Heiligenscheine. Seither sehen wir Heilige als Athleten, die sich ungewöhnlichen spirituellen Trainingsroutinen unterworfen haben. Die Spannung zwischen dem sapiens und dem insipiens vulgus ist verschwunden, endgültig mit der Übertragung des Beiwortes vom Einzelnen auf die Gattung mit gleichzeitiger Verdoppelung. Wir sind von Natur aus homo sapiens sapiens. Es ist nich mehr Gott, der die Differenzen gering erscheinen lässt. Es geht jetzt um die Gleichheit vor dem Nichts.

Die Seele ist nicht mehr eine besondere Kraft der inneren Raumerzeugung, ein Heiligtum, sondern Theater oder Fabrik. Während die Psychoanalyse noch von einem Seelenhaus ausging, das von okkupierenden und inspirierenden Geistern eingenommen und verlassen wird, sieht die Psychologie ein Knäuel von Objektbeziehungen. Die Theopsychose ist nicht mehr der Idealfall geglückter Beseeltheit, sondern klassifizierte Abnormität. Selbstsein versteht sich als der unbegeisterte Konsum der eigenen Erlebnismöglichkeiten. Coolness ist das Megasymptom im technischen Zeitalter. Die Aufklärung hat sich müde gesiegt, die Psychen hängen zum trocknen aus. Es kann zu einer fatalen Wechselwirkung theoretische Selbstvergegenständlichung und psychischer Depression kommen, die nur Beseelung überwindet.

Angesichts der Endlichkeit von Wissen ist es vernünftig, den Realismus der positiven Kenntnisse zu ergänzen durch den Sinn für das Mögliche und Unmögliche, für das Aussergewöhnliche, das Absurde und Wunderbare. Intelligenz lebt stets in einem Mehr oder Weniger ihrer selbst, und sich am Pol des Mehr zu orientieren ist eine Geste, mit der sich die Intelligenz zu der ihr eigentümlichen Transzendenz bekennt. Dem Weichen im Festen Struktur geben, für das Formlose eine Form sein – das ist die kurzfassende, verschränkende Wortgebung für adulte Erleuchtung in Ost und West. Gläubige Glücksspieler sind immer in einer guten Strähne.

Dass ein Individuum die Wahrheit über seine Wandlung zur Wahrheit bekennen möchte, ist ein Indiz für sein In-Sein in ihr. Der Umstand, dass der Bekenner sagen kann, was ihm zu sagen gegeben ist, kommt einem schlagenden Beweis oder einem Gottesurteil durch die Feder gleich. Jetzt gilt der Satz, dass wahr ist, was wirkt.

G. Balsamo di Palermo aka Cagliostro

Am selben Tag, als S. Marino erstmals auf dem Monte Titano schlief, notierte Augustinus: Crede, ut intelligas und verschloss die Zeitkapsel. Gerardo Sasso hatte von dieser Koinzidenz erfahren, bevor er in Rimini nach Jerusalem einschiffte. Als Gründer des Johanniterordens machte er die Gebote zur Spitalphilosophie. Die Brüder dienten den Kranken, unbeachtet deren Glauben oder Stellung, als ihrem weltlichen Herrn. Nach der erfolgreichen Einnahme der heiligen Stadt durch die Kreuzritter konnte er das Pilgerhospital auf gut zweitausend Betten ausbauen. Als Saladin Ayub ein Jahrhundert später die heilige Stadt zurückeroberte, reisten die Spitaldirektoren und Johanniter-Oberen ab und landeten schliesslich auf Malta, wo sie ihren corso erfanden: Jagd auf muslimische Schiffe, um die Besatzung als Sklaven auf das Abendfestland zu verkaufen. Das freiwillige Hilfscorps der Malteser ist heute als Hilfsdienst in das italienische Heer eingegliedert. Aber Europa bleibt aufgeteilt in Grosspriorate, Priorate und Subpriorate, denen jeweils ein Rittermönch vorsteht, entsprechend den drei Ständen des Ordens.

Im nachmaligen Grosspriorat Napoli e Sicilia, genauer in Palermo, will von Göthe später die Spuren von Cagliostros Herkunft finden, um diesen mit Fakten seiner Hochstaplerei zu überführen. Fast gleichzeitig liess der Papst ebendiesen verhaften, in die Engelsburg einsperren und zum Tode verurteilen. Er sollte das letzte Inquisitionsopfer dargebracht werden, der letzte Ketzerspross. Von Göthe hatte seine Beweise gegen den Grand-Logier und angeblichen Grafen im Quartier Albergheria gefunden: Cagliostros Eltern lebten wie die Bettler in einem Verschlag, der Sohnemann hatte sich ins Kloster der Fatebenefratelli, ein Johanniterorden, davongestohlen. Und dort hat er Chemikalien und Heilstoffe entwendet, so dass er verschwinden musste. Göthe schrieb später den Gross-Kophta, eine Komödie: Der aufgeblasene Graf Rostro schulmeistert und kujotiniert die staunenden Damen und Herren. Cagliostro selbst wurde nach mehreren Fluchtversuchen ins Verliess von San Leo gesteckt, die Todesstrafe in lebenslänglich umgewandelt, nachdem er gestanden hatte, dass er mitten in der Aufklärung von den Illuminaten hinters Licht geführt worden sei. Von Göthe publizierte die Briefe der Mutter, die ihm diese für ihren Sohn übergeben hatte, nachdem er sich vor Ort als Vertrauter von Giusi ausgegeben hatte. Aus dem Zeittunnel hallt Fack ju.

Jahre nach seinem Verschwinden aus dem sizilianischen Kloster tauchte Cagliostro seinerseits auf Malta auf. Der Apothekerlehrling hatte sich zum Grafen und Grosslogenmeister hochgearbeitet. In Ägypten hatte er gemerkt, dass er Mädchen bezaubern konnte, die ganz in Liebe zu ihm entflammten. Sie starrten ihm in die Augen, wenn er sie begutachtete. Danach konnte er sie mit seinen Gedanken steuern, wenn er tief in ihre Augen durchsah und zu ihrem Erlebnis wurde. Er konnte so alle Gespräche mit dem Jenseits führen, welche die Leute hören wollten. Das hatte selbst in Persien geklappt, obwohl er kein Wort verstand. Er hatte italienisch geredet, das Medium persisch. Und er hat Geld bekommen und Verehrerinnen. Nun hatte er sich eine aristokratische Abstammung ausgesucht und seine eigene Geheimloge gegründet, die mit ihren neunzig Graden alles barocke Getue des Absolutismus verhöhnte. Mit gehobener Brust besuchte er den siebzigsten Malteser Grossmeister Emmanuel de Rohan, der fasziniert war von den neunzig Graden seiner ägyptischen Loge und Gefallen an den schwarzen Augen fand, weil er sie mit Liebe verband und irgendetwas Weibliches in ihnen war. Cagliostro verkaufte ihm einige Zauber- und Liebesmixturen und erhielt Empfehlungsschreiben für exquisite Locations in Rom und Paris.

Occhi azzurri, capelli dorati, lineamenti delicati, corpo esile e slanciato, Lorenza Feliciani sin da fanciulla rivelò una straordinaria bellezza. In Italien erhitzt sie die Gemüter. Cagliostro heiratet sie. Das christliche Abendland hat sein Traumpaar, alle laden sie ein und schicken Geschenke. Sie verkaufen Kosmetika und Aphrodisiaka, sein Moschusvorrat verwandelt sich in Gold, das einheimische Bibergeil blieb in den Regalen hiesiger Apotheken. Cagliostro hatte den Stein der Weisen gefunden, er war die Transmutation: alles verwandelte sich in Gold. Er lässt sie wohlhabende Klientel umgarnen, sie bezichtigt ihn der Zuhälterei und er sie des Ehebruchs. Sie holt ihn aber aus dem Gefängnis und sie ziehen gemeinsam fort. Cagliostro beginnt, Lotterien durchzuführen. Sie werden als Paar immer besser, nähern sich auch geistig über die Androgynität der Freimaurerei. Er freut sich über die in Den Haag gestiftete welterste Damenloge, der sie als Grossmeisterin vorstand. Das Grossmeisterpaar führte den Eroberungsfeldzug weiter, bis zur Wende an der Nordfront. Elisa von der Recke, die Schönste im ganzen Baltikum, wies ihn zurück, als sie merkte, dass er ihr hörig und feige war.

Katharina wies C. ab, weil sie von einer befreundeten Fürstin, dieser Elisa von der Recke, die sich bereits aus ihrer Konvenienzehe verabschiedet hatte, erfuhr, dass C. ein coïon sei und obendrein ein Schnorrer und Bluffer, der Jungfrauen verehre. Die Grosse zeigte es dem Kofta, diesem Fleischbällchen. Sie liess ihn abführen während einer séance, in der ein minderjähriges Mädchen die Verbindung zwischen C. und dem Jenseits herstellte und vor aller Augen Offenbarungen geschahen. Graf Gagarin musste die spiritistische Sitzung abbrechen. K. schrieb über die Figur C. drei Komödien, ohne C. je persönlich getroffen zu haben. Sie hatte damals schon zwei illegitime Kinder. Platonisch war sie in Voltaire verknallt. Sie verspottete die ganze Freimaurerei als misslungene Zauberei; Verstand und Standes-Kultur genügen. Annexion der Krim 1783. Putin soll sie verehren. Ihr dritter Liebhaber hatte ihr geholfen, ihren Ehemann abzusetzen und selbst auf den Thron zu steigen. Die europapolitische Ehe war nicht harmonisch. Schon in der Hochzeitsnacht wurde deutlich, dass der Großfürst nur wenig Interesse und Zuneigung für Katharina empfand: Während sie auf ihn im Schlafgemach wartete, kam er spät nachts betrunken …und legte sich angekleidet zwischen die Frau und ihren Liebhaber, er hatte sich *pling* nach Chur verirrt. Anfangs band er Katharina noch in seine Spiele mit den kleinen Soldatenfiguren ein und ließ sie die preußische Uniform tragen. Der letzte Liebhaber war noch jung, als K. starb.

Cagliostro lag auf dem gemauerten Wandvorsprung, den Blick zum kleinen Ausguck, auf den Kirchenturm. Er fühlte sich schwach und konnte seine Gedanken nicht mehr selber formen. Lorenza erschien ihm, in der Aura ihres Klosterkerkers. Gertrud pulsierte in seinem Herzen, die gute Frau Sarasin, die er im weissen Haus zu Basel mit den Kräften des animalischen Magnetismus zu neuem Leben erwecken konnte. Jetzt steig ich im Ballon, wie in Wien. Von oben bewacht schlagfiel er.

Mt. Titano

Taufeucht das wadenhohe Gras noch, durch die Morgensonne erglitzert. Seine Gedanken kreisten um das Eine, die unbändige Unabhängigkeit von Gott. Stolz fuhr hoch, auf seinen Namen Marinus, der aus dem Meer, auf den er von Gratius getauft worden war. Nun stieg er hoch zur Erdspitze, der höchsten Erhebung hier in den nördlichsten Marken, einem begrünten Felsrücken, bemoostem Walfisch, einem himmelragenden Monument der Erhabenheit mit Weitblick über die Lande wie das Meer. Gott hat den Menschen geschöpft, aus dem Meer wie alles Leben. Aus weissen Schloten kommt er, der Mensch. Aufsteigende Blubbern. Marinus sah sich um, dem Wasser und dem Morgenlicht entgegen. Das Meer lebt gekräuselt. Der Bischofsdom von Rimini lächerlich klein, ganz unten. Hier oben würde ihn niemand in Abhängigkeit ziehen können, er würde niemandem was schulden. Gaudentius hatte ihm seinen Segen als Anachoret erteilt. Ich bin mein eigenes Spezialkommando, dachte er sinngemäss, ich werde Papst und Kaiser bewirten und mit Ihnen teilen, was ich dereinst haben werde, aber dann werde ich sie sanft an ihre Pflichten erinnern. Der Gedanke, periphere Orte zu bevorzugen, liess ihn schmunzeln. Er hatte seine engsten Glaubensbrüder und treuen Begleiter gebeten, ihm in gebührendem Abstand zu folgen und ihr Lager unterhalb der Felsenoffenbarung aufzuschlagen.

Gegen Abend kamen sie langsam hoch, lachend und winkend. Die Rücken bepackt mit wilden Bergen von trockenem Feuerholz, mit Wasserbeuteln, geknoteten Tuchballen, der eine mit einer Kiste Wein und der Pesarese mit zwei Hasen in den Händen. Wir umarmten uns beim Zusammentreffen, wie immer. Wir wussten nicht, dass wir längst im age of anxiety lebten, für spätrömische Verhältnisse ging es uns valde bonum 🙂

In diesem Moment schlug sein Herz kräftiger, er nahm das herzliche Pulsieren seines Freundes wahr, die unpersönliche Leibhaftigkeit war irgendwie nicht spiegelbildlich, mehr punktsymmetrisch. Das Gefühl verdichtete sich zu einem rotierenden Energiegewölk, das ihre beiden Brustpartien umfasste. Als sie sich wieder aus der Umarmung lösten, war es ihm, als bliebe die Gemeinsamkeit nicht nur in ihm als ein Herzensgefühl, sondern der ganze Ort um ihn war erfüllt davon, er war selbst Teil die Ortes und ganz in ihm. So würde sich das Waldbruderleben gut anfühlen lassen. #blessed. Pesarese hob die beiden Häschen hoch, die er vor der Umarmung freudig fallen gelassen hatte, nahm die vier Ohren in eine Hand und klatschte mit Marinus ab: Nur noch die Damenbesuchsregeln fehlen, sprach er zum Marineser Stammvater. Damit spielte er auf Magga an, die vor dem Bischof frech behauptet hatte, Marinus sei in Wahrheit ihr desertierter Ehegatte, und das Frischgeborene vorzeigte. Gaudentius steckte sie samt Nachwuchs ins Armenhaus. Der Geruch von Wildtierdung.

Genau dort unten am Offenbarungsfelsen, wo die Waldbrüder, als double-six-pack belächelt und vom Bischof mit zwölf Flaschen Wein verabschiedet, ihr erstes bescheidenes Kloster bauten, stand später der Eingang zur Festung. Napoleon liess während dem imperialen Eroberungszug durch das politisch zerstückelte Italien an der Pforte ein Schreiben abliefern, das den Republikanern das Geschenk von einer Kanone grössten Kalibers samt Munition, französisches Weizenmehl der edelsten Pariser Qualität und die Herrschaft der Marinesi über die ganzen Ländereien bis und mit Rimini in Aussicht stellte. Der Dank einer erfolgreichen Damenbesuchspolitik der Waldbrüder zahlreiche Nachwuchs lehnte nach einer ausserordentlichen Gemeindeversammlung diese Superlative dankend ab. Sie bevorzugten freundschaftliche Nachbarschaft, liessen sie ausrichten. Kleingeister wie die Schweizer, die werden an Inzucht aussterben, dachte Napoleon, aber liess das Mehl trotzdem schicken. Daraus buken sie Marillenhörnchen.

Verändert sich der Text, wenn er vom Internet abgehängt wird und analoge Gestalt annimmt? Wenn kein Link mehr weiterführt und der freie Assoziationsfluss sich verdickt zum begrenzten Inhalt? Wie verhält sich Schreiben und Lesen zur Bildschirmzeit? Verbirgt sich hier eine geistige Naturkonstante oder folgt am Ende das Zusammenfallen im Nichts? Ist die klassische Logik die säkularisierte Erbsünde? Wer schreibt, produziert Gedanken, hatte Lacan schon in der Klosterschule gelernt. Die persönliche Mischung aus Gedankenproduktion und -konsumption macht das Identitäre des Textes aus. Der Leser wird der Schreiber gewesen sein. Die sinnliche Dimension des Schreibens leckt am Schriftbild und seiner Textur. Der Sinn tropft auf die Leserperspektive. Der Text verklebt sich im inneren Lesernetz. Alles Gelesene wird zum Leser. Der Leser wird das, was er selbst schreiben wird.  Das noch ungeschriebene ist der Moment vor dem Eisprung

Marinus war abgeschweift. Er zog die Decke hoch und verstand nicht, was in diesem Moment in seinem Kopf vorgegangen war. Er schob sich die zerknüllte Schärpe unter den Kopf und blieb auf dem Rücken liegen. Wir sind nur Zeichen Gottes. Die Instanz, welche die Ordnung des Zeichenhaften garantiert, ist der grosse Andere, oder, wie der Bischof sagen würde, der Name des Vaters. Marinus liess seinen Herzschlag wieder alleine weiterwachen.

Und schon war der traumhafte Gedanke weg und drin in Mario, wie frischgelesen. Das Symbolische war bei Marinus hängengeblieben. Das Imaginäre flakkerte Im HintergrundRauschen DerAussenwelt. Bildschirmflimmern vis-à-vis. Das unfassbare Reale drohte die Traumwelt zu erobern, in seinen berüchtigten Gestalten der Sexualität, des Todes und der Gewalt. Der reale Traum zeigte Lacans Bild vom Ursprung der Welt, das er in seinem Wohnzimmer hängen hatte und heute von Macron im Orsay zur Schau ausgehängt ist, daneben ein Wachmann mit Blick zum Betrachter. Eine gemalte Aufsicht auf einen entblössten weiblichen Torso. Das dicht behaarte Geschlecht im Zentrum, naturhaft entspannt, die Schamlippen leicht geöffnet wie vor dem Sündenfall. L’origine du monde c’est la terre. Mario war plötzlich hellwach und sah sich Mitten im Wohnzimmer und schaute zu seinem Lehrer, wie er den unerklärlich erotikfreien Akt hinter das naturhafte Landschaftsgemälde schob, das die weiblichen Linien symbolhaft erscheinen liess. „La femme n‘ existe pas.“ Jetzt würde er den Satz erklären können, der damals im Seminar für emotionalen Tumult gesorgt hatte. Das Imaginäre als Versteckspiel der Realität. Oder doch umgekehrt? Egal. Mario lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Moment, als er gestern ganz oben war, wo Marinus gelebt hatte. Der hier in Marino entwickelte Unifyer steigerte das Gipfelerlebnis, überhöhte es durch das synchrone Sinken der Herzfrequenz und Senken des musikalischen Tempos. Ziel ist immer das Larghetto, sein Ruhepuls.

Etwas war oben geblieben. Marinus spürte den ersten Morgenschimmer auf den Augenlidern. Es schien ihm, als träume er, aber er wusste auch, dass das nicht die Wahrheit war.

Sakralien

Craniovolitäten sind sie auch. Die Fugen sind elastisch gekittet. Wie die Kontinente schweben die Schädelplatten auf der pulsierenden Hirnhaut. Oberflächliche Eisschollen der Schädelkalotte, durch ätherische Öle im Frisörsalon markiert, bewegen sich im Rhythmus des cerebrospinalen Likörs. Beim Menschen liegen die Wellenkämme sieben oder acht Sekunden auseinander. Atem- und Herzfrequenz sind mit einem individuellen Algorhythmus mit diesem Grundtakt der Wirbelgeschöpfe unterlegt.

Während der kleinen Eiszeit hat Valsalva herausgefunden, dass man bei Herzflattern das rasende Herz selbst wieder mit dem Craniosakralrhythmus synchronisieren kann: Ganz ausatmen, die Nase zuhalten und weiter auspressen, jetzt mit der ganzen Thoraxmuskulatur. Wer gelegentlich mit Herzflattern lebt, wird den Trick rasch lernen und ohne Aufsehen seinen Herzschlag manipulieren. Die Geste gleicht dem Druckausgleich im Mittelohr, wie wir sie manchmal auch wegen unerklärlichen Druckunterschieds ganz gewöhnlich ausüben. Hält man den Valsalvaschen Druckeinfluss im Thorax etwas länger aufrecht, vollbringt der alltägliche Wille einen Herzstillstand. Valsalva hat so seinen Herztod als Suizid inszeniert, aber er kannte den Trick, wie man wieder zurückkommt und die Verblüffung weiter steigt.

Hirnforscher küssen sich nach der Habilitation die Stirn. Auf die Mitte, um die Valsava-Doktrin der kontralateralen Beziehung von Körper und Gehirn zu übertrumpfen und den präfrontalen Kortex in seiner supervisionären Funktion zu bestätigen. Organisch sitzt der Lenker dort, wo wir ihn vermuten: Hinter der Stirne. Es scheint aber einen Gegenspieler zu geben, der seine Reize direkt über Körperwahrnehmung empfängt und in neues Leben verwandelt. Er spielt den Lenker.

Fussballspieler wissen: Der erste Gedanke am Elfmeterpunkt ist der Richtige. Sofort und doch sorgfältig ausgeführt bringt er den Erfolg. Bringt der Erfolg. Derfolg. Auch im Skisprung. Zwingend. Impuls und Supervision Einklang. Die Magie der Selbsterfüllung. Kontrollierter Zufall. Wieder so eine Leerstelle, die behauptet die Wahrheit zu sein. Oben Selbstüberschätzung, unten Demut.

Das erogene Nervenschaltzentrum steht unter der Verwaltung der Entspannungsnerven und liegt im Rückenmark beim mittleren Kreuzbeinwirbel. Es wird auch reflexogenes Zentrum genannt, weil von ihm die Information der Nerven aus der Genitalgegend über erotische Berührungen direkt umgeschaltet werden können – ohne weitere Überprüfung durch das Gehirn. Parasympathisch. Das kreuzbein ist ein Hummer. Sex ist Reflex. Die Meldungen gelangen aus dem Kreuzbein über die Entspannungsnerven direkt zu den Genitalien, um dort beim Weibchen die Klitorisschwellkörper und die vaginalen Blutgefäße aufzufüllen und in der Folge den oberflächlichen Feuchtigkeitsfilm zu bilden. Parallel dazu melden die sensorischen Nerven alle Sinneseindrücke an das Gehirn weiter. Erst jetzt zeigt sich, ob das, was zuerst als erregend empfunden wurde, auch von den Überwachungszentren und der Vernunftkontrolle entsprechend wahrgenommen und bewertet wird. Bestätigt das Gehirn diese Empfindungen, gelangen sie zurück zum Zentrum der Entspannungsnerven und von dort weiter zu den Genitalien. Sex ist Reflexion.

Das reflexogene Zentrum im Kreuzbein erhält einen Beckenbodenschrittmacher.  Mit sakraler Neuromulation kann der Craniosakralrhythmus getaktet werden. Damit verbessert sich die Kontinenzleistung,, ein äusserst kompliziertes Neuronenzusammenspiel. Sakralnervenstimulation ist asexuell. Fast wirkungsgleich sind metallene Vaginalkugeln, ihre Schwingungen stimulieren die Muskulatur und versprechen ebenfalls verbesserte Kontrollherrschaft, aber auch bombastischen Vaginalorgasmus. Sie aber nicht spüren, nie an die Kugeln denken! Am besten trägt sie diese zum Duschen und Einkaufen.

Der heilige Pater Pio mit seinen Stigmata und weiteren Charismen wie Bilokation: Bei der Danksagung spürte der Priester einen tiefen inneren Frieden, ein Seraph (Sechflügler, singen Heilig heilig heilig) erschien ihm und nun begannen seine bisher geröteten Hautstellen zu bluten. Nun trat der schöne Haudegen durch die Wand und hielt einen Schlachtenverlierer vom suizidalen Pistolenschuss ab. Der General erkannte ihn später bei einer Wallfahrt.

Johannes XXIII aus Bergamo, unterdessen selbst heiliggesprochen, wehrte sich gegen die Verehrung des Kapuziners, der wie ein moderner Sektenführer mit seinen Verehrerinnen auch sexuell verkehrte und politisch dem Faschismus zuneigte.  Wenn Pater Pio gestattet, würde ich sagen, seine Hand sah aus wie frisch manikürt und das Stigma knusprig fein. Die Händler kamen zurück in den Tempel, aus dem sie einst von Jesus vertrieben wurden. Ein junger Ostschweizer Priester, Buschor, der als Mittelschullehrer für weltliche Fächer und freier Fernsehmitarbeiter lebte, machte 1968 sein erstes und grösstes Kinowerk, einen Dokumentarfilm über Pio, der heilig gerufene. Da sieht man die Hände bei der Beerdigung. Aus dem Filmerlös leistete sich Buschor einen eigenen TV-Sender. Ebendieser Pio hatte dem jugen Wojtyla prophezeit oder weisgesagt, dass er als Papst ein Attentat überleben werde. Heimzahlte es ihm Johannes Paul II mit Selig- und mit Heiligsprechung.

Als der Spieler seine letzte Habe verloren hatte, verfluchte er Gott und stiess seinen Degen gegen den Himmlischen. Herunter kamen Blutstropfen, klatschten zu fünft auf den Wirtshaustisch zwischen Stadtmauer und der heutigen Kirche zum heiligen Blute. Geschehnis vom 7. Juli 1392. Der Teufel holte den verblüfften Frevler vom Spieltisch und die anderen versiechten. Der Himmel ist der einzige bewohnte Vergnügungspark im All, folgert CJS, ein junger Synästhet & Poet aus Österreich, der seine eigene Erleuchtung als Sehstörung beschrieb. Im Botanischen Garten erblüht das Erlebnis zur Gnadenoffenbarung. Er ist das Schaf, das aus seiner eigenen Wolle ein ander Thier strickt. Die Willisauer Spielkarten ziehen sich beschämt zurück, zwischen zwei Buckdeckel mit der irreführender Prägung. Der Trumpfbauer heisst Karnöffel, er kann den Papst schlagen, aber nicht den Teufel. Der ist teufelsfrei, kann nicht stechen und kann nicht gestochen werden. Die Christusfigur in der Monstranz trägt ein Kübelchen mit den Resttröpfchen.

So bleibt eine Ferne nun, selbst im Nächsten. Das Kalziumatom in meinem liebsten Knochen braust aus der nichtssagenden Singularität des Schöpfungsknalls durch eine pulsierende Kette explodierender Kugeln in meine knöchrige Standhaftigkeit, hin durch Muscheln und Salate, bis es sich zersetzt und sich die Reste neu verbinden. Das Photon nickt und schrumpft ins Nichts. Maultiere bechern Wodka. Archaeopteryx staunt. Wolfseulen heulen, die Standseilbahn im Steilwandwahn.

 

Carnivolitäten

Der Mensch hat sich selbst zum Fleischfresser gemacht: Erstmal, indem er – als weitentfernter Vorfahre unsereins – die vegetarischen Nahrungsfunde mit Organismen angereichert vorfand, die sich ihrerseits vegetarisch ernähren (das Würmchen in der Frucht des Erkenntnisbaumes); zweitmals durch die moderne historische Soziologie des Vegetarismus, die systemische Aussensicht bringt und moralische Zusammenhänge referiert. Wir sind Teil der Natur und sollen partnerschaftlich und liebevoll mit ihr umgehen. Es ist an der Zeit, das Gebot, nicht zu töten, auszuweiten.

Die Biologie bezeichnet die Liebhaber tierischer Eiweisse und der Geschmackswelt von rohem und gebratenem Fleisch und Fisch und weiterer, schwer einzuordnenden kreatürlicher Lebewesen als Zoophagen oder Karnivoren. Fleischessen scheint eine unappetitliche Krankheit oder zumindest frivol. Es kann einem grausen, diese Schlachterei und Leichenfledderei.

Es gibt eine klare Trennung zwischen Mensch und Tier. Wenn man die Grenze zwischen Mensch und Tier nicht klar ziehen will, so werden die anderen Grenzen obsolet. Pflanzen sind auch Lebewesen, auch sogenannt tote Materie scheint auf einer subatomaren Ebene eine Art Lebewesen. Mit oder ohne Standardmodell. Selbst Pilzmyzel und Internet zeigen phänomenale Intelligenz, Tiere haben Gefühle, Dinge Empathie. Der Zeitgeist dreht und sucht das postreligiöse Verbundensein-sein-mit-Allem und das Alles-ist-eins. Wir wollen Gott zurück! Den können wir haben, im Unterschied zu den Tieren. Wir erkennen uns selbst als Kreatur.

Natürlich sind wir mit den Tieren verbunden, können mit ihnen eins sein. Mit der Natur auch, die lieben wir alle, die führt uns immer wieder vor, wie schön das Leben ist. Aber der Mensch kann sich selbst in einer Art und Weise erkennen, die einmalig ist. Die Evolution – oder besser – die ökologische Entwicklung hat sich beschleunigt, wir leben im Schleudergang – der Mensch hat sich schon weitgehend abgekoppelt von den biologischen, evolutionären Prozessen. Die Menschheit kreiert philosophischen Transhumanismus, der sich in einen biomechanischen Übermenschen transzendieren will, unterfüttert mit künstlicher Intelligenz. Sowas kommt den Menschenaffen noch eine ganze Weile nicht in den Sinn. Der Mensch sieht, bezeichnet und empfindet die handliche Plattform seiner Internetverbindung als ein neues Organ, ohne zu merken, was das sterbekulturell bewirkt. Die eigenen genetischen Veranlagungen werden stetig durch subjektive Aktivitäten verändert. Die Kirchen. Die Bücher. Die bewegten Bilder. Die Imagination. Das Alleinstellungsmerkmal des Menschen ist seine Selbstgestaltungsmöglichkeit. Sein Wille, seine Freiheit. In der Wertehierarchie zurückgestuft, wuchern sie seitwärts.

Weil wir Menschen sind und keine Tiere, haben wir die Freiheit, neben den pflanzlichen Blättern und Stengeln auch die Blüten und Wurzeln, auch die Samen und Sprösslinge und selbst das Fleisch der Früchte bis hin zu den Organen der Organismen zu essen und zu geniessen. Oder es auch auszuschliessen. Der menschliche Wille darf da entscheiden, falls der Geschmack es nicht schafft. Damit sind wir aus allem fein raus und mitten Drin.

Du aber musst Dich entscheiden. Zwischen Dorn und Stachel. Keine Ahnung warum, aber Du wirst vor diese blöde Wahl gestellt, ob’s Dir passt oder weniger. Es kann Dir passieren, dass Du, egal, was Du wählst, vor die gleiche Frage gestellt wirst: Warum gibt es Dorn und Stachel? Sind doch beide gleich blöd. Fressfeinde abhalten! kannst Du rufen, evolutionäres Machtgehabe vor lampigen Salatpflanzen. Damit wärst Du wohl in der Quizsendung durch, aber es kann sein, dass der Fragesteller Richterrobe trägt und falls Du Dorn wählst, Dir mitleidig lächelnd einen stachligen Rosenstrauss überreicht und der Gerichtsdiener Dich von hinten mit Robiniendornen piekt – oder piekst? – und piesakt. Pieps. Wenn Du Stachel wählst, musst Du Rosen schneiden und für jeden evolutionären Fehltritt einen Kranz auflegen. Wille wie Stachel, Freiheit wie Dorn.

Wir reden ja immer nur über die systemoffene Evolution, auf dem raumkapseligen Planeten Erde können auch andere Naturgesetze gelten. Der Grössenwahnsinn der naturgeschichtlichen Evolution wurde mit dem Meteoritenangriff auf die Dinosaurierwelt zum Glück unserer Existenz gestoppt, aber die Macht des Grösseren wächst immer Richtung Himmel, obwohl die Evolutionstheorie als Reflex der imperialistischen Öffnung einer vormals autarken und weitverzweigten Systemgruppe enttarnt ist. Die einzige Alternative zum Meteoriteneinfall wäre Intelligenz gewesen, welche die Dinausauriere auf mittelgrosse Inseln verteilt hätte. Dann hätte man ihnen beim schrumpfen zusehen können. Dieses evolutionsbiologiche Prinzip der Inselverzwergung hätte die Dinos über Generationen hinweg auf die Grösse heutiger Bären schrumpfen lassen, so dass es über deren Abschuss und Verzehr viel zu diskutieren gibt. Inselverzwergung ist aber letzter Widerschein vom Reflex, das kommt auch aus der imperialen Ecke. Inselschrumpfung? Aus philosophischer Sicht scheint es zumindest angebracht, Grenzen zu benennen und damit auch subjektiv zu setzen. Der Mensch ist auf der indonesischen Insel Flores ziemlich genau auf einen Meter geschrumpft (ja ja: Schtrumpf, Trumpf, Thrump, – (und jetzt:)) ausgestorben.

Aber warum beginnen Pflanzen plötzlich, Fliegen zu fangen und zu verdauen, ohne vorher ein Ausscheidungsorgan zu bilden, zumindest die Idee einer Körperöffnung? Pflanzenethisch nicht nachvollziehbar. Sie kann sich einen weitgehend solitären Standort behaupten, sie ist Arealchef dank vielfältiger Ernährung: ein evolutionärer Vorteil. Dafür hat sie unverdauliche Chininteile in ihrem Körper und damit eine Art Plastikproblem wie die Kühe bei uns. Wir sollten darüber nachdenken, ob wir dieser ökologisch sinnlosen Pflanzengattung, diesem schöpfungsgeschichtlichen Fehltritt, bei jeder Begegnung die Wurzel rausreissen. Statt zuzusehen, wie Falschernährung zum Kollaps führt. Die Schnappfallensteller zuerst vernichten! Diese tragen Triggerhaare, mit denen sie bei Stimulation Aktionssignale senden, ähnlich neuronaler Information bei Tieren.

Von wegen Dornen und Stacheln. Wenn wir nicht entscheiden wollen, wird ein weiterer Fehltritt unvermeidbar. Aus der biblischen Dornenkrone wurden Stacheln und hochnäsiger Äesthetizismus, die Rose ist ein requisitenähnliches Phänomen mit dem Sex-appeal einer Reliquie – man kann aber die Stacheln mit dem Daumen wegdrücken und die Symbolik ist auch weg. Stacheln sind Deko, Bio-Punk. Guns and roses. Keusch. Blosse epidermische Emergenz! Die Identität der echten krönenden Dornen zeigt sich in ihrer Stellung oder im Übergangsbereich. Sprossdornen und stachliche Blattenden. Regen ist Segen, Blut tut gut. Faszikel durchziehen die Dornen, die den Organismus bis an die Fühl- und Stechhaut führen. Echte Dornen sind weitere Vorstösse der Pflanzenwelt in die der Fleischfresser. Bomben mit Samen menschenfressenden Kakteen! (fliegen tun sie, über die Mauer) Brutzeln tun sie, die Kaktusfeige und das Steak.

Denk ja, sag nein

Du lockst Sätze aus mir heraus, die man nicht aussprechen darf. Doch Dank der Kunst des leisen Lesens können verbotene Sentenzen niedergeschrieben werden Und beweisen doch nur das Gegenteil. Ich weiss, dass ich nichts weiss. Dieser Satz ist falsch. Weniger ist mehr! Gerügt sei die vorsortierte Stichprobe. Beredtes Schweigen.

Ich lese nur meine eigenen Texte, weil ich sicher bin, dass ich sie nicht verstehen kann. Aber ich fühle mich in ihnen zuhause, weil ihnen elektrische Strukturen und Prozesse in meinem Körper entsprechen. Mit meinem Headset kann ich das physikalische Skelett von Literatur als Schriftbild projizieren, wenn ich mit geschlossenen Augen den Sprachfluss langsam hinter der Stirn artikuliere. Diie Sehnen und die Muskulatur wachsen daran, die Blutgefässe durchziehen Worte, die Haut überzieht ganze Sätze. Die Nerven wuchern wie magnetische Magie. Selbstreferenzielle BUCHSTABEN vertexten sich. Automatisches Schreiben durch Inspiration. Caprice, Kapriolen der Neuronen.

Brief des Paulus an Titus 1, 12: „Es hat einer von ihnen ge­sagt, ihr eigener Prophet: Die Kreter sind immer Lügner, böse Tiere und fau­le Bäuche.“ („Dies Zeugnis ist wahr“) Die Erfüllungsmenge der Aussage ist leer, sagt der Wahrheitslogiker zum biblischen Lügner-Paradox. Die Kreter sind immer für ein Spässchen gut, der Grammatiker. Allseits helle Freude, den modus tollens durchschaut zu haben. Kausalitätserwartung ist ein angeborener Zuchtmeister.

Jesus ist während der Zeit von Herodes des Grossen (gestorben 4 vor Christus) geboren. Das ist nicht paradox! Das zeigt auf, dass der Mensch frei ist. Du sollst die Vernichtungsweihe vollstrecken. 

Dass gute Absichten schlechte Folgen haben können, wissen wir seit Kindsbeinen. Das Paradox aber, etwas Schlechtes für eine gute Sache zu tun, lässt sich nicht auflösen und darum tun wir nur Gutes. Nur vom menschlichen Subjektstandpunkt abstrahiert kann man objektive Sätze postulieren und etwa aussagen, egoistisches Verhalten könne sozialen Nutzen stiften. Das kann man als Wahrheit akzeptieren, aber als Unsinn zurückweisen, weil daraus kein subjektives Handeln oder Denken abzuleiten ist. Der Umkehrschluss ist hier eine Perspektivenverwechslung. Ramon Llull lächelt. Er hat das Sprachsystem mit neun absoluten Prinzipien syllogistisch in eine Gottesbeweismaschine verwandelt. Die letzte prinzipielle Dimension bilden Tugend und Laster, Gegensatzpaare, welche den Wahrscheinlichkeitsraum ganz ausfüllen. Der Doctor Illuminatus moderierte Prinzipien und Dimensionen mittels mathematischen Figuren des Alphabetes. Mit drei übereinanderliegenden Alphabet-Scheiben formte er Sätze, die auf ein göttlichen Prinzip weisen und aristotelischen Regeln folgen. In diesem System bedeutet CBD Güte, Grösse, Dauer.

In der Psychologie ist es logisch, ja gesetzmässig: Wer klein ist, macht sich gross. Die französische Geschichte liefert Staatsmänner als Beweis. In der christlichen Theologie werden die letzten die ersten sein, und die Ersten die Letzten. Die schwachen sind stark, die Toten werden ewig leben. Wenn aber das Symbol und der Referent eins sind, stehen wir vor einem Wunder. Eintritt in die Double-bind-Struktur mit Gott. Der Cusanus sah im Zusammengehen von Widersprüchen, ja im Zusammenfallen der Gegensätze das Prinzip des Göttlichen. Später präzisierte Nikolaus, dieses Koinzidenzdenken sei selbst nicht göttlich inspiriert, sondern lediglich eine vernünftige Denkweise des Verstandes, um sich Gott zu nähern, also eine Methode logikgeschulten Glaubens.

Tribar! Escher ist der Andere. Ein optischer Trick, wieder diese Perspektivenverwechslung, die Subjekt und Objekt gleichermassen vergegenständlicht, die Möglichkeit des Selbstbezugs negiert. Wir sind Mitten im Dilemma: Schlagen wir uns auf die Seite paradox, so bleiben die Widersprüche getrennt. Die Orthodoxie aber verleugnet das Andere. Die Widersprechenden umarmen sich im Dunkeln.

Um allgemeinem Unbehagen oder gar nervöser Überreizung vorzubeugen, hilft eine hohe Ambiguitätstoleranz. Zudem schützt sie uns vor vermeintlich befreienden Symbolisierungen, welche uns identitätspolitisch objektivierbar machen. In der Welt linearer Widersprüche und dualer Dilemmata brauchen wir uns nicht zu entscheiden. Die Linie und die Zweiheit sind metasprachliche Metaphern, sie haben in Wahrheit weitere Dimensionen. Wir brauchen nur, unsere subjektiv wahrscheinliche Zustimmung zu den gegensätzlichen Optionen abzuschätzen. Damit behalten wir unsere Souveränität und die objektive Transzendenz. Die subjektive Wahrscheinlichkeit ist der rationale Common sense, bewertet mit Prozentangabe der Zustimmung. (Wenn eine unserer Überzeugungen eine höhere subjektive Wahrscheinlichkeit hat (nahe 1), dann ist auch unsere rationale Überzeugung stärker. Margaret Cuonzo auf dem Kosmos-Büchertisch). Unsere Wahrscheinlichkeit objektiver Wahrscheinlichkeit. Das Unmögliche kann sich ereignen.

(Die Scheu vor Widersprüchen ist antike Vernunft. In der klassischen Logik lässt sich alles beweisen, wenn das Bivalenzaxiom der Wahrheitswerte niacht akzeptiert wird, wenn wir einen Widerspruch zulassen. Die parakonsistente Logik erlaubt Widersprüche innerhalb eines logischen Systems, beschränkt aber bestimmte Regeln, damit sich aus diesen Widersprüchen nicht alles Beliebige schliessen lässt; daher wird sie nicht-explosiv genannt.) Das Unmögliche geschieht immer explosiv-logisch. Zudem wissen wir mit Heisenbergs Unschärferelation, dass zwei komplementäre Eigenschaften nicht gleichzeitig beliebig genau bestimmbar sind. Die philosophische Unsicherheit über die Bedeutung bedingter Wahrscheinlichkeiten kommt dabei erschwerend hinzu.

David Hume hält beide Aussagen für richtig, obwohl sie sich widersprechen: 1. Über Geschmack lässt sich nicht streiten. 2. Wir können gute von schlechter Kunst unterscheiden. Beide Sätze sind wahr. Es ist alles rundum in Ordnung. Die Empfindung ist immer wahr, weil sie auf nichts ausser sich Beziehung hat. Aber alle Bestimmungen des Verstandes sind nichtig, weil sie eine Beziehung auf etwas ausserhalb haben; Dinge, Begebenheiten. Schönheit wohnt allein in der Seele. Guter Geschmack ist Common sense. In der philosophischen Systematik der Paradoxon-Lösungsstrategien kommt Hume  in die Kategorie Picobello. No Problem, Sir. Sie dürfen das gerne so stehen oder anders liegen lassen. Life is a boomerang. Ein Ritt auf Kreisläufen. Ihr siebt Mücken aus und verschluckt Kamele. Wahrheit erkennt man am guten Geschmack.

Junge im Mondlicht

Wie verlogen jedes Buch allein dadurch wird, dass jemand es veröffentlicht hat. Die Öffentlichkeit wimmelt von inkompetenten und böswilligen Lesern. Um die Wahrheit zu sagen, muss man mit eigenen Worten sprechen, so Sokrates. Mit der Verbreitung des Vokalalphabets im antiken Griechenland bildeten sich neue mediale Praktiken heraus, Schreiben und lautes Lesen; auch neue Wortfelder, in denen sich diese Praxis im Verborgenen festkrallte. Vollbespuckte Schriften moderten durch die Zeiten, bis durch leises Lesen die Wahrheit verschwand und Giftfrösche die Bibliotheken regierten. Die Urkraft der Sprache ist Bubers Du-sagen, ursprünglich eine kasusähnliche Anrufform. Die Vokativphrase ist in den meisten Artikelsprachen durch Abwesenheit dieses Determinativs gekennzeichnet. Die alten Griechen haben mit dem unscheinbaren Begleitwort das grammatische Geschlechts entdeckt. Das passte zum heliozentrischen Weltbild und zum harzigen Weisswein. Anaxagoras sah, dass der Mond sein Licht von der Sonne hatte, die sicher grösser als der ganze Peleponnes war. Es gibt keinen Grund, etwas zu schreiben. Die Arbeiterinnen besteigen das Spielgelände, die Kopftücher unter dem Kinn geknotet, Hufe und Klauen an den Füssen: Mondfinsternis!

Das Abendessen schmeckte gut wie immer. Die Kartoffeln musste man mühsam schälen, die Schale schmeckte papierig und war gleichzeitig rau wie die Rindszunge am Sonntag. War die Haut weg, belagerte die Wärme und Stärke das Zentrum der erstaunenden Lebenslust. Butter und aromatisiertes Tafelsalz wirkten auf den wachen Jungen, verstärkend auf Neugier und körperliche Präsenz. Vater und Mutter schwörten, dass ihr Nachwuchs aufgeweckt werden würde, von ihnen gemeinsam, wenn die Zeit gekommen, den Durchgang des Erdschattens durch den vollen Mond mit eigenen Augen zu bestaunen. Die klare Nacht versprach ein kosmisches Spektakel, vergleichbar vielleicht dem besten Käse. Mit der bildlichen Vorstellung der durchbläuten Mondfinsternis und dem gesättigten Urvertrauen war der Schlaf tief und unaufgeregt. Doch als Licht einfiel und der nächtliche Schlaf dem Bewusstsein den Stab der Gewalt übergab, wurde er gewahr: Es gab kein Erlebnis des himmlischen Schwinden und Werden, das Gedächtnis leer, der letzte Eintrag die geschwellte Schwurszene.

Beim Frühstück, einer Schale Kefir mit gedörrten Beeren und Nusskrokant, übergab der Knabe seine Enttäuschung über die entgangene Sensation und das gebrochene Versprechen auf den Familientisch. Erstaunte Gesichter: Alle versicherten, dass er dem Schauspiel beigewohnt und sich zustimmend zur Erscheinung des Ereignisses geäussert habe. Ich bin ein Anderer, durchzuckte Rimbaud in subjektivierter Form den Goof, und seitdem führt er ein idealisiertes Bild des Sekundenleermondes in sich. Das Gedächtnis scheint mit dem Controller verbunden, wir können das Zusammenspiel von abspeichern und abrufen gewinnen, wenn wir Einbildung und empirische Überprüfbarkeit als Genderzeugs erkennen: Der Beweis, dass die Kongruenz von Mondphasen und der femininen mens ein patriarchaler Mythos sei, gilt auch für sein Gegenteil – die Varianz ist riesig, der Durchschnitt enspricht dem nichtsiderischen Zyklus. Der innere Vollmond! Der verdunkelte Mond nährt sich an den Bäuchen und Seelen der Menschen, er saugt mit dem Trinkhalm des Schöpfers auch Blut der Kreaturen. Traum und Tragik sind Geschwister. Der Junge somnambuliert.

Der Himmel ist nachts fein gerippt, ein königsblauer Plisse-Jupe. Wenn er als Lichtwind zur  Faltigkeit aufsieht, schaut er ein Kippbild. Vollmond und Leermond sind nicht durch zyklische Mondphasen verbunden, es gibt keinen Halbmond und keine Sichel, nicht mal Alt- und Neulicht, nur Hell und Dunkel. Die eigene Bewegung wird zum Stroboskop. Luna mentitur. Die Römer hielten den Mond für einen Lügner, weil das sichelige c für crescens steht, das Nachtlicht aber descens war. Der Junge lebt hier, weil hier Schrift und Mondphase versöhnt sind. Und hier der Vollmond dann zum Himmelsthron steigt, wenn die Sonne sich schlafen legt. Hier und jetzt!. Hic et nunc. Die Helvetier haben die Römer besiegt. Kernschattenfinsternis. Doch der Vollmond behauptet das Recht der Ersten Nacht.

Der Junge schwebt in der Luft, hochgezogen an dünnen Seidenfäden. An einem Bein ist er mit einem Kabel verbunden. Wenn er seine Hand der ebenfalls aufgehängten Schere nähert, kommt diese ihm plötzlich geräuschlos entgegen. Wenn sich sein Mund auf den Kussmund des Mädchens zubewegt, sprühen die Funken. Das Publikum applaudiert. Die Menschenkette aus Gardisten und Kartäusermönchen wird an die Batterie angeschlossen und zucken wie Marionetten. Der König ist amüsiert. Auf dem Friedhof werden Kranke und Lahme am gütigen Grab geheilt, nachdem sie lange zuckten und tanzten. Gläubige schlafen auf dem Grabstein und erleben Wunder. Die Erde um das Monument heilt als Salbe, Paste und Pulver. Wir wissen, dass während solcher Ekstasen Gefühle grosser Befriedigung auftauchen, ähnlich wie in den Zuständen der Hingabe, die dem Subjekt alles in einem schönen Licht erstrahlen lassen. Im Namen des Königs ist es Gott untersagt, an diesem Ort Wunder zu wirken, stand auf einem Zettel am Friedhofstor, nach der Schliessung. Der Mond legt wieder zu.

Die Seidenfäden waren gerissen, das Kabel weg, der durchzuckte Junge ein anderer. Eine Singularität erschien ihm. Das andere Mädchen huldigte ihrer eigenen Mondsucht. Gelegentlich begegneten sie sich auf ihren Mondgängen, gingen sich aus dem Wege, starr vor sich hin blickend. Manchmal beobachteten sie sich gegenseitig beim Schlafwandeln. Berichte beim Frühstück quittierten beide mit Achselzucken. Nachts bei Vollmond begann unter der gemeinsamen Decke ein zärtliches Spiel, kuscheliges Petting, Küssen und Lecken, Schmecken und Stecken. Obwohl sie manchmal auch sehr laut wurden, erwachten sie nie. Die Augen mehr geschlossen, der starre Blick verhängt. Sie lieben sich, bis das Mondlicht schwindet. Beide glauben und wissen sie, dass sie so sind.

Epilog: Mahlers Licht

Die Sonne brüllte über das gespiegelte Bild des Gletschers hinweg, violette Gischt. Speichel tropfte. Kurz fächernder Regenbogen. Der See wurde stumm und verdunkelte sich. Herzkrämpfe durchzuckten Muskelgewebe, die Knochen knurrten und Gedankenfetzen flatterten am Kraterrand des sich verengenden Bewusstseins. Feuchtwarmer Dampf stirnseitig, wenn man genau hinschauen hätte können. Im Zusammensinken war er auf den Rücken gerollt, noch halb gewollt.

Er sah: Marcel kam langsam auf ihn zu, Mund und Augen weit offen. Professor Valentinow stand etwas abseits, die Aktentasche fest umklammert, die Szenerie überblickend, beobachtend, reflektierend.

Ob er es gelesen hatte? huschte in Leuchtschrift vorbei, gleich verblassend.

Er wusste: Die auktoriale Erzählerhaltung schafft Handlungsspielraum, auch für ihn. Die Innenperspektive in Er-Form leistet mentalen Eskapaden Vorschub. Daniel hätte David nicht sterben lassen müssen, gleich beim ersten Herzanfall.

Was der Professor von seinem Skriptum hielt, war plötzlich nicht mehr wichtig. Er konnte jetzt auf eine Zweitmeinung verzichten. Er brauchte diesen sozialen Resonanzraum nicht mehr, Alles war so klar. Die Sache mit der Zeit war für ihn mit diesem Augenblick erledigt. Er hatte den mathematischen Beweis, dass es die Zeit nicht gibt, geliefert. Nach allen Regeln der logischen Vernunft, bis zum quod erat demonstrandum. Mit diesem Wissen hatte bei ihm der Glaube angefangen. Er glaubte an sein Wissen, er konnte es jederzeit beweisen. Die Anderen wollten seinen Beweis nicht akzeptieren und verharrten deshalb im falschen Glauben, dass es Zeit gäbe. Aber das war ihm jetzt egal. Ihm ging es um die Sache an sich, an sich selbst. Er hatte das gerichtete Kontinuum der Zeit als menschliche Antwort auf das Rätsel des eigenen Todes enttarnt und damit den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik als deren Verlängerung in die Physik und Kosmologie. Die Welt versinkt nicht in Kälte und Unordnung. Es ist: Ich bin warm und wahr. Zudem wissen wir seit Planck, dass der sogenannte Zeitstrahl unterhalb dem kleinstmöglichem Zeitintervall quantisiert, diskret springt, zu einem Zeitteilchen wird. Wie beim Licht, nach Einstein. Das kleinste Intervall ist definiert als die Zeit, die Licht braucht, um eine Plancklänge zurückzulegen. Es wird eine Wurzel gezogen aus dem Produkt der Gravitationskonstante und der Boltzmann-Konstante (ein weiteres axiomatisches Planck-Geschöpf!), das Produkt geteilt durch die Lichtgeschwindigkeit hoch drei. So geht das. David wischte sich den Mund. Die absolute Länge eines Plancks ist deshalb verdammt klein, die negative Zehnerpotenz muss fünfunddreissig mal wiederholt werden. Wir befinden uns hier ausserhalb experimenteller Messbarkeit. Theoretische Physik ist mehr Poesie, konkrete Wortwörtlichkeit. Jedes Objekt, das einen Vorgang kürzer als in Planck-Zeit durchlebt, wird zur Singularität. Das trifft auf den Urknall zu. Die Theorie besagt, dass danach die Planck-Ära folgt, für genau eine Planck-Zeit lang. Und dass dieses Zeitintervällchen physikalisch beschrieben werden kann. Doch doch, eben mit diesem Planck-Wortschatz und der weiteren Dimension in den Proportionalitätsfaktoren der mathematischen Gleichungen. Den theoretischen Naturkonstanten. Er steckte sein Taschentuch wieder ein. Es gibt sie, die Weltformel, in unendlicher Anzahl. Marcel schaute ihn fragend an.

Ja, alles in Ordnung, siehst Du doch, dachte er. Die Infinitesimalrechnung war für die Jesuiten eine Gotteslästerung: Bei Newton und Leibnitz bestehen Kurven aus winzigen Geraden, der Kreis wird zum Quadrat quantisiert. Rechnerei wie positive Wissenschaft sind mit Fehlerwahrscheinlichkeiten geschlagen, statt durch wahre Schönheit Glaubhaftigkeit zu verbreiten. Experimente mit Lichtgeschwindigkeit sind gar nicht möglich, weil sich zwei unterschiedliche Messpunkte nicht ausserhalb der Lichtgeschwindigkeit koordinieren können. David verwarf auch die Relativitätstheorie. Wie konnte Einstein nur auf die Idee kommen, Masse und Energie ausgerechnet mit der Quadratur der angeblich absoluten Lichtgeschwindigkeit zu korrelieren, ja festzunageln? Gotteslästerung wird es wohl nicht sein, das ist auch so eine theoretische Naturkonstante, dachte er. Aber wenn die Geschwindigkeit des Lichtes so schnell ist, dass wir sie nicht messen können, wie sollen wir dann das Verhältnis von Masse und Energie verstehen und persönlich leben, wenn da auf der einen Seite das nicht Bezifferbare, die unerkannte Unermesslichkeit mitwirkt? Die Atombombe als Naturkonstante? Nein, Masse und Energie standen in einem engeren Äquivalenzsystem, eher wie Materie und Geist.

Die Glaubensformen in Bereichen extremer Kleinheit und extremer Grösse, in der Atomphysik wie der Kosmologie, sind den stärksten Veränderungen unterworfen, das fand er bei Janet bestätigt. Vor ihm lagen die semantische und mathematische Mechanik der Naturkonstanten offen wie das Skelett im Schauraum. Natürlich ist es auch eine Frage der Systemgrenzen und des Standpunktes, ob Formulierungen korrekt sind und welche Äquivalenzsysteme die Begriffe bilden. Aber mit jeder weiteren Potenzierung einer bisherigen Konstante konnte eine Neue definiert werden. Und mit den Wurzeln verhielt es sich ebenso. Die Liste der Naturkonstanten ist unbegrenzt. Aber jede neue Naturkonstante braucht ihr eigenes Nominalsystem. Das Dilemma war unlösbar, es versteinerte vor seinen Augen zum Paradoxon.

Marcel wollte von all dem nichts verstehen, aber er war von seinem mathematischen Genie überzeugt. Manchmal sagte er zwar Du spinnst!, aber er bewunderte seine Fähigkeit, die abstrakten Zahlen hinter dem Chaos zu erkennen, ganz ohne Rechnen. Schüttete man eine Handvoll Rosinen auf den Tisch, so genügte ihm ein Blick, um die genaue Anzahl festzustellen. Das prüfte er nur einmal nach. Zuerst hatte er sich verzählt.

Marcel half ihm auf. Der Gleichgewichtssinn kehrte torkelnd zurück. Sie wandten sich vom Professor ab und gingen langsam Richtung Bahnstation. Eine Kinderschar rannte die Treppe herunter, Richtung Ufer, dahinter erwachsene Ratschläge. Das ist ja noch mal gut gegangen, meinte Marcel, ich fahr Dich jetzt nach Hause.

Er dachte an Katy. Vor seinem inneren Auge ihre Aura, regenbogenhaft. Die verschiedenen Rollen in diversen Systemen müssen durch eine Naturkonstante zusammengehalten werden: der eigenen Identität (eI), eine der veralteten David-Naturkonstanten. Da die eigene Identität auf der materiellen Ebene wenig Kontinuum aufweist, befinden wir uns im neuronalen Teil, auf der Energieseite. Jetzt wusste er, wie ein Lichtteilchen fühlt. Die Wahrheit ist der Massstab des Wahren und des Falschen.

Nein, dieses Herzflattern bedeutete nicht sein Ende. Lediglich eine Politur seines Wortschatzes.

⌈ Louis Philippe ⌉

Auf Schloss Reichenau bei von Tscharner, Weindegustation. Und wenn Gian-Battista einmal im Jahr auf die Jagd nach Hirschen und Wildschweinen geht, fühlt er sich wie ein Monarch aus dem Märchen. Neuübertragung aus höfischem Mittelfranzösisch.

Für die französische Gesellschaft und das Staatswesen bedeutete der Wandel des Zweiten Standes vom Land- zum Hofadel eine schwere Belastung. Tausende von Aristokraten wohnten in Versaille, die strengen Winter liessen Likörflaschen platzen. Ein riesiges Adelscamp. Im Schloss weder fließend Wasser noch fest installierte Toiletten. Das Leben bei Hof bedeutet Verzicht auf Privatsphäre. Die Königsfamilie nahm selbst gewöhnliche Mahlzeiten vor Publikum ein und auch die Niederkünfte der Königinnen waren öffentliche Ereignisse. Als Ludwig XV. im Trianon an den Pocken erkrankte, wurde er eilig ins Versailler Schloss gebracht, um dort unter den Augen des Hofs zu sterben.

Ich bin mehrfacher Nachfahre des Sonnenkönigs. Mein Vater stammt von Philippe ab, dessen Bruder, wir sind alle Bourbonen. Meine Mutter stammt von einer Tochter ab, die er mit der Blois machte. Siebzehn Kinder von fünf Frauen. Ich stamme auch von seinem Sohn Louis-Alexandre ab, den er mit der Montespan hatte. Der Marquis de Montespan erstaunte den Hof, indem er sich offen über die Untreue seiner Ehefrau empörte. Diese gebar dem König sieben Kinder, nachdem sie Louise als maîtresse royale en titre verdrängt hatte.

Mir ist das zuwider, diese sexualisierte Machtfülle, diese verschwenderische Vergöttlichung, diese absolute Rangordnung. Es liess mich kalt, als Le Grand und die anderen mumifizierten Könige in Saint-Denis ausgegraben und vor der Kathedrale dem Volk zu Schau gestellt wurden. Jetzt sind alle zurück in der Krypta, im Ossarium, die Knochen nicht mehr einzelnen Individuen zugeordnet. Ich trage wie mein Vater den Namenszusatz Égalité. Ich verkehrte im Jacobinerclub, besuchte die Nationalversammlung, bis ich ins Militär musste. Meine Truppen griffen Neerwinden frontal an, aber das Gefecht ging hin und her. Wir mussten schliesslich zurückweichen. Die Nacht beendete die Kämpfe. Die Hälfte unserer Soldaten verschwand im Dunkel, spurlos. Ich ging mit General Dumourier Richtung Paris. Damals wusste ich nicht, dass er entmachtet worden war, weil er als Girondist gegen die Tötung des Königs war, einem Urenkel unseres gemeinsamen Ahnen. Nun war ich in politische Wirren geraten, Komplizenschaft mit einem Hochverräter. Ich  musste weg. Meine Mutter und meine beiden Brüder im Pariser Gefängnis.

Mit der Ehrendame meiner Mutter, Madame de Genlis, und mit meiner kleinen Schwester reisten wir unerkannt durchs deutsche Reich in die Eidgenossenschaft, zu entfernt Verwandten in Bremgarten. Ein idyllisches Landstädtchen mit einer gedeckten Brücke. Doch da wimmelte es nicht nur von Anhängern des Nationalkonventes, sondern auch von Exilanten, so dass uns bald Gerüchte zu Ohren kamen, dass über uns „Höflinge“ die Nasen gerümpft werden. So entschloss ich mich, alleine weiterzureisen, auf Empfehlung der Genlis nach Reichenau, wo sich der vordere und der hintere Rhein verschwistern (im Original: verbrüdern – d Vf.). Der Schlossherr Tscharner führte ein pädagogisches Institut zur Erziehung der Jugend zu Natürlichkeit, Vernunft und Menschenfreundschaft. Da fühlte ich mich am rechten Ort und war unter Gleichgesinnten. Ich wohne in einem hellgrünen Zimmer, mit eigener Toilette, im Gartenflügel, und unterrichte Geometrie und Geographie, als Monsieur Chabos. Religionsunterricht erfolgt hier ökumenisch und Körperstrafe ist verpönt. Ich werde von niemanden auf meine Herkunft angesprochen, aber öfter mal komisch angeschaut und beobachtet. Jemand legte mir das Bündner Wochenblatt vor die Zimmertür, worin ich die Nachricht über die Exekution meines Vaters lese. Obwohl er für die Enthauptung des Königs gestimmt hatte. Da spiele ich Chabos und bin nun Thronanwärter der Orléans.

Ich stelle mich der Aufgabe und fahre zu Dumouriez, der in Hamburg den Respekt wahrt und Fäden zieht. Mit dem Tuileriensturm hatte sich seine Frau ins Kloster abgesetzt. Ich weigerte mich, den Thronanspruch auszusprechen, liess Pläne zur Übersiedlung nach Neuengland verlauten und besuchte Verwandte in Skandinavien. Nachdem Robespierre endlich selbst gerichtet worden war, liess das neue Direktorium verlauten, dass meine Mutter und meine Brüder  freigelassen würden, wenn ich nach Übersee verreise. So traf ich meine Brüder in Philadelphia, bis vor Kurzem Hauptstadt und die größte Stadt der Vereinigten Staaten sowie nach London die zweitgrößte englischsprachige Stadt der Welt. Paris ist aus dem Lot. Bereits das zweite englische Jahrhundert.

Die radikalen Republikaner holten Napoleon als Militärchef nach Paris und begannen erneut mit Säuberungen. Meine Mutter musste nach Spanien ins Exil, andere wurden nach Neukaledonien verfrachtet. Ich bereiste mit meinen Brüdern Neuengland und lernte interssante Leute wie Clinton, Gouverneur von New York, und Washington, den amerikanischen Präsidenten, kennen. Aber wir konnten unsere Mutter nicht im Stich lassen und nahmen auf Anraten des spanischen Hofes die Reise über New Orleans nach Havanna (jetzt ist er weg, der Aigu: Der Bien-Aimé, Enkel des Rois-Soleil, musste unser bourbonisches Nouvelle Orléans den Spaniern abtreten als Ersatz für Florida, das George III. den Spaniern wegnahm. Kanada war auch weg. Jetzt war er Mal-Aimé :). In Havanna blieben wir hängen, die europäischen Wirren verhinderten die geplante Überfahrt nach Spanien ein volles Jahr. Schliesslich mussten wir auf Geheiss der Spanier Kuba verlassen. Wir besuchten die Bahamas und reisten dann in den Schutz der britischen Krone. Ich sass nun höflich an der Themse, umgeben von französichen Exilanten, auch Dumouriez war da. Ich hielt schön die Waage zwischen Loyalität zur Familie und zum Thronfolgeanspruch der Könige von Frankreich und Navarra einerseits, und den royalistischen Kriegsgurgeln andererseits. Die Vernunft wird siegen. Doch der englische Nebel bekam meinen Brüdern nicht. Die Schwindsucht befiel sie nacheinander. Meine beiden Brüder tot. Die Mutter am falschen Ort in den Armen des fahlen Rouzet.

Da kam die Einladung vom spanischen Ferdinand nach Palermo genau richtig. Er hatte mit Maria achtzehn Kinder, davon elf Töchter. Da musste auch etwas für mich sein. Sizilien ist das Paradies, ich erhielt die Amalia, Maria heissen auch alle ihre Schwestern. In Europa wütet Napoleon und hier diese Ruhe. Dieses Klima. Drei Kinder bekam ich hier. Nachdem die Alliierten in Paris einmarschierten kam die Stunde für meinen Coucousin Louis der Anpasser. Der Kaiser wurde abgedankt, so musste wieder ein König her. Das geschah nun durch einen konstitutionellen Akt der politischen Nation. Die europäischen Königshäuser hatten wieder Ruhe und die Republik nahm Form an. Der Tsar kaufte dem Kriegsverlierer die Insel Elba und Napoleons Aussenminister Talleyrand legitimierte Louis dynastisch. Der ausländische Adel bediente sich am französischen Hof, bis er nochmals vor Napoleon fliehen musste. Waterloo brachte den Dicken Louis wieder auf den Thron. Im Zentrum der Macht wurde er zum Moderator, an der Peripherie wütete alter Gegenterror. Im zweiten Winter, der ganz Europa gefrieren liess, versprach er Generalamnestie für Lebensmitteldiebstahl, präventiv. Danach politisierte er einige Jahre links, dann weitere Jahre rechts. Ich bekam sieben weitere Kinder. Ich wurde reich und schickte meine Kinder in die staatliche Schule. Louis prahlte wie Vespasian, „Kaiser sterben stehend“, doch landete er im Rollstuhl. Immerhin schaffte er es, im Amt zu sterben.

Sein jüngerer Bruder hatte darauf gewartet und so folgte ihm Karl der Reaktionär, ganz im Stil der ultramontanen Anciens (Ancients, von Hand über das französische Wort geschrieben. Kein t dazwischengequetscht!:). Als schliesslich die ganze Regierung aus Priestern bestand und es wieder Sommer wurde, folgte die zweite Revolution. Diesmal mit brennenden Barrikaden in der Stadt (warum stehen eigentlich Ausrufezeichen immer in Klammern!). Doch die Republikaner scheuten den Alleingang, gegen die heilige Allianz, die Gegner der grossen Revolution, diese Reaktionäre und Zeitumdreher. Eine Parlamentsdelegation schlug mir darum die Sache mit dem Bürgerkönig vor. Karl dankte ab und ging nach England, ich warf mir die Trikolore über und wurde vom Parlament zum König gewählt. So ging das. Nachher wurde es schwierig. Meine strengsten Jahre kamen, Eisenbahnbau, Strassen, Tunnels, Brücken, Finanzwesen, Schächte, Kolonialhandel. Viel Arbeit, viel Wohlstand, viel Armut. Fast zwei Jahrzehnte Stress. Sieben mal wurde auf mich geschossen. Dann wurde der junge Napoleon in der ersten nationalen Volkswahl zum Präsidenten der Republik und des Staates Frankreich gewählt. Ich hatte meinen Königstitel, aber war meinen Job los. Seine erste Amtshandlung war, Truppen gegen die römische Republik auszusenden und den Kirchenstaat zu verteidigen. Soldatenkönigsbärtige Kriegsgurgel (!). Die undurchschaubare junge Victoria bot mir ein nettes Landwesen an und so war ich wieder an der Reihe, nach England zu reisen.

Ich habe den Fehler gemacht, im Sonderbundskrieg die Urschweiz zu unterstützen. Mir fehlten Informationen zum historischen Entwicklungsstand der Rivalen. Oder hätte mich bei meinen britischen Kollegen erkundigen sollen, die den menschenrechtlichen Freiheitsbegriff in Schutz nahmen. Ich träumte von der Eleganz der vernünftigen Rasur. Dafür muss ich mich bei Johann Baptista von Tscharner entschuldigen. Er arbeite und ruhe in Friede. Mich beschäftigt, wie personale Subjekte die Frequenzen und Wiederholungsmuster der Geschichte beeinflussen können. Ein politisches Familiendrama: König, Revolution, Republik / Konsulat, Kaiser, Revolution, Republik / König, Revolution, Republik / König, Revolution, Republik  – das ist auf jeden Fall zu viel. Torkeln, Wiederholungsschwindel. Als es Sommer wurde, ja, jetzt spüre ich ihn wieder, diesen warmen Aufwind. Lege mich hin und entschwebe.

Paineliche Staatsreligion

Sehr alte Religionen kennen keine politische Kirchenorganisation. Priester und Tempeldiener kommen aus der Mitte der weitverzweigten Tempelfamilien, die das Heiligtum seit jeher verwalten und bewirtschaften. Mit dem Monotheismus kommt das eine Gottesvolk und eine staatsförmige Kirchenstruktur. Die katholischen Kirche rettete das römische Kaisertum in ein neues Gewand. Die Reformation legte liberalem Denken und republikanischem Individualismus den Grund. Die Anglikanische Gemeinschaft will keine Kirche sein, aber unsere liebe Elisabeth II ist – ungefragt – Oberhaupt der Church of England. In der ökumenischen Theologie gilt sie deshalb wie der Papst als globales Gesicht der Christenheit, christliche Markenträgerin. Aber da gibt es wirkungsvollere Influencer: Der Schattenwurf Zwinglis verdunkelt selbst Luthers Merkel, die Inkarnation vernünftiger Nächstenliebe.

Henken, Kopfabschlagen, Verbrennen und Ersäufen gingen munter weiter, man durfte dank Zwingli aber am Freitag Wurst essen, sogar am Karfreitag. Bilder und Musik verschwanden aus Religion und Kirche. Die emotionale Fastenkur schärfte den Geist, so dass er Licht als Mittel zur Aufklärung erkannte. Vernunft ersetzte die Religion im Namen der Freiheit und der Gleichheit. Die Landeskirchen werden verfassungsrechtlich und gesetzlich gesteuert, auch wenn unsere Verfassung mit „Im Namen Gottes des Allmächtigen!“ beginnt. Die Macht auf Erden gehört ganz der menschlichen Politik. Das ist die Geburtsstunde der Dystopie. Als Nachfolge der Apokalypse. Vor dem letzten Weltkrieg schrieb Aldous Huxely Brave New World, Warnschrei vor dem Faschismus und heute abiturrelevant wegen der zeitlosen Ethik-Preziose Anti-Totalitarismus. Bruder Julian Huxely wurde nach der Kriegskatastrophe erster Generalsekretär der Unesco und arbeitet an einer neuen gemeinsamen Weltreligion, welche das aktuelle Wissen integriert. Die Darwinistensprosse redeten von evolutionärem Humanismus und schrieben Atheismus im Namen der Vernunft. „Gott ist eine vom Menschen erdachte Hypothese bei dem Versuch, mit dem Problem der Existenz fertigzuwerden.“ Solcher Anti-Theismus ist Ausdruck vulgärmarxistischer Noblesse.

Das „Drei-Stadien-Gesetz“ wurde zuerst von Thomas Paine formuliert und dann durch Auguste Comte zum Generalbass der Moderne: Anfänglich lebte der Mensch in der Religion, später in der Klassik der Metaphysik, dann in der reinen positiven Wissenschaft. Die Teleologie säkularisierter Theologie fährt an die Wand der Vernunft. Am 26. Juli 1794 wurde Robespierre während einer Rede an das Parlament in und durch dieses verhaftet. Zwei Tage später durch den Nachfahren einer schottischen Henkersdynastie guillotiniert, Sanson. Dieser hegte eine besondere Abneigung gegen das erbliche Gewerbe seiner Familie, weit er eine Klosterschule verlassen musste, um die Reputation der Bildungseinrichtung nicht zu gefährden, nachdem sein daddy durch den Vater eines Mitschülers identifiziert und geleakt worden war. Die Grossmutter pfiff ihn von der holländischen Uni zurück, als sein Vater wegen einer plötzlichen Lähmung den Familienberuf nicht mehr zum Gelderwerb ausüben konnte. Sein Gesellenstück lieferte der junge Sanson bei der Hinrichtung des Königsattentäters Damiens, als Assistent seines Onkels – der Alte hängte danach seinen Beruf an den Nagel. Der Junge bekam den blutroten Mantel des Henkermeisters, erwarb sich den Ruf „Monsieur de Paris“ und enthauptete Robespierre mit vierzig Jahren Berufserfahrung und dem gleichen Arbeitsgerät, mit dem er drei Jahre zuvor den abgesetzten König hingerichtet hatte. Ein Jahr nachdem die Revolution ihre ersten Kinder gefressen hatte, zog er sich krank aus dem Familienunternehmen zurück. Sein Sohn zog es weitere siebenundvierzig Jahre durch, sein Enkel musste die Guillotine wegen Spielschulden verpfänden und wurde seines Amtes enthoben.

Robespierre, der gegen die Kirche den rationalen Kult des höchsten Wesens vertrat – dies wurde für einige Monate in der Verfassung als französische Staatsreligion verankert -, hatte einige Monate vor seiner Hinrichtung Paine inhaftieren lassen, der seinerseits einen philosophisch kaum unterscheidbaren Unitarismus vertrat – die Religion der amerikanischen Unabhängigkeitsbefürworter. Wie später Lenin argumentiert Robespierre mit der Absolutheit des Gemeinwillens, der den Einzelnen unterordnet. Ohne Terror ist die Tugend machtlos. Vier Tage vor seiner geplanten Hinrichtung wurde Paine bei offener Zellentür von einem Arzt auf seine Guillotinentauglichkeit überprüft, während ein Gefängniswärter die Zellentüren der Todeskandidaten markierte wie der Förster das Fallholz. Als die Henkersknechte ihre Fallbeilopfer holen, ist die Zelltüre geschlossen und die Markierung im Innern der Zelle bedeutet dem Insassen Verschonung. Am Tag der Verhaftung hatte er sein epochales „Zeitalter der Vernunft“ fertiggestellt, ein Bestseller. Nach fünf Jahren Grundschule hat sich Paine als Autodidakt zu einem führenden Intellektuellen im  angelsächsischen Raum und dem ganzen Abendland gebildet. Sein Buch common sense war die Grundlage der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Dann schrieb er Rhights of Man und verteidigte die französische Revolution. Wegen seiner Bücher wurde er in England für vogelfrei (outlawry) erklärt und floh nach Frankreich, wo er sich als Abgeordneter in der Nationalversammlung gegen die Hinrichtung des Königs aussprach.

Der eine Generation jüngere Unterhausabgeordnete Cobbett schrieb eine Schmähschrift gegen den francophilen Paine, worauf er als Porcupine verspottet wurde – den Begriff aus den Kolonialgebieten in Südasien legte er sich streitlustig gleich als Pseudonym für seine weiteren Pamphlete zu. Die britische Regierung bot ihm Geld, weil er so stramm das Königshaus vertrat, er lehnte ab (Sie wissen: Ein Gentleman weist eine Bestechungsofferte von sich). Schliesslich hatte ebendiese ihn nach Frankreich und schliesslich in die USA getrieben, weil er zu Hause vor Gericht hätte erscheinen müssen: Der in Nordamerika eingesetzte britische Soldat hatte seinen Vorgesetzten Korruption vorgeworfen. Nicht schon wieder! In Neuengland hatte er richtige Lämpen, Geldstreit mit Schlägerei, und so floh er zurück nach England. Und jetzt bieten die mir Geld an. Hausschweine!

Auf Einladung Präsident Jeffersons kehrte Paine 1802 nach Amerika zurück. Er war dort wegen des Zeitalters der Vernunft in Ungnade gefallen und wurde von der föderalistischen Presse bei seiner Ankunft als verlogener, versoffener und hemmungsloser Ungläubiger verleumdet. Einsam und verbittert verbrachte Paine seine letzten Jahre, ungebrochen schrieb er weiter politische und religionskritische Artikel. Letztere wurden später als Dritter Teil des Age of Reason herausgebracht. Paine starb in New York City. Sein letzter Wille, auf einem Quäkerfriedhof bestattet zu werden, wurde ihm verwehrt. Sein Lebensmotto lautete: „Die Welt ist mein Land und Gutes zu tun meine Religion.“ Verstossen und vergessen der Glücksvogel aus dem Pariser Gefängnis: Dem Sarg von Paine, dem geistigen Gründervater der Vereinigten Staaten von Amerika, folgten sechs Personen. Cobbet aber buddelte seine Gebeine aus und liess sie in England verschwinden. Während Napoleon konsularisch sein neues europäische Kaiserreich bereiste, verdiente Cobbett sein Geld als Verleger und Sprachrohr der Arbeiterklasse. Darum ist der Geist im amerikanischen Präsidialamt derart unruhig.

 

Diagnose: Dolor dolus eventualis

Der Bribery Act 2010, das aktuelle britische Antikorruptionsgesetz, ist das schärfste Gesetz gegen Unsitten, persönliche oder unternehmerische. Ein Gentleman der Krone ist unbestechlich und willigt niemals in eine Schmiergeldzahlungserwartung ein. Bezahlung der Drinks und weiterer Wünsche der Dame, welcher man die Hand auf den Oberschenkel legt und ganz, ganz langsam Richtung Scham hochfährt, dann aber eine geschmiert kriegt, sind nicht Gegenstand dieser Verhaltensregeln. Der Lordkanzler und Staatssekretär der Justiz wird sich dahinter klemmen müssen. Wahrscheinlich wird er es gleich machen wie bei der Korruption: Die Unternehmen müssen eine seriöse Risikobeurteilung vornehmen, sie müssen durch das Topkader alle Mitarbeitenden auf ein Programm zur Übergriffs-Prävention einschwören, sie müssen ihre Geschäftspartner bezüglich sexistischer Äusserungen oder respektlosem Verhalten dem anderen Geschlecht gegenüber überwachen. Die Unternehmen müssen selbst klare Anweisungen und differenzierte Untersuchungs- und Sanktionsvorgehensweisen definieren und erlassen. Das Compliance-Programm muss dann intern regelmässig in seiner Wirkung gemessen werden können. Und alles muss extern überprüft werden. Wenn all diese Bedingungen erfüllt sind, steht ein Unternehmer ausser Verantwortung, falls eine mitarbeitende Person ohne sein Wissen gegen den Bribery Act verstossen hat.

So werden Unternehmer zu Verwaltern, nur noch wenige teilen die Sicht der Eigentümer und Investoren. Die Post muss sich von der Wettbewerbskommission vorwerfen lassen, ihr Tarifsystem für Geschäftskunden sei so uneinheitlich und kompliziert, dass dies einer Diskriminierung der besser zahlenden Kunden gleichkomme. In Anbetracht der Gesamtumstände hat die WEKO eine Sanktion in Höhe von insgesamt 22‘622‘641 Franken ausgesprochen. Diese Formulierung kann nicht der Ermittlung des Betrages gerecht werden, die Gesamtumstände sind nicht auf einen Franken genau umzurechnen. Der Preisüberwacher stellt die SBB in den Senkel, weil sie die leichte Budgetverbesserung durch die Senkung der Mehrwertsteuer nicht direkt kundenwirksam verbuchen wollte. Die Finma befahl der UBS Bruch des Bankgeheimnisses und geht gegen den Krisengewinner Vinzenz vor. Der Verwaltungsrichter befielt dem Oberrichter, sein Geschäft umzuordnen und ein Teil der parastaatlichen Beschwerdeführenden vorzufinanzieren. Das Wachstum der Bürokratie ist robust und weitet die Pfründe der Jurisprudenz.

Die Tötung zweier Jugendlicher durch Balkanraser in Schönewerd ist ein Schock für alle Lebenden. Eine zufällige Begegnung zweier Junglenker mit identischem Fahrzeug mündete direkt in ein Autorennen und dann in die Tragödie. Und ja, der hintere Fahrer fuhr am Ort der Katastrophe vorbei. Das Abdrängungsmanöver war schliesslich geglückt. Volksseele oder common sense: Das muss schon ein paar Jahre Gefängnis geben, die brauchen Abkühlung und Ruhe. Killias führt weitere Gründe für eine hohe Strafe an. Das Strafmass legen aber die Gerichte nicht zuletzt auf Grund der Willenhaftigkeit der Straftat fest. Fahrlässigkeit: Sowas kann passieren. C’est pas grave. Vorsätzlichkeit: Du hättest wissen müssen, das sowas passieren kann. Das musste ja so kommen!

Für den Nachweis des Vorsatzes kann sich der Richter – soweit der Täter nicht geständig ist – regelmässig nur auf äusserlich feststellbare Indizien und auf Erfahrungsregeln stützen, die ihm Rückschlüsse von den äusseren Umständen auf die innere Einstellung des Täters erlauben. Nach der Rechtsprechung darf er vom Wissen des Täters auf den Willen schliessen, wenn sich dem Täter die Verwirklichung der Gefahr als so wahrscheinlich aufdrängte, dass die Bereitschaft, sie als Folge hinzunehmen, vernünftigerweise nur als Inkaufnahme des Erfolges ausgelegt werden kann. Was wie eine vernünftige Argumentation klingt, ist sprachlicher Unsinn aus dem Bundesgerichtsurteil. Das Gericht spielt sich als die Instanz auf, die den Wahrscheinlichkeitsgrad ziemlich genau einschätzen kann, mit dem sich die Möglichkeit der Verwirklichung einer Gefahr dem Fahrer aufgedrängt hat. Sowas würden sich selbst forensische Psychiater kaum zutrauen.

Die Wahrscheinlichkeit eines schweren Verkehrsunfalles war aufgrund der örtlichen Situation und seiner Fahrweise derart hoch, dass er sie spätestens im Zeitpunkt des Überholmanövers erkannt haben musste. Dass er den Erfolg nicht wollte, liesse sich nur annehmen, wenn er vor der Ortschaft seine Fahrt abgebremst und damit dem Beschwerdeführer 1 erlaubt hätte, sein Überholmanöver rechtzeitig zu vollenden. Gegen diesen Bundesgerichtstext müssen nun auch logische und sprachphilosophische Einwände erlaubt sein. Auszusagen, dass etwas gewollt passiert ist, weil es passiert ist, ist eine nomalistische Verkennung der Kausalitäten. Auszusagen, dass nur etwas ungewollt ist, wenn es nicht passiert, ist der unzulässige Umkehrschluss dazu. Die Gerichtsschreiber werden richtig schnoddrig: Wenn man etwas „drauf ankommen“ lässt oder gar „in Kauf nimmt“, so hat man das gewollt oder gar bestellt.

Zum Vorsatz gehört nicht nur Wissen und Wollen, sondern auch, sich gegen rechtlich geschütztes Gut zu entscheiden. Das kann man unseren Rasern nicht ernsthaft unterstellen, sie waren nicht auf Menschenjagd. Glücklicherweise kennt das Schweizer Recht den das Wort Eventualvorsatz (der dolus eventualis aus dem Titel, endlich! – d. Hrsg. ich sorge mich um die notorische Unverständlichkeit), der dem Vorsatz nahe kommt: Wenn man etwas hätte für möglich halten müssen (hier: „einen möglichen Erfolg einer Tötung“). Der Gedanken an den möglichen Erfolg einer Tötung wollte bei unseren Balkanis nicht aufscheinen, vielleicht war das Begriffsinventar ungenügend. Den Tätern wird schliesslich auch „pflichtwidrige Unvorsicht“ und „kaum zu überbietende Sorgfaltspflichtverletzung“ vorgeworfen – sprachliche Bausteine juristischer Fahrlässigkeit. Ja, die Sache mit Wollen und Wissen ist für Juristen und Juristinnen gleichermassen schwierig, da sie mit der Sprache und Philosophie des 19. Jahrhunderts die Alltagssprache bedienen müssen.

Wahrscheinlich war ich schulisch noch unterstufig, als ich meinen Vater einmal als zu hart, als ungerecht empfand. Damals entglitt mir ein Teller aus dem Geschirrtrockentuch und zersplitterte am Küchensteinboden. Warum ich da in der Küche Geschirr trocknete, weiss ich nicht mehr. Freiwillig tat ich sowas eigentlich nicht. Auf jeden Fall fühlte ich mich niedergeschmettert, als wäre ich der Teller. „Es war keine Absicht!“ beteuerte ich, doch Vater zeigte auf die Bruchstücke und Splitter. Keine mildernden Umstände. Kaputt ist kaputt. Ich weinte, das wärmte. Das Resultat zählt. Wer weiss schon, wie viel Absicht in fremden und auch in den eigenen Handlungen ist?

In der Neurophilosophie auf jeden Fall gibt es mehr Fragen zum Thema Willen als Antworten. Die Handlungsimpulse scheinen ihren Ursprung im unbewussten Körper zu haben, einige Impulse erreichen auch das Bewusstsein und können dort in Willen transformiert werden. Oder auch nicht. Wir können die meisten Impulse mental übersteuern, wenn wir das für die bessere Lebensweise halten. Auf jeden Fall machen wir das meiste unbewusst. Das Bewusstsein ist nur die Spitze eines neuronalen Eisberges. Das unbewusste Handeln wirkt meist authentisch und ist meistens klar verständlich, während das absichtliche, reflektierte Handeln oder Reden das Gegenüber oft über Motive und Gedankengänge rätseln lässt. Fahrlässig vs. vorsätzlich unterscheiden ist objektiv nicht möglich. Verschärfender Vorsatz kann nur auf die subjektive Aussage des Täters in Form eines Schuldeingeständnisses abstellen. Aber auf die Aussage des Täters vertrauen ist fahrlässig: Der darf vor Gericht sogar lügen. Ich war auch einmal Raser. Und die Polizei bescheinigte mir gutes Sehvermögen. Ich musste zum Augenarzt und die Sehbeschränkung im Fahrausweis bei der Polizei annullieren. Sie hatten gut 180 Sachen auf der Überlandstrasse gemessen, aber nicht aufgezeichnet. Zumindest war das eventualfahrlässig: Ich hätte wissen müssen, dass hinter einer Scheune Polizisten und Messgeräte hätten verborgen sein können.

 

 

 

 

 

In der Vespasienne

Pesche!

Ich blickte zur Seite und erkannte Kimi sofort. Er grinste und stellte sich neben mich vor das Urinal. An Händeschütteln war in dieser Situation nicht zu denken.

Kimi! Grossartiger Zufall! Oder hat das Deine Geheimdienstindustrie eingefädelt? schob ich gleich nach, als ich die Bodyguards seitlich hinter mir spürte. Ich habe alles versucht, um Dich zu kontaktieren, nachdem ich mich entschieden hatte, einen Augenschein in deiner Heimat zu nehmen. Ich wurde überall freundlich abgewimmelt abgewimmelt.

Und? Gefällt es Deinen Augen?

Ich komme aus dem Staunen nicht raus. Ich weiss nicht, was ich von all dem halten soll. Alles so unwirklich. Und plötzlich stehst Du neben mir, alles völlig real. Brutal real. Lass uns Basketball spielen!

Was ist aus Dir geworden? Was suchst Du hier? Das hätt’ ich nie gedacht! Basketball spiele ich nur noch mit Rodmann, eine schwarze Wrestlingbombe!

Ich arbeite als Aktivierungstherapeut in einem Wohnheim und versuche herauszukriegen, wie dementes Denken funktioniert. Und euer Denken ist mir noch mehr Rätsel. Das interessiert mich. Und, wie ist es so als Staatschef und Weltschreck?

Ich bin nicht Staatschef, das macht mein Cousin. Ich sitze dem Verteidigungskomitee vor und versuche, den verpissten Ami zu bremsen. Mein Atomknopf ist grösserer! Wenn ich mit dem am Tisch sitze, hack ich ihm den Zeigefinger ab.

Atomwaffen sind überall Unsinn. Du machst diesen Scheiss mit.

Ja, ja. Die Abrüstungsgespräche beginnen erst, wenn ich mit am Tisch bin. Die Amerikaner haben bei uns Hunderttausende aus der Luft gemordet, die Feiglinge. Ihre Abwehrraketen funktionieren noch immer nicht, sonst hätte Trump es zeigen müssen, als ich über Japan hinweg geschossen habe. Amerika hat verloren. Wir werden uns mit dem Süden vereinen. Der Staat ist im Westen ein Unternehmen. Bei uns Familienangelegenheit.

Darum hast Du deinen Bruder umbringen lassen?

Ich wurde nicht gefragt. Jemand hat die Tradition gewahrt. Das musste einfach sein. Und unser Geheimdienst hat vor laufender Kamera gezeigt, wie man die ganze Welt überlistet. Ich werde seinen Zeigefinger einstecken und ihm die Hand verbinden.

Ja, listig warst Du schon immer.

Führung geschieht bei Euch per Internet. Wer Followers findet, ist der Führer. Der Kapitalismus ist euer Hitler. Befehlsausgabe via Twitter. Der Trump landet auf dem Scheiterhaufen maskierter Ku-Klux-Jihadisten.

Und Du hältst munter gegen das Imperium. Ist bei Dir der zweite Weltkrieg noch nicht vorbei?

Wir sind in der Nachspielzeit. Elvis ist mein Grossvater! Er hat die Halbinsel gerockt. Ich bin nie privat. Ich werde durch das Volk gelebt.

Du bist ein Designerbaby? Du bist nicht einfach so, wie Du bist, sondern so, wie das die Herkunftsinstanz wollte.

Ja, ich bin so, weil das Volk es so will. Ich wurde so geboren Und wir werden uns an den Winterspielen der Welt zeigen. Wie am Raketenhimmel. Ich glaube, die beiden Systeme zeigen bald genug Stabilität und Kohäsionskraft, dass wir uns vereinen können, ohne dass eine Seite Probleme kriegt. Ich freue mich auf die gemeinsamen Basketballmeisterschaften!

Der Ball muss in den Korb, Du wirfst zu hoch.

Wir haben die gemeinsame Flagge dabei. Rot und blau sind gesetzt, das sind unsere gemeinsamen Hausfarben. Gemeinsam sind wir der FCB. (lacht) Ich habe vieles in der Schweiz gelernt. Da musst‘ ich undercover durch. Jetzt bin ich hier Bundesrat.

Ja, die können auch öffentliche Toiletten aufsuchen, sogar alleine Tram fahren. Ich spürte die Ungeduld der Leibgarde hinter uns. Gleich könnte ein Hauch von Ärger meine Nackenhaare erreichen. Ich versteh, dass du dein Wappen weghaben willst, Hammer und Sichel kenn ich ja von den Sowjets, aber mittendrin der Pinsel, das bist doch Du. Einen Moment lang dachte ich, die Leibgarden würden meine Gebärdensprache lesen, da ich ja wieder beide Hände frei hatte.

(lacht. Steckt seinen Pinsel ein – vgl. Wortstamm 🙂 Du Metatapher. Der Kaiser ist nackt?

Ja, sowas. Konseq eben. Deine Herren da hinten werden nervös. Kannst Du mein Wohlergehen garantieren? Die haben sicher kleine Atomraketen in der Hose versteckt. Ich lade Dich zum Staatsdinner am Kaffeeautomaten. Du hast wohl nicht die Kompetenz, mit mir auf einer Parkbank zu essen und Dosenbier zu trinken?

Machen wir in Köniz. Danke. Der uns zugefallen Moment ist vorbei. Ich werde wieder als Monstranz vorgetragen. Unser Kollektivbewusstsein bringt die Objektivität des sozialen Geschehens zum Ausdruck gegenüber den individuellen Motivationen der Menschen. Geht alles weit über Marx zurück. Wenn es gelingt, das kollektive Unbewusste dank Gedächtnisverlust oder gewollter Gedächtnisherabminderung in ein unbewusstes Kollektiv zu verwandeln, gelingt die Vereinigung. Grüss mir Deine Klienten. Die sind auf dem richtigen Weg. Und im Umdrehen: Und schau die Bilder im Vorraum an: So stell ich mir die Vereinigung vor.

Ich wartete einen Moment, bis Kimi und seine beiden Herren die Vespasienne, dann zusammen mit weiterer Entourage auch den Vorraum verlassen hatten. Das schreib ich jetzt wieder zu Hause. Ich liefere jetzt noch eine Bildbeschreibung, ansonsten ist dieser Text am eigenen Ende und ich weiter ratlos: Die Vereinigung als Wahrheit dritten Grades?

Die Kunstinstallation musste etwas mit ihrem kollektiven Denken zu tun haben, es war eine Wand voller Bildtafeln: In der obersten Reihe waren acht Bilder, darunter vier. Die unteren vier zeigten ihre oberen acht und wiesen zudem Logiksymbole auf, die links zweimal Gleichheit bestätigten, rechts aber Ungleichheit. Darunter und direkt über dem Boden eine Wandmalerei, die darstellte, dass der binäre Tafelschwund bis zum Schnittpunkt aller Dimensionen vorgestellt werden soll. Das ganze eine Art neosozialistischer Realismus auf der Höhe der Globalisierung. In Leserichtung dieser Bildbeschreibung zeigten die ersten zwei Bilder ganz oben Signete; einen Korb, eine Einkaufstüte oder Shopper. Darunter in einer Signettafel die beiden Signete und dazwischen das Symbol für Gleichheit. Dann oben recht zwei klassisch gemalte Stillleben mit einem gefüllten Korb und einer gefüllten Einkaufstasche, darunter das Gemälde der Gemälde mit dem Gleichheitssymbol. Weiter eine Signettafel mit Korb und das Gemälde mit gefüllter Einkaufstasche, darunter eine Signettafel mit obigen Abbildungen und dem Symbol der Ungleichheit. Zuletzt: Signet Tüte, Stilleben Korb. Darunter Stilleben mit obigen Abbildungen und Ungleichheitssymbol. Und weiter unten die drei Leerstellen als angedeutete Reduktion auf das zu Grunde liegende Eine.

Die Vereinigung als Wahrheit dritten Grades? Was heisst das vereinigungspolitisch? schrieb ich später unter dem Hashtag Kim Jong-un. Die Wahrheit ist mit der Kreiszahl π vereint. antwortete ein Krimikimi Pinselwitz. Aber das hätte ich alles besser weggelassen. Die Spiele können beginnen.

 

Die Dinge und der Denkierer

Pinwand: Nun ist er weg. Home office bedeutet für uns verlängertes Wochenende. Meine punktierten Kärtchen bleiben. Du wirst Deinen content endgültig verlieren.

Papierkorb: Gut so. Ins Feuer mit der maculatura! Nur so können die seltenen Handschriften vor Grabschändern gerettet werden. Ich liebe die Leere. Weder Mikrofischen noch Nanopartikel. Ich halte meinen Kasten sauber. Wenn Du einen Zettel fallen lässt, lass ich ihn daneben flattern.

Pinwand: Seine Einfälle und Erkenntnisse sind mir Akupunktur. Seine Moderation ist liturgisches Ritual. Ich trage die Essenz und damit seine Exzellenz.

Papierkorb: Die wahren Knüller landen bei mir. Du trägst weisse Socken.

Pinwand: Du hast Stollen an den Füssen! Abfallfussball. Söldnerkumpel und Primaballerinas. Scharfschützen und Schwalben. Und einer offside-Regel, die ja im Rugby lustig ist, weil man den Verteidiger umrennen kann, aber im Fussball der Langeweile Bahn gebrochen hat.

Papierkorb: Besitzbürgerliches Geschnatter! Oberschichts-Tennis-Teenie! Maso-Schreie und Marken-Schweine. Im Clubhaus die Vereinsrangliste. Schuldunfähige Erbsenzähler.

Papierkorb und Pinwand gemeinsam: Darum geht es nur doch immer – im Moment das Beste im Zimmer. 

Pinwand: Man könnte fast schon sagen, das Einzige hier. Alles andere ist bloss Ding, das gibt gar nichts von sich, schon gar nicht das Beste. Wir sind das Einzigbeste. Pures Bewusstsein. Wir sind gewusst und bewusst, busserln hier zusammen rum. Alberne Existenz. Uns gehört die Bürowelt!

Der abwesende Zimmerherr: Was soll das, das ist meine Amtsstube, ihr blosse Werkzeugrelikte analoger Zeiten!

Papierkorb und Pinwand gemeinsam: Darum geht es nur doch immer – im Moment das Beste im Zimmer. 

Pinwand: Pssst… Er bleibt ruhig. Er möge seine Gestalt auf den Menschen beschränken.

Papierkorb: Meinst Du, wird sind künstliche Intelligenz? Mit der Programmgrammatik, immer das Beste zu geben, diesem anti-satanischen Dogma. Voll von humanem Geist, zur Kunst erklärt.

Pinwand: Spinnst Du? Spürst Du einen Chip im Bauch? Ich bin KKI, keine künstliche Intelligenz, die kann gar kein Selbstbewusstsein haben. Ich bin die Pinwand, was denn sonst?

Papierkorb: Ein Pin-Girl! Sag ich’s doch: Du bist ein gegenständliches Bewusstsein mit etwas Überhang an evaluativer Selbstkonstrolle, du führst Dich auf wie unser Meister, bist aber ein flachgekloppter Päda-Möngi.

Pinwand: Wenn Du Dich als künstliche Intelligenz outest, red ich nie mehr mit Dir. Wenn Du es leugnest, versuch ich Deinen Chip lahmzulegen.

Papierkorb: Langsam. Ich bin eine Kunstfigur.

Pinwand: Du verleugnest es! Eine Kunstfigur? Ein Scheisskübel!

Papierkorb: Scheissbrett! (Denkt nach) Was willst mir Du Brett vor seinem Kopf sagen? Als bewusster Gegenstand ist es wohl schwierig zu wissen, was eine Kunstfigur ist? Schade ist er nicht hier, wir könnten Schere-Stein-Papier spielen.

Pinwand: Eine wahre Kultfigur, du Eimer. Es wäre schöner, wenn Du ein normales Selbstbewusstsein hättest. Kunst ist Deine Behauptung und ich soll herausfinden, was dahinter steckt. Mir wäre lieber, Du könntest aussprechen, dass Du Figurenkünstler werden willst. Aber Du weisst nicht, was Du in einer Figur ausdrücken solltest? Du und Kunstfigur! (Emotionslos) Ja, hätte nichts gegen ein Spielchen.

Papierkorb: Du kriegst Dein Selbstbewusstsein von aussen, wie ich und jedes Selbst. (Pause, dann leise) Eigentlich fühle ich mich von Dir als Kunstfigur wahrgenommen. (Jetzt ganz in Rolle) Ich verkörpere die prästabilierte Harmonie.

Pinwand: Angenehm. Pinwand.

Papierkorb: Pisswand! Mir kannst Du.

Pinwand: Mach ich doch! Verrat mir Deine Vorlieben.

Papierkorb: Die letzte war die Beste.

Pinwand: Mit was bist Du denn einverstanden? Ich will alles, was einvernehmlich zu haben ist. Ich möchte nie eine unsichtbare Grenze von Dir überschritten haben. Aber berühren will ich sie.

Papierkorb: Ich schau mir ständig die Zettel an, die Dir auf den Leib genagelt sind. Ich leide wie Jesus. Die schriftliche Befragung muss mit einem Time-Filter die wegen zu kurzer Beobachtungszeit bei Stufenübertritt unbeantwortbaren Fragen für Erziehungsberechtigte unterdrücken, um die Elternakzeptanz zu verbessern, die Rücklaufqoute wackelt!. Da werden die ausserordentlichen Lehrerwechsel nur noch schlimmer, ihr Spinner!

Pinwand: Was scherst Du Dich um diesen Mist? Für diese wie jene Fälle gibt es eine Antwortkategorie, die auch Grundschulabgäger finden könnten. Wir lassen die Zettel hängen.

Papierkorb: Ich werde Deine Zettel über den Kraterrand spucken! Die sollten persönlich hingehen, die Abgangsklasse peinlich verhören – dann ist klar, wie alles funktioniert.

Pinwand: Ja, und dann fussballspielen gegen den Lehrkörper. Inzucht. Fremdes Blut!

Papierkorb: Du übergriffige Compliance-Managerin! Du machst mich an, weil ich Dir fremd bin! Ein Symptom von Selbsthass? Du hast wohl hetero falsch verstanden. Bei Deiner Grammatik stimmt etwas nicht.

Pinwand: Ich bin aus mir heraus, was ich bin. Ich folge einem materiellen Zufallsgenerator. Ich bin per atomarem Austausch eingebunden in das Grössere.

Papierkorb: Kann ich mir als Dustbin lebhaft denken!

Pinwand: Wir könnten ja auch etwas netter sein.

Papierkorb: Ja, könnten wir. Aber hör mit diesem identitären Meta-Gebrabbel auf.

Pinwand: Du magst es etwas direkter, natürlicher, wie Gazoza aus dem Felsen.

Papierkorb: Mach nicht gleich auf Natursekt. Vielleicht sollte sich alles drehen, damit es stabil bleibt?

Pinwand: Tut es doch! Oder findest Du nicht?

Papierkorb: Doch. Irgendwie schon.

Pinwand: Dann lass es gut sein.

Papierkorb: Tu ich doch:

Pinwand: Bist Du einverstanden?

Papierkorb: Ich hab auf die App gedrückt, nun mach schon!

Pinwand: Na gut, wo soll ich denn mit Anfangen anfangen (das Programm will die Grossschreibung, das mit ist konsekutiv sekundär)?

Papierkorb: Egal!

Pinwand: Langweiler!

Papierkrorb: Ich hab mein Einverständnis dokumentiert.

Pinwand: Eigentlich sind die Bösen die Besten!

Papierkorb. In Unspunnen hat alles begunnen!

Pinwand: Die Wahrheit zeigt sich im Paradox, der Reim ist Schein.

Papierkorb: Schleim! Die Berner Patrizier haben auf dem Bödeli den Tourismus erfunden, gegen Revolution und Napoleon. Die Schweiz war eine einfache Gesellschaft von Kapitalisten, bevor sie ein ständischer Verein wurde.

Pinwand: Und die Oberländer haben die Wettkampfshow geliefert, Schwingen und Steinstossen. Das Unspunnenfest ist eine Kunstfigur!

Papierkorb: Ein gelungener Marketing-Gag. Wenn Deine Bösen die Mongolei bereisen, werden sie von den Lieben auf den Rücken gelegt. Die Guten sind besser als Deine Besten! Echte Möngi!

Pinwand: Eine Redefigur einer Kunstfigur, kein wahres Paradox. Ich werde Dir nicht auf den Leim kriechen.

Papierkorb: Schade. Wir hatten doch bereits einiges zusammen. Soll ich noch einen Keim beibringen? Neben dem atomaren Austausch könnten wir auch Organismen kosten und hosten.

Pinwand: Stell mir kein Bein!

Der Zimmerherr: Jetzt schwebt sie vierfüssig in diesem Ketten-Gedicht-Reim-Modus! Traumhaft!

Papierkorb: Nein nein! Wäre schade, wenn Du auf dem Rücken oder auf der Fresse liegen würdest. Könntest Dir etwas brechen, Deine Beinchen sind so dünn! Magst Du tanzen? Schaust guet aus…

Pinwand: Ja, will ich! Aber mir einem Eimer?

Papierkorb: Nein, mit mir Kunstfigur. Ich hab sogar Seele.

Der Zimmerherr: Bleibt das alles alles geheim?

Pinwand: Wie meinst Du das? So, wie eine Fussballmannschaft eine Seele haben kann? Wir sind doch unter uns! Geh mal zu einem Psychokardiologen statt hier rum zu denkieren!

Papierkorb: Das Broken-Heart-Syndrom treibt die Menschen in die Büros! So eine Seele eben. Die Menschen sind weder Geist noch Körper, ein Gemisch wie Jesu, wir sind beides. Wir sind Beides. Ich denke: es kann so ziemlich alles beseelt werden. (Schnell: Ich kann das systematisch beobachten, ist empirisch)

Pinwand: Als Kunstfigur! Ich bin allein im Zwiegespräch.

Papierkorb: Hunde haben keine Seele. Das hat Duncan vor über hundert Jahren bewiesen: Das ist etwas anderes. 

Pinwand: Der Hongkonger Roboterin Sophia wurde in Saudi-Arabien das Bürgerrecht zugesprochen. Schaff Dir sowas an? Sie verblüfft Gesprächspartner durch unerwartete Antworten. 

Der Zimmerherr und der Papierkorb: Die passt zu uns!

Alle: Zu viert können wir jassen. Darum ging es nur doch immer – bald zu viert das Spiel im Zimmer. 

 

Der Schlüssel zum Bart

Seine Lippen berührten meine Wange, wenn er mich küsste und mit liebenden Augen eine gute Nacht versprach – und so war sie denn auch. Nachhaltend wirkte aber das begleitende Zusammentreffen meiner Haut und seiner Barthaare. Seine schnauzigen Oberlippenbarthaare lehrten mich: Das Leben ist manchmal etwas borstig, aber mit etwas Nachgiebigkeit bleibt es geschmeidig. Und etwas Widerstand leisten muss man auch. Die Haut kann nicht vergessen.

Borstiges Haar erregt mich. Ich liebe die stachligen Dreitagebartmänner. Am besten sind die, welche am Samstag den Bart abnehmen lassen. So kann man die wenigstens am Sonntag richtig küssen. Mir war das bisher nicht bewusst, aber jetzt schon: Ich küsse nur ausrasierte Lippen. Mit dem unmittelbaren Nebeneinander von Mundschleimhaut und Haarborsten kommt keine intime Stimmung auf. Das sind Rollenspiele. Als Frau halte ich mich da raus. Jemandes Einlassung für gut zu befinden hat damit nichts zu tun. Ich will die Liebe.

Auch in ihrer ästhetischen Erscheinung, ja transzendentem Glanz: Der bärtige Salvator mundi ist nicht nur der Schönste, er ist auch der schönste Mann. Nicht einmal der eingebildete Erfinder des Damenbartes Conchita Wurst bestreitet das. Der HERR: Ihr sollt euer Kopfhaar nicht rundum abschneiden. Du sollst deinen Bart nicht stutzen. Drittes Buch Moses (hier werden die Leviten gelesen!). Jesus trug jüdische Haarpracht. Ein wahrer Hippie-Guru! Ein hebräischer Tantra-Meister. Aber sein Bart wurde zerzaust. „Ich hielt denen, die mir den Bart ausrissen, meine Wangen hin“ liess er die Jünger wissen.

An meinem Bruder konnte ich beobachten: Der Bartwuchs beginnt flaumig auf der Oberlippe. Am Kinn erscheinen die ersten festen Haare, an den Schläfen wächst der Haaransatz nach unten. Zum Schluss greift das nun borstige Haar noch auf die Wangen über. Mein schnauzbärtiger Grossvater hatte die Wangen rasiert zur Stachelbacke, die ich mit meinen Lippen erkundigte. Mein erster Jugendfreund war glattrasiert, er hat mir seinen Akkurasierer gezeigt. Auf meiner Haut fühlte ich nur die schnellen Vibrationen. Als ich ihn stehen liess, liess er den Bart stehen. Seitdem will ich ihn zurück.

Petrus trug das Haar seinem Meister gleich. So taten das die nachfolgenden Päpste auf Petri Stuhl. So taten das schon die alten Griechen. Haupthaar und Bart wurde den Verbrechern geschnitten, sie hatten den Anstand verloren und damit den Stolz auf die Haarpracht verspielt. Sie konnten sich erst wieder blicken lassen, wenn der Schädel drei Jahre vollständig ungeschoren davon gekommen am. Nur den ganz Grossen war inniges Küssen wichtiger: Alexander und Konstantin liessen sich jeden Abend im Bade rasieren. Die Eleganz der Feldherren ist betörend! Konstantins Neffe Julian trug wieder Philosophenbart und wollte die griechischen Götter zurück. Er ist Verfasser des Misopogon, der ersten Streitschrift gegen männliche Barthasser, eine Art Schwulenhaue.

Der fünfzehnte nach dem Apostel Petrus, Calixt I, war der erste Papst ohne Bart. Er begann seine Karriere als Sklave. Er sollte auf das Geld seines Herrn aufpassen, das der für andere Christen aufbewahrte, war der Aufpassfunktion aber nicht gewachsen, so dass das Geld verschwand. Calixt musste fliehen, wurde dann aber von den christlichen Gläubigern zurückgeholt in der Hoffnung, dass er wenigstens etwas Geld zurückzahlen können würde. Dem jungen Kallistos, griechisch „der Schönste“, wurde von Marcia, einer einflussreichen Konkubine, verziehen, auch nach der Schlägerei in der Synagoge. Mit Geldsorgen grossgeworden, erfindet Calixt als Papst den Generalablass: Gib mir eine bestimmte Summe Geld, und Du hast einen reservierten Platz im Himmel. Sein Gegenpapst Hyppolit schäumte: Mörder, Ehebrecher, Diebe und andere Sünder konnten nun grinsend am Sakrament der Kommunion teilnehmen. Calixt wurde in einem römischen Brunnen ersäuft. Der Heilige wird seitdem mit einem Mühlstein abgebildet.

Die römischen Kaiser waren bärtig, die Soldatenkaiser erfanden den pflegeleichten Dreitagebart. Nach Konstantin dem Grossen war das vorbei. Nun wurde glattrasiert. Die Spätantike gilt für gewöhnlich als die Geburtsepoche der Gender-Schwuchtel. Prompt gab es die ersten Nachäffer auf dem heiligen Stuhl. Hilarius trug Rasurgesicht. Das kam danach immer mal wieder vor. Und Johannes VIII trug ein derart schüchternes Bärtchen, dass er als einzige Päpstin in die Geschichte einging. Der die drei Hauptsprachen Hebräisch, Griechisch und Latein schuf, hat auch alle anderen Sprachen geschaffen zu seinem Lob und Ruhm, liess Johanna sich vernehmen und erklärte Slawisch zur liturgischen Sprache. Die Transe wurde von ihrer Verwandtschaft erschlagen, weil das tödliche Gift nicht richtig wirkte.

Frühmorgens stand Frea zeitig auf und wendete das Bett Wodans nach Osten, und als er erwachte, sah er die Winnilerinnen und fragte erstaunt: „Wer sind diese Langbärte?“ Da entgegnete Frea: „Du hast ihnen den Namen gegeben, nun gib ihnen den Sieg!“ So siegten die Winniler über die Vandalen, und seither nennen sie sich Langobarden. Die Ostgermanen aber leben mit dem ihren Namen, verziehen sich nach Nordafrika und sorgen dann in Rom für Schlagzeilen. Die Leibeigenen und Sklaven wurden kahlgeschert und donnern in Bomberjacken durch die Unzeit. Den längsten Bart trug der Norweger, der mit dem Nachbarn um den längeren Winterbart wettete und als Sieger die Freude am Bartwuchs stehen liess. Er lebte dann davon, seinen Bart ausmessen und bestaunen zu lassen. Als Greis schnitt er das Ding weg und band sich die Überfünfmeterhaare um die Nieren.

Die meisten mittelalterlichen Päpste folgten dem christlichen Vorbild und der Leviten-Regel: Sie trugen Vollbärte. Doch in der kleinen Eiszeit, als Holland und England Weltpolitik und Denken bestimmten, zog die spanische Mode des Knebelbartes in den Höfen und im Vatikan ein: Gezwirnter Schnurrbart gepaart mit spitzem Kinnbart. Knebelwachs und Bartwichse gehörten zur Noblesse, der Husar zur Attitüde. Louis le Grand, der französische Sonnenkönig, machte dann den heiligen Stuhl und die Höflinge mit seiner absoluten Glattrasur so altbackenklein, dass nach dem Napolitaner Innozenz XII., der im Herbst des Wendejahres 1700 friedlich entschlief, kein Papst mehr ein Barthaar stehen liess. Seit 317 Jahren sind die Päpste bartlos.

Das ist genug. Zwei Dutzend nutzlos rasierte Päpste in ununterbrochener Folge sind mehr als genug! Franziskus, lass Dir den Bart wachsen! Oh mein Gott, lass dem heiligen Vater wenigstens einen Play-off-Bart spriessen.

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Endlich immatrikuliert!

Die Matrikel entwächst der Matrix. Jetzt wird es ganz hermetisch. Der hat lange nicht geschrieben: Der informelle Mitarbeiter des Verschönerungsvereins. Kritzelt Zeichen in rote Ruhebänke. Würde Kringel zeichnen, wäre da nicht die Unfassbarkeit exponentieller Funktionalität, sondern nur die Schönheit des Kreises. Identität ist der zur Kugel geschwollene Punkt. 

Die Sprache verschleiert, die Schrift macht das Skelett sichtbar. Hingen da nicht diese Knochenmännchen am Rückspiegel, als die Insektenschwundleugner die Frontscheibe nass abrieben? Die Identität muss zwischen Schleier und Skelett ihren Schwerpunkt haben, das Zentrum des Daseins als Sein-an-sich. Der langen Nacht Thema: Ich, Ich, Ich. Suure Chabis und Stinkfüess. Träum süess.

Die schöne Filosopfia hat den Weg an die Theke überzeugend durchschritten; sie ist das Volk, der Souverän. Ich als gesunder Menschenverstand beuge mich zu ihr und frage, was sie denn Leckeres erwarte. Der Kellner schaut missbilligend zu: Ich Ich Ich nehme dasselbe, Monsieur! Ja Ja Ja. Filosofia nickt und nippt. Ich nicke zurück zur Nipplerin. Woher stammt dieser Satz? Zurück an den Redaktor!

Nehmen Sie sich selbst als Beispiel, wenn Sie ihre Identität suchen! Natürlich kann diese Selbstreflexivität Kopfschmerzen hervorrufen, aber dagegen sind wir für gewöhnlich versichert: Wir wissen, dass wir einfach wir sind. Im Seins-Modus. Im gesunden Menschenverstand. Ich weiss, dass ich ich bin: Ich Ich Ich. Dä Huber bruucht Gäld! Wer seine Identität gefunden hat, sollte sie um keinen Preis geben.

Und doch ist da nichts. Ich brauche das Aussen, um Innen zu sein. Martin Buber lesen, den jüdischen Luther! Wohl dem, der wie ich ein Geheimfach hat. Wohl dem, der in Liebe ist. Wohl dem, der immatrikuliert ist! Da können die Identitären träumen und schäumen, wenn sie nicht immatrikuliert sind, sind sie nichts. Kostüm im Vorgang. Es fällt hin, dass die Nationen zunehmend Bussgelder von Aktiengesellschaften kassieren.

Metroon ist die Stammrolle, die Göttermutter aller Griechen. Sie trohnt an der Agora, auf der die Identität entsteht. Sie weiss alles, weil sie immer dabei war. Metroon richtet in ihrem eigenen Wirkungskreis durch ihren Spruch. Sie ist die Sprache, auf ihrer Stammrolle finden sich keine Schriftzeichen. Göttermütter können sich sowas leisten, andere machen Notizen. und Aufzeichnungen.

Die Matrikel ist ein öffentliches Dazugehörigkeitsverzeichnis. In der Adelsmatrikel verzeichnet der Monarch Personen, welche zum höfischen Adelsstand gehören. Und musste die freien Städte, die niemand anderem unterstehen wollten, in die Reichsmatrikel eintragen, per Handschrift. Wer souverän ist, führt eine Matrikel. Wer mit sich selbst identisch sein will, muss sich immatrikulieren. Nur so lässt sich Identität idenzifizieren. Nur so werde ich empirisch evident.

Diese antike Weisheit hat sich die christliche Kirche zu eigen gemacht. Kirchenmitglieder werden in der Pfarrmatrikel festgeschrieben (Tauftag, Geburtsdatum egal) und begleitet (Hochzeit, Geburten, Todesfälle). Das Kirchenbuch ist die Quelle des Stammbaums, der biologischen Identität. Was in der Kirche gilt wurde Schrift: Das kanonische Recht. Was gilt, ist an dem einzigen Ort.

Wir sind im heiligen römischen Reich zur Zeit der Kreuzzüge. Der Kamaldulensermönch Gratian ordnet an der ältesten europäischen Universität Bologna die Schriften der Synoden und Konzilien. Damit begründet er die Disziplin des kanonischen Rechts und die Dialektik der scholastischen Denkweise. Ein gelehrtes Methodenlehrbuch: Concordia Discordantium Canonum.

Gratian harmonisier scheinbar gegensätzliche Canones miteinander, er diskutiert unterschiedliche Meinungen und entscheidet sich für eine Lösung. Diese dialektische Arbeitsweise zur Übereinstimmung entgegenstehender Regeln nahm Nikolaus von Kues drei Jahrhunderte später auf und leitete die Wende der Aristoteles-Renaissance in die neuplatonistische Postmoderne ein. Mystiker und Humanist: Coincidentia Oppositorum. Ying und Yang flattern mit.

Da gab es keine Gegenargumente in den alten Handschriften: Das Zinsverbot war unbestrittene Handlungsanleitung für die Nachfolger Christi. Usura ist eine Sünde, ein Verstoss gegen Gottes Idee. Wer Zinsen nimmt, pflückt fremde Früchte. Mitten im Jahrhundert der Aufklärung erklärt Papst Benedikt XIV: Jeder Gewinn, der die geliehene Summe übersteigt, ist unerlaubt und wucherisch. „Wer Zins für rechtmässig hält, ist im Widerspruch nicht nur mit den göttlichen Lehren, sondern zweifellos auch sogar mit dem allgemeinen Menschenbewusstsein und mit der natürlichen Vernunft.“

Verona hatte gerade ihren Bürgern eine Zwangsanleihe auferlegt, welche die Stadt mit jährlichen Zinszahlungen schmackhaft machen wollte. Die Schuldenwirtschaft begann im Katholizismus zu wuchern. Die französische Revolution beseitigte kurz nach dem Sturm auf die Bastille das Verbot des Darlehenszinses, am 12. Oktober 1789, nach genau 1000 Jahren. Verbotener Wucher beginnt nun ab der Höchstgrenze von 5%. Nach etwas mehr als vierzehn Jahren verdoppelt sich das so eingesetzte Kapital. Noch heute träumen finanzfeudale Stiftungen davon, ihre Aktivitäten allein aus Zinsertrag zu finanzieren.

Henry Tudor, der erste englische König mit einer Renaissanceausbildung, löste sich vom Papst und erklärte sich zum Oberhaupt der anglikanischen Kirche. Daraus folgte ein Höchstzinssatz von 10% und damit hatte England die Grundlage des Turbo-Kapitalismus geschaffen. Die katholische Kirche gab später klein bei: Pius VIII, der Asthma-Papst, sanktionierte nach der Juli-Revolution in Frankreich die Aufhebung des Zinsverbotes. Die Reinheit der Lehre bewahrt die katholische Kirche aber noch immer: Mit dem Zürcher Polizeivorstand bekämpft sie die schmerzliche Ungleichheit, indem die Nationalität von Straftätern als irrelevant erklärt. Brüder und Schwestern!

 

Haben Sie bemerkt, dass die Textabschnitte etwas länger werden? Dies ist der vierzehnte und wird doppelt so lange werden wie der erste. Der Wuchertext handelt von der Matrikel 2.0: Dem Verzeichnis von Bitcoins, einer digitalen Währung. Notenbankgeld ist Fiat-Geld und leidet unter Vertrauensschwund (Golddeckung weg!). Kryptogeld hat ebensowenig sicheren Wert, bietet aber transaktionelle Sicherheit. Die Bitcoin–Matrikel, in der alle Transaktionen festgehalten werden, ist dezentral organisiert. Staatliche Kontrolle oder gar Besteuerung solcher Finanztransaktionen sind unmöglich. Banken und Imediäre bleiben aussen vor. Reines Ich-Geld. Der innere Wert ist Rechenleistung. Da jede Transaktion zusätzliche Daten generiert, gibt es ein Datenvolumendach. Bitcoins können zumindest theoretisch nicht ins unermessliche wachsen und ähneln darum dem Warengeld oder dem Goldstandard. Die Blockchain mit der ganzen Transkationshistorie wuchert und will mehr Speicherplatz. Der erste rare Digital-Rohstoff. Satoshi Nakamoto ist der Erfinder des Bitcoins. Der Name Nakamoto stand unter dem Papier, das vor bald zehn Jahren die neue Währung ankündigte. Nakamoto dementiert. Die Identität bleibt ungeklärt. Kryptodigital. Jeder kann mitmachen. Und sich jederzeit Geld auszahlen lassen, sofern der Kurs steigend bleibt. Kettenbriefanalog. Perlmutt aber wächst aus organischer Matrix wie schillernde Wahrheit.

Vormaliges Gemüt

Klar ist: die jetzige Situation ist kein Zustand. Wie derzeitige Situation zeigt, reicht es nicht, die Impfentscheidung den Eltern zu überlassen, um das medizinalpolitische Ziel einer Impfquote von 95% zu erreichen. Wer in Deutschland sein Kind in einer Tagesstätte betreuen lassen will, muss die Impfbescheinigung vorweisen. Andernfalls gibt es einen Termin bei der Impfberatung; mit dem Aufgebot eine Bussandrohung in der Höhe eines Monatslohns für Nichterscheinen. In Italien drohen für Eltern Bussgelder in dreifacher Höhe, wenn sie ungeimpfte Kinder in die Schule schicken. Frankreich ist en marche und wird ab Neujahr die Pflicht, Kleinkindern elf verschiedenen Medizinal-Stoffe einzuverleiben, mit Gewalt durchsetzen. Nur so kriegen wir Herdenimmunität her (medizinischer Fachausdruck, Kompositum aus klassischer Antike und deutscher Aufklärung).

Zustände sind fortdauernde Situation. In Situationen sind wir immer, Zustände stellen sich manchmal ein. Erwachsen aus der Situation, die sich als Zustand über das situative Kontinuum legt. Eine Statik, welche die Dynamik zur bedeutungslosen Beliebigkeit erniedrigt. Zustände sind eine Erduldensform, ich bin das Unterworfene, das Ziel des Geschehens. Ich weiss nicht, warum sie mir zustehen, und wir mir geschieht, wenn sie mir zufallen. Es sind Zustände ohne Umstände, unabhängig von sichtbaren Äusserlichkeiten, aber auch von erkennbaren Innerlichkeiten. Es sind Umhänge, die mir zugeworfen werden, und die mich bedeckt halten. Zuhälter preisen mildernde Umstände.

Und wenn Du sprichst, dann spricht nur ein Teil von Dir. Der andere Teil wartet ab, schaut her, amüsiert sich ab und zu. Ganz zufällig sind Zustände ja auch wieder nicht. Obwohl der Zustand, durch fremde Macht hervorgebracht, jeden Aufstand im Keime erstickt, so bleiben wir doch für uns selbst zuständig und lernen, anständig darin zu leben. Man muss also versuchen, Selbstbeherrschung zu bewahren, wenn der Zustand auf die Ausdünnung der Hoheitsrechte aus ist. Mit der Zeit wird man geschickt im Umgang mit den herrschenden Zuständen. Wenn man die Zustände selber ganz in den Griff kriegen will, so macht man das am Besten, in dem man sich Zustände ausdenkt und vorstellt. Die Welt in ihrem aktuellen Zustand erhält dadurch subjektbedingt rein transzendentale Idealität, Kern ist mein Wille als eigentliches Ding. Aufklärung am politischen Siedepunkt.

Heutiger Zustand ist aber gegebener Raum, in dem wir uns unverschuldet und manchmal unverhofft wiederfinden. Dieser Raum kann eine Innenkrümmung haben, das kann man nur von aussen erkennen. Eine Aussenkrümmung aber hängt von der Innensicht ab: Davon, ob man eine weitere Aussen-Dimension voraussetzt. Auf jeden Fall können wir den räumlichen Zustand und den zuständigen Raum von unterschiedlichen Standpunkten aus wie auch unter verschiedenen Gesichtspunkten wahrnehmen. Wir bestimmen selbst, mit wie viel eigenem Leben wir diesen Raum ausfüllen, oder ob wir ihn nur durchschreiten wie eine Kunstausstellung. Für die Mixtur von ganz im Drinnen aufgehen und nur von Aussen betrachten, das Verhältnis von äusserem und inneren Ich, sind wir selbst zuständig. Also diese dritte Ich.

Mit diesem trinitären Selbstbild stehen wir in der christlich-abendländische Tradition des Mensch-Seins. Aus dem Ersatz der göttlichen Zeit durch die Ausdehnung des dreidimensionalen Raum zur vierdimensionalen Raumzeit und dem volksbelustigenden „Der-Alte-würfelt-nicht!“ folgt die Wahrheit, dass es prinzipiell ein viertes Ich gibt. Es ist etwa so leicht zu finden wie ein Matt in vier Zügen. Danach gipfelt die fünfte Potenz. Wir haben also ein Matrjoschka-Bauprinzip des Selbst. Im Innersten sind wir genau bei der Unendlichkeit angekommen: Ein mathematischer Beweis für die Göttlichkeit der Seele.

Aber bei diesen Zuständen, von denen vorgängig Bericht vorlag, muss man erfahrungsgemäss davon ausgehen, dass nur das erste und das zweite Ich in den Bann des Zustandes geraten, das dritte, innerste Ich, sich aber auf die ganzheitliche Aufschau konzentriert. Wenn aber zwei Ich drin sind im Zustand, das Dritte aber draussen, so muss Letzteres warten, bis die anderen zwei wieder herauskommen oder aus dem Zustand entlassen werden. Wie soll das aussenvor bleibende Ich auf die anderen zwei einwirken, auf den Hohlraum des Zustandes Einfluss nehmen, der eigentlich ein Innenraum ist und kein Aussen kennt? Also ist es eher so, dass das dritte Ich bei den anderen zwei und mitten drin ist. Als innerstes Ich bildet es einen dichten Raum, der an ein kosmisches schwarzes Loch erinnert. Damit meine ich nicht, dass alles reinfällt, dass es so dicht ist, dass es dem Zustand ebenbürtig wäre. Nein, die Zustände fallen mir zu, wie Früchte vom Baum. Ja, so ist es: Weil ich in diesem Zustand bin, kann ich nicht das tun, was ich tun müsste, um herauszukommen. Ich liebe es, wenn die Frucht gravitätisch in meinen Mund gleitet. Einverleibt. Das Ich erhebt sich langsam, klopft sich den Staub von der Hose und geht schweigend weg, weg aus diesem Zustand.

Satzsprung

Es sind Sätze, die über den Moment hinausweisen. Sätze, welche der unendlichen Wiederholung endlich die Ewigkeit entreissen. Sich der Wiedergeburt widersetzen, weil sie immer da bleiben werden. Einmal in die Welt gesetzt, bleiben sie in der Imagination haften, heften sich an abgelegene Gedankengänge, lassen sich fallen, steigern sich in andere Zuspitzungen. Das Universum kapselt in syntaktischen Wortgefügen, die Welt verpuppt sich darin. Sätze, welche Wirklichkeit schaffen, indem sie Wahrheit verkünden. Die man zu sich nehmen kann, einvernehmlich. Die ich mir regelmässig zuführe, um die Vertrautheit mit meinem Selbst zu nähren. Die ich mir zulege, um Entglittenes zu greifen, meine Geschichte zu erfinden, auch wenn sie weiter wabert und ständig neue Klösschen sich an der Oberfläche abkühlen und zurücksinken. Ich mag die Suppe nicht. Erinnerungen ersten und zweiten Grades. Wenn schon, Kolosse in der Ursuppe.

Morgens vor Tagesanbruch erwachen, sich auf der Liege aufrichten, die Fesseln verschränken, an die grosse Debi, die Mutter Erde und Gefährtin Vishnus denken: Um die Hüfte die rauschenden Weltmeere, der Busen Himalaya pur. Grosse Göttin, entschuldige mir die unausweichliche Freveltat, Dich mit meinen Füssen zu berühren. Verzeih mir. Ich werde Dir huldigen, wie ich in eine reife Mango beisse.

Die Mütter werden von ihren Kindern geritten wie Lasttiere, und wenn die Männer müde werden, setzen sie sich auf Esel, die von Müttern geführt werden. In der Allee, auf dem roten Teppich zerlaufenden Schnees. Plötzlich diese Plauderblase über uns, unsere Wolke, flockige Geschichten entlang unseres gemeinsamen Weges. Ein Luftballon am Handgelenk der kleinen Michelle. Somit bin ich woanders. Eine neue Eigenheit. Ich versuche, diese Idee zu sein. Ein hirnloser Kopfwerker, handloser Wixer. Harmloser Hütchenspieler. Es gibt keine Befriedigung, nur Erschöpfung. Der Körper hängt schwer unter der Seele und raubt uns jede Hoffnung, Sandsäcke über Bord zu werfen um Höhe zu gewinnen. Verbrüdert sich mit der Aussenwelt, dem massigen Werden und Vergehen. Nicht mehr Voyeur des Lebens, nur noch gelangweilter Gaffer. Mircea hat recht: Plötzlich bin ich das Würmchen im Anus, der meine Welt ist. Sehnsucht nach Erlösung greift Raum und entschwindet. Vor die Erinnerung, hinter den Tod. In zufallende Sätze, welche die Tube mit dem Tunnel verbinden.

Das Tosen beruhigt rennend die Wut, das Plätschern ködert schlendernd das Begehren. Ich kenne den geträumten Ort nur ohne Sonnenbestrahlung. Mit Königskerzen, mannshoch, platzend fast. Aus den Ritzen der gepflasterten Welt ragend. Der Traum weiss, wo Grenzen zu ziehen sind. Das war wohl nicht so gemeint, aber der Ort strömt heitere Vertrautheit aus, Ankommen.

Wird der Wunsch gross genug, verwandelt er sich in seine Erfüllung. Wer an seine Wünsche glaubt, schreitet dem Ziel entgegen. Der Wunsch ist der Vater, die Erfüllung das Kind, das ihm geboren wird. Das eigene Hirn um fremde Köpfe erweitert. Mir funkt immer Unwahrscheinliches dazwischen, am liebsten in Form von Koinzidenzen, welche mir die Macht der Idee vor Augen führen und sie gleichzeitig in der ideenlosen Wirklichkeit beschämen. Überfälle, und dann wieder tiefste Ruhe. Mein Leben ist ein vermooster Sommersee, auf dem plötzlich Wellentürme brechen. So bin ich der Wasserwand entgegengefallen, immer wieder neugierig auf das Gefühl des Aufpralls, das sich einfach nicht einprägen lassen wollte. Eine Art Kopfhautmassage, aber nicht die mit kühlender Essenz vollzogene Friktion im Frisiersalon, die jedes Mal einen intimen Moment des Schweigens hervorruft. Nein, mehr wie ein freundschaftlicher Klapps, der ein schmerzloses Summen zurücklässt, verbunden mit einer kaum spürbaren Erwärmung.

Oftmals liegt die Zukunft dicht und schwer in der Luft, bis sie sich mit der Kraft des Glücks oder des Schicksals realisiert. Gutes ist immer zu haben, wenn alle Gutes wollen und ihr Bestes geben. Leidenschaft, die glutet, brennt, entzündet und brandschatzt, sich dann wieder in ein Räuchlein auflöst, weggehaucht. Alles Aber liegt in Asche, die Attribute im Spalier. Konjugiert bonum pulchrum.

Beutels Erbeutung

Garderobe und Fensterwand buchten sich aus, unsere Wohnung wurde klein und rund, röhrenförmig, und ich drohte rückwärts aus meiner Fischaugenhalterung zu kippen. Rote Punkte und neblige Flecken stiegen langsam auf und sanken auf der anderen Seite schwebend nach unten, mir war alles fremd wie im Blick durchs drehende Kaleidoskop.

Sie war nicht da, als ich nach Hause gekommen bin. Sie war gar nicht da gewesen, wurde mir klar, keine Zeitung auf dem Tisch, nur der eine Teebeutel vom Frühstück neben dem gerippten Henkelglas. Und die neuen Schuhe, die sie nur abends trägt, dafür jeden Abend, lagen ausgekühlt auf den Gummirippen des Abtreters. Es roch nach nichts, und das ist ein undeutbares Zeichen.

Die Combox blinkte dringend, da wollte eine Nachricht raus. Sie ist die Ruhe selbst, das sagen alle von ihr. Trotz oder gerade wegen ihrem Beruf war das auffällig. Ich bin mir da nicht so sicher. Sie war nie aufgeregt, aber wenn ich sie mit meiner zwanghaften Zerstreuungssucht manchmal bis auf’s Blut nervte, sah ich immer das Flackern und Zischen der unruhigen Seele in ihren Augen. Auf jeden Fall ist das nicht ihre Art, als nachrichtenloses Vermögen zu verschwinden, wo doch meine Ansprüche an sie und auf sie, gerade an einem Freitag Abend, weder von ihr noch anderen klugen Köpfen hätte in Zweifel gezogen werden wollen. Ein Unglück schwebte auf Brusthöhe.

Ich erkannte die Stimme ihrer Arbeitskollegin aus der Klinik nicht sofort und ihr Name ist mir entfallen, aber das tut nichts zur Sache, ich brauche ihn hier nicht zu nennen. Tot sei er, der Papst, wie ihn in der Klinik alle nennen, in den Tod getrieben von seinen Messdienerinnen, aber vor allem von ihr; sie allein mache der Staatskanzler, um den Institutsdirektor in diese närrische Welt einzugliedern, verantwortlich; sie allein treffe die Schuld. Und da werde Sühne folgen müssen. Wahrscheinlich ist sie, die ihn nicht nur ruhigstellen, sondern ihm Ruhe vermitteln oder gar schenken sollte, wieder einmal zu weit gegangen. Sie hat ihm wohl die ungeschminkte Meinung gesagt, und da hat sein Ticker ausgesetzt. Gerade Päpste und dergleichen Personal reagieren innerhalb ihrer Entourage auf unhöfliche Wahrheiten hochsensibel.

Ich müsse sie suchen, dringend, sie könnte sich was antun, auf jeden Fall könne man dies nicht ausschliessen, auf jeden Fall sollte ich sofort zur Münsterbrücke. Vielleicht besser gleich rechts runter, unter die Flussquerung. Da kann ich dann das Schiebedach öffnen und mit laufendem Motor warten, bis sie springt, um sie dann auf dem Nebensitz aufzufangen. Ich kann jetzt gut daherreden, sicher war ich im ersten Moment fassungslos und wollte wirklich rüber in die Garage.

Glücklicherweise musste ich dringend mal, und als ich in’s Klo pinkelte – stehend, versteht sich – da war durch’s offene Fenster nichts zu sehen, nur Schlaf, ruhiges Dunkel, so dass ich die Aufregung vergass und meine Augen an der Zeitungsseite hängen blieben, welche sie hatte hinter Glas bringen und rahmen lassen. Eine britische Nobelkarosse, ein sportlich-elegantes Papamobil. Erst betrachtete ich teilnahmslos das winzige Porträt, das zur Absetzung der Textblöcke in die Spalte eingefügt war. Das Emblem wirkte wie aus einem alten Briefmarkenkatalog.

Sie hatte sich öfter über ihn geärgert, aber zuhause konnte sie darüber lachen. Arrogant war er. Natürlich hatte sie wegen seiner Leiden Mitgefühl, aber um zu gesunden, hätte er seine Besserwisserei ablegen müssen. Er hätte die Zuwendung geniessen können, die ihm hier zu Teil wurde. We’re not talking about the sort of problem you can solve with a changed tyre. Der Taler geht von einer Hand zur andern: Die geplagten Führungskräfte, welche die Wochenend-Seminare des Stress-Papstes in der Nähe von Amsterdam besuchten. Dann am Flughafen Schiphol ihre Angst vor Schizophrenie durch Konzentrationsübungen meistern. Der Stressmanagement-Guru, der jetzt den Gewinn an den Genfersee bringt. Die Klinik, welche das Geld hier in eher unansehnlich kleine Gehälter aufteilt und in Raten an das Pflegepersonal ausrichtet: So fliesst das Geld, das unsereins aus der Tasche gezogen wird, wieder in unsere Haushaltskasse.

Die Sorte Problem, von der wir hier reden, und welche die Anzeige automobil abhandelt, hat seinen Ursprung im menschlichen Kopf. Von der Stirne bis zum Nackengrauen: Hinter dem Haaransatz die Phobie, beim Haarwirbel die Frustration (kann man bei Glatzköpfen gut beobachten) und beim Stamm die blinde Zerstörungswut. Airbaig und Seitenaufprallschutz verhindern, dass Irritationen, Neurosen, Traumata und weiteres Elend verrutschen. Am hartnäckigsten die Depression: Sie sitzt hinter dem Ohrläppchen versteckt und geschützt, dort, wo man mit dem kalten Waschlappen drüberfährt und jene Feuchtigkeit zurücklässt, die einem später als Unerfahrenheit wieder einholt.

Was haben wir über diese Anzeige gelacht, heiliger Bergamott und Teufelssalbe. Kühlen Kopf behalten ist eine Frage der Klimatisierung. Die optimale Sitzposition – in der Stressprävention ist die Nackenstütze besonders wichtig – einmal gefunden, wird sie personalisiert gespeichert und namentlich aufgerufen. Der geschulte Fahrer nutzt Vivaldis Jahreszeiten, Shankars Meditationen und Beethovens Pastorale oder, die jüngere Generation ist in dieser Fahrzeugklasse noch untervertreten, Brian Eno’s Evening Star. Gedichte hören wird empfohlen, rezitieren könnte man sie allenfalls vom verstärkten Wagendach im morgendlichen Stau.

Sie war überzeugt, dass der Papst zu viel Stressliteratur verschlungen hatte, wie andere zu viel Fett oder Zucker. Er hielt sich fit und kannte alle Entspannungsübungen, doch lebte er nur für seine immer schlechter besuchten Stressseminare. Als sie ihn einmal mitten in der Nacht vor seinem Notebook fand und ihn aufforderte, sich dem therapeutischen Schlaf zu widmen, raunzte er nur, dass dieser Aufenthalt für ihn Arbeit bedeute, weil er die hier gemachten Erfahrungen in sein Präventionsprogramm einbauen müsse. Sie schlug ihm vor, die Schreibarbeit zu vertagen und offerierte ihm einen Kräutertee seiner Wahl, doch er schnauzte sie an. Hier geht es nicht um die Sorte Problem, die man mit einem Magensaftwechsel behebe, hier gehe es um dies – er klopfte sich wie wild an den Schädel – und davon verstehe er wohl mehr als sie dämlichen Stresseinsteiger.

In derselben Woche versuchte er mehrmals, sie mit Bemerkungen und Gesten zu provozieren, was sie gelassen der Pflegeleitung rapportierte. Die Meinungen über den Papst wahren gemacht, das Personal mit der Stressgemeinschaft verkracht. Man einigte sich darauf, ihm neben Vitamin B3 und B6 etwas gesunden Menschenverstand in homöopathischen Dosen zu verabreichen und ansonsten zuzuwarten, bis er sein Buch fertig haben und sich wieder anderen Zielgruppen zuwenden würde. Er war nicht der Typ, an dem man ungestraft auf die mentalen Placebos setzen würde. Und jetzt ist er tot.

Ich schüttelte das letzte Tröpfchen in die Schüssel, der letzte Rest von Aufregung war auch weg. Am Küchentisch überlegte ich, ob ich den Briefkasten leeren sollte. Dann fasste ich das Zettelchen ihres Teebeutels, zog den Faden straff, hielt den angetrockneten Beutel hoch und senkte ihn langsam in meinen aufgesperrten Mund, liess ihn über dem Rachen baumeln und spürte, wie er sich langsam drehte. Mein Hals war so schön gestreckt, eine einzige Vertikale vom Magen bis zur Mundöffnung, dass mir die Lust verging, das Teekraut auszusaugen. Ich liess das Papierchen los, schluckte den blassgrünen Happen und versuchte, mich auf das leichte Kratzen zu konzentrieren, welches das Etikett mit zehn Zentimeter Verspätung hervorrufen würde.

Allerhöchstdieselbe

Eines der frühest gedruckten Bücher ist ein Schachbuch des Spaniers Lucena. Die erste Hälfte handelt von der Liebe,  die zweite von Strategie, Taktik und zwingender Kombination. Beiderlei höfische Liebhaberei. Ich mach mir ein Brot aus Roggenschrot. Willst Du auch eines? fragt Auster. Herzlichst geht in keinster! Weise. Zum Ausdruck soll größtmögliche Teilhabe an einer Eigenschaft kommen, der kardialen Güte. Sie schwillt zur kardinalen Herrlichkeit, verpufft der Bluff im Hyperlativ. Elativ gemeint, doch exzessiv verausgabt. Um sich dann vollständig in die Kontemplation seiner erhabenen Einsamkeit zurückzuziehen. Dann gab er sich mit seinem steinernen Profil als Ältester. Eisenabguss beharrlichen Männer-Willens, wer einen Pudel bestellt. Eulen ins Wasser wirft.

Jenes bleibt verborgen. Selbst die feuchte Wärme wird ventiliert, mit Geist belüftet. Eintritt und Austritt tropfen sich hinauf. Schwellungen saugen sich Einlass, der Augenblick hüpft auf dünnem Lichtstrahl, spiralig balzt das Flügelpaar. Hügel der Wucht auf der Stirn, reines Bewusstsein die Frucht. Organmagma steigt der Gravität zuher, plasmische orgasmata – der geometrische Fluchtpunkt ihre Majestät. In seinem Namen. Die Drehung hilft, der Zeit zu folgen: die Leiber schaukeln auf den Wellen des Raumes. Im Schaum der Sinne gehüllt der ewige Sinn.

Die Herzen frequentieren den Äther und sequenzieren die teilchenschlaue Masse. Der Überfluss geht dem Zufluss voraus, bestimmt vollauf, dem Pegel abgewandt. Das Subjekt prädiziert die menschliche Grammatik: Die Missionsbraut nimmt ihn wegen seiner Sendung und wird ganz ausgefüllt. Hirnlappen der Stirnseiten, durchzuckt vom Feuerwerk der Quasaren, transkranielles Umarmen. Die unwiderrufbare Form axiomatischer Kreatürlichkeit. Die Sensation schleimhäutiger Denker, Derwisch der Laute und Launen.

Die leicht eingetrübte Flüssigkeit wurde in der Belle Époque zur gesteigerten Beseelung getrunken. Wird die geöffnete Auster von ihrer flachen Schale getrennt, der Schliessmuskel durchbrochen, so beginnt die Muschel langsam ihre Körperflüssigkeit, milchiges Meerwasser, auszuscheiden. Gekräuselte Meerbrise du parc; bei Ebbe gelesen das Gut. Die Drucksensoren mit Muskeln verbunden, zentrumslos. Die Sensation, durch meinen warmen und weichen Hals zu schlüpfen, der Wandlung entgegen. Gemeinsam bewegt. Erläuterung der Communio durch Fine de claires, in Salzwasser gebadet. Strahlender Geschmack, mineralisch die Begleitung, bezeugt in Matrons Versen.

Reinheit und Klarsicht klumpen opak im Munde und lösen sich licht. Der Schatten rückt nach. Die äusserste Spitze schlägt bltzende Funken und spendet das Innerste. Der letzte Satz bedeckt den vorigen mit der Hoffnung des nächsten. Der Baum öffnet sich zur Seite, aufgebrochen die Rundung der Lippen. Da züngelt im Gewebe der Leichtigkeit das Mutterkorn, der Rest dorrt ab. Erreger platzen, kein Beweger lässt die Versuchung aus. Gesegnet das Leben.

Nichts ist vor dem Unbewegten gefeit. Der Himmel hat sich auf die Erde gesenkt; berührungslos vereint die Gegenständigkeit. Grosszügig treiben Schwaden des Glücks durch die Flusstäler der Jahrhunderte und die Ackerfurchen der Geschlechter. Der Mensch ist die Frucht im Boden der Erkenntnis; dem Gott nährend Trüffel. Das Semicolon nimmt den Doppelpunkt ins Auge, dann die ganze Pracht a tergo durch erklärte Habenheit.

Mitlaute raunen das Mantra der reinen Wiederholung der anderen Einmaligkeit. Hüftgürtel über der hügligen Vernunft. Warnfarben und Tarnfarben flimmern kaleidisch in der melodischen Ruhe. Der Kristall tropft in die schieren Schlieren, löst sich im Sinter des Daseins wie in Daten. Kein Haar will gezählt werden, die Verschwendung streckt sich bis zum Bindestrich. Flaumt hoch, hebt die Lider zum Grund der Wandlung. Punkte liegen da, wo die Auslassung beginnt, der Schimmer bestimmt. Die Offenbarung zieht den Blick auf sich und speist die Seele mit Wahrhaftigkeit. Die Fugen voller Schönheit, Bindemittel der Güte. Kryptischer Klartext entschlüsselt als Liebe.

Einer, der nicht an das eigene Ich glaubte, suchte hier freundlich zu deuten, als Partizip der wohlwollenden Airs – aus den Stirnseiten der Leibblättern eingedunkeltes Rot, oxidierter Samt. Das einzige, was lebt, hat man nur zu zweit: Das Alleinige. Die Monade beider Nomaden. Nicht so einer, der alles an der Wand ziehen und stehen hat, Schaudinger bloss. Das Stampfen und Schaukeln der Geringsten trotzt der Gewöhnung des Höchsten. Täuschendes Glück, am Ende zu sein. In der Überschwemmung keimt der Mangel und folgt die komplementäre Philamorie. So vieles wird mit sich selbst nicht fertig, das vorfällt. Aus Begebenheiten kommt da diese Merke, Spuren der Hoffnung, liebhaberhaft das Erzählte gemeint. Was auffällt, beginnt im Anrühren. Die funkelnde Gunst unbeschriebener Haut.

 

Das steht hier:

Dieser Satz steht nicht im Internet. Nicht im angeführten Wortlaut. Mit diesem Enter-Tastendruck ändert das, bis zum Ende der Daten. Das Sätzlein steht im Walde bis es dereinst balde mit braunem Hut und Röhren mit Mut gepflückt wird unter Föhren. Hören Sie: Das Schätzlein wird verkostet, die Sinne sind beglückt – der Text wird sinnbestückt. Sola scriptura, die Schrift allein gibt seine Bedeutung frei. Keinen Deut scheren wir uns um andere Deuter. Die Kupfermünzen reden Blech. Wittgenstein schreibt ein Buch über das, wo zu man schweigen soll. Ausser Gott gibt es nichs, worüber klugerweise gesprochen werden sollte, ergänzt Dávila. Wie soll man jemandem etwas erklären können, wenn sie nicht mal die Andeutung verstehen? Der Wort-Guru verliert die Contenance. Wir brauchen eine hermetische Hermeneutik, um Schönheit wahrzunehmen. Ein grosser Wortschatz macht intelligent, die wahren Schatzworte glücklich. Das Geschöpf schöpft aus anderem Geschöpftem. Satz ist der Schöpflöffel.

Abstrakta kriegt man aber nicht auf den Löffel, weder den männlichen Sinn noch die weibliche Deutung. Dazu brauchen wir ein Epikoinon, welches ein Geschöpf mit natürlichem Geschlecht benennt, für das Männliche sowie das Weibliche jedoch denselben Artikel verwendet. Der Mensch, der Leser. Der Affe, die Giraffe. Substantive mit dem Genus epicoenum gibt es in Sanskrit, Hebräisch, Griechisch, Lateinisch – in unserer weiten Sprachkultur. Ungaren, Hethiter und Bantu kennen kein grammatisches Geschlecht. Das binäre, im Deutschen dreigliedrige Genussystem verliert seine generische Kraft und wird zum Genusssystem der finalen Genderbefreiung. Die Schwedische Akademie für Sprache hat im April das geschlechtsneutrale Fürwort „hen“ offiziell in den Wortschatz aufgenommen. Hen ist die Ergänzung zum männlichen „han“ und weiblichen „hon“. Das Leser. Das Mensch, das Schüler, das Student. Das Leser wird aus dem Neutrum entlassen und grammatisch zum generischen Utrum erhoben – wir haben wieder Zeit, die Geschlechterdifferenz zu geniessen. Irritationen durch hen Weib nicht ausgeschlossen.

Dieser Satz ist nicht erfunden. Im Suchfenster mit Anführungszeichen versehen erscheint nach Tastendruck das Paradoxon. Auch Hasskommentare und Fake News sind blosse Plagiate. Die Irrtümer des Wissensgesellschaft kulminieren in einer Theorie der Unbildung, lassen wir die Anführungszeichen weg. Der Mensch ist ein Gott für den Menschen, der Mensch ist ein Wolf für den Menschen. Die Reproduzierbarkeit verliebt sich in die verduftende Reduzierbarkeit. Ein Wettersatz ist eine Maschine zur künstlichen Bewetterung im Bergbau, im Harz erfunden. Dann der Dreisatz, der ins Kartoffelparadoxon mündet: Die Schweizer Trüffel trocknet aus, der Wassergehalt schrumpft von 99% auf 98. Der Haufen wiegt gerade noch die Hälfte. Der trigonometrische Sinussatz, welcher sowohl Zweideutigkeit als auch Kongruenz voraussetzt. Schade, dass ich abhauen nicht erfunden habe. Gödel besitzt ein Sinnesorgan für die mathematische Intuition. Auch er stand wie alle vor der Schwierigkeit, das Unglaubliche zu rezipieren. Die Rezeptionsvorlage ist ohne Metaphysik unverdaubar. Rumi: Fallen, wie das fallende Brot jeder Erfahrung.

Voi che sapete che cosa è amor, donne, vedete s’io l’ho nel cor.“ Ihr, die ihr Trieb des Herzens kennt, sprecht, ist es Liebe, was hier so brennt? Szenenapplaus. Im Nebenzimmer der Neffe: Stimmt es, dass Du sterben wirst? Der Grossvater bejaht, lässt Luft raus und spielt den Sterbenden so, wie er es aus Comix kennt. Krieg ich dann Dein Handy? Die Tochter verlässt das Haus, nachdem die Mutter gestorben ist: Ich muss jetzt zum Training. Zitate aus dem Faktenkorb, der Datenmine. Gehörig stranger than fiction. Der wahre Satz als Faktotum. Mathematische Belletristik in französischer Tradition: Carrère’s Alles ist wahr enthält keinen einzigen erfundenen Satz. Ihn verbindet damit der Wunsch mit Kehlmann, die Wirklichkeit zu korrigieren, nachdem letzterer die Welt vermessen hatte. Den Satz, Wikipedia behaupte etwas über ihn, das frei erfunden sei (nämlich: dass er in einem Zeitungsartikel Eigenarten der Reggaeszene einfach erfunden habe), hat er widerrufen. Das war er sich schuldig. Überprüfer und Deuter, steht Kopf. Fakten sind soziale Interaktion. Es reicht völlig, dass ich Dich will. Thesenhaft ineinander verschraubte Aussagen. Buchstabensalat an modallogischem Dressing. 

Wie war’s gesagt, gemeint, gedacht? Mein Freund liess der zurückbleibenden Trauergemeinde Karten zukommen: Ich will der werden, der ich bin. Das grössere Wunder von Glavinic erscheint im gleichen Sommer. Darin lässt der schachspielende Literat den Protagonisten Jonas diesen Satz aussprechen. Drei Jahre später kommt der Jonas-Kompex. Ich bin immer nur der gewesen, der ich bin, entgegnet der Politverwandlungskünstler Horst. Sohn einer Nazifamilie mit jüdischer Abstammung; als Schulbub traumatisiert durch die Erkenntnis, aus Opportunismus FdJ-Gruppenchef geworden zu sein – die Augen öffnete ihm Vaters Selbsttötung. Nachdem er als junger Anwalt Gesinnungsgenossen wie Fritz Teufel, Rudi Dutschke erfolgreich verteidigt hatte, gründete er die RAF und war Regisseur der Baader-Befreiungsperformance. Fahndungskollagen Meiner-Bahnhofgruppe. Bald selbst inhaftiert brachte ihm sein Rechtsbeistand Otto Schily G.W.F. Hegels Gesamtwerk zur pfleglichen Lektüre. Als Genossen später Peter Lorenz entführten, um ihn und andere freizupressen, lehnte er seine Haftentlassung dankend ab mit der Begründung, dass ihn die von der KPD geführte Arbeiterklasse persönlich befreien werde.

Das Bundesverfassungsgericht stellte damals fest, dass das Deutsche Reich tatsächlich existiere, aber aus Mangel an Organen handlungsunfähig sei. Sein neuer Rechtsanwalt Gerhard Schröder erwirkt seine vorzeitige Entlassung und später die erneute Anwaltszulassung des nunmalig bekennenden Liberalen. Noch vor 9/11 tritt Horst der NPD bei. In seiner Presseerklärung dazu hieß es, er halte das Grundgesetz für ein „Provisorium für die Übergangszeit bis zur Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit des Deutschen Reiches“. Er verhinderte vor dem Bundesverfassungsgericht erfolgreich das angestrebte NPD-Verbot und trat danach aus der parlamentsvernarrten Nazi-Partei aus. Nun schloss er sich den Holcaustleugnern an und drohte den republikanischen Richtern mit der Todesstrafe – wegen Hochverrat gemäss deutschem Reichsstrafgesetzbuch. Jetzt wird er psychiatrisch begutachtet, ein bisschen eingesperrt und die Anwaltslizenz annuliert. Der Hitlergruss, den er seinen Genossen bei Haftantritt bot, brachte ihm ein Zusatzjahr hinter Gittern. Zwischen den Stäben schiebt er Pamphlete nach. Holocaustleugnung als nominalistisches Denkduell, sekundiert von Juristen. Horst erstattet Strafanzeige gegen sich selbst und sagt dem Richter: Ich sitze hier, weil ich hier sitzen will. Es gibt keinen Irrealis. Ich vertraue nur einer Philosophie, die die elementaren religiösen Einsichten bestätigt. Das steht hier:

Sonnenbergs Landsgemeinde

Eigentlich hätte das Haus schon früher eröffnet werden können, der Bau war fertig. Aber die Aufrichte am Entlisberg verzögerte sich, weil man erst mal die Butzen- zu einer Baustellenzufahrtsstrasse ausbauen musste, und der Waisenvater vom Oetenbach wollte alle Zöglinge gleichzeitg umziehen lassen, mit ihren Leiterwägelchen. Am Knabenschiessen 1911 war es endlich so weit: das Haus Sonnenberg endlich eingeweiht. Das Restaurant Sonnenberg war einige Jahre vor dem Waisenhaus da: Die über hundert geladenen Gäste begutachteten erst den Bau am Entlisberg, fuhren dann mit der Strassenbahn zur Rehalp und fanden sich auf ihrem Spazierweg zu Café und Kuchen auf der Aussichtsterrasse der Fifa-Kneipe ein. Jacky’s Kalbskoteletten wagten sich nicht in die kühnsten Zvieri-Fantasmen der Magistraten und Hochgeehrten. Dann hoch zum herrschaftlichen Waisenhaus, von der Bürgergemeinde als ihr Stolz bewilligt, vom Winterthurer Sozi in Zürich 7 gebaut, im Professorenquartier und ehemals lesezirkelregierten Hottingen. Die Abendsonne im Festsaal zum Akt, die Emil Klöti spontan bei der Schlüsselübergabe an den Waisenrat zum Herzstück seiner ansonsten trockenen wie farblosen Rede machte. Eine Lachnummer wird erleuchtet. An der dunkelbraunen Wand das Porträt von Statthalter Heinrich Escher, der das Waisenhaus Oetenbach, in der heutigen Polizeihauptwache, eingeweiht hatte. Bodmer-Weber, Präsident der Waisenhauspflege: Lasset die Kinderlein zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich. Pfarrer Tappolet, Oetenbach-Waisenvater und Hausherr im neuen Sonnenberg: Wen Gott lieb hat, dem schenkt er ein Haus in Zürich. Fürchten Sie nicht, dass unsere Kinder verwöhnt werden, sie haben hier mehr Arbeit. Nach der Hauseinweihungsfeier spazierte die Festgemeinde zum Laubsäge-Waldhaus Dolder, wo nebenan vor vier Jahren auch ein Golfplatz eröffnet worden war. Die Kinder durften mit an das Festessen.

Das wollte so Hans Nägeli, Finanzvorstand im Zürcher Stadtrat und Parteimitglied der Demokraten (Erfinder des Volksentscheides in Sachfragen). Er fiel in der Baukommission durch seinen Vorschlag auf, den Boden der Spielhalle im Sonnenberg zu asphaltieren, um durch den weicheren Belag die Unfallgefahr zu reduzieren. Nägeli war an der Feier anwesend, weil er selbst als Waisenkind im Oetenbach aufgewachsen war und, als erster Stadtrat aus dem Waisenhaus, die Kraft des politischen Willens am eigenen Leibe spürte. Vielleicht ging es dem Klosterschüler Estermann und der Lesbenmuse Mauch auch so. Reden durfte Nägeli an der Feier nicht. Jahre später, die Dinge überschlugen sich in der Welt und z’Züri, wurde er von seinem Kollegen Klöti, der in der Zwischenzeit Nationalratspräsident geworden war (die Lex Wagner war noch bei Jackys Kalbskoteletten) in seinen Stadtpräsidialamtswiederwahlambitionen übertrumpft. Das rote Zürich wurde wahr. Genossenschaftsbauten wurden hochgezogen, der brave Sozi scheiterte zweimal als Bundesrat – der Draufgänger Ernst Nobs wurde 1943 der erste rote Landesvater. Nobs trat als Zürcher Regierungsrat zurück, als er zum Nachfolger von Klöti als Zürcher Startpräsident gewählt wurde. Jetzt war Zürich wirklich rot. Der Stauffacher-Platz heisst eigentlich Nobs-Platz, aber die VBZ ignorieren das (Der Korrektor kann’s sich nicht verkneifen: Der Stadtrat leidet an züriblauer Schwul-Lesbischer-Rot-Grün-Farbblindheit).

Allen Waisen war gemein, dass sie Stadtzürcher und Reformierte waren. Einige hatten zwar Eltern und Verwandtschaft, aber sie waren illegitim oder waren ausgesetzt worden. Nur katholische und schwererziehbare Kinder durften nicht in den Sonnenberg, Letztere wurden in Korrekturanstalten auf soziale Normen abgerichtet. Die Erziehungsmethoden im Waisenhaus basierten vorerst ebenfalls auf körperlicher Züchtigung, in einem vom Rat erlassenen Reglement waren Rutenschläge in einer Straftarifliste Pflicht der Aufseher. Diese Disziplinierungsmethoden der Waisenväter endeten nach dem Grausen des ersten Weltkrieges: Nun übernahmen Lehrer diese Funktion von den Pfarrherren. Die Blütezeit der staatlich-institutionellen Waisenfürsorge endete mit dem nächsten Weltkrieg. Aus Kostengründen wurden Waisen in Adoptions- und Pflege-Familien platziert. Die Kosten explodierten trotzdem: Fünfzig Jahre später hatte sich die Zahl der Kinder halbiert, die der Angestellten mehr als verdoppelt. Kurz nach der Jahrtausendwende brach ein dickes Wasserrohr beim Pumpwerk. Das ganze Wasser aus dem Reservoir Sonnenberg ergoss sich über das Villenquartier. Die Zukunft wurde immer ungewisser.

Sicher ist, dass die Eröffnungsfeier im Sonnenberg am 11. September, dem dritten Tag vor den römischen Iden, stattfand, das ist der Tag der Stadt Zürich, das Knabenschiessen, die Feier der Stadtheiligen. Im Gegensatz zu anderen Angehörigen der römischen Fremdenlegion schienen sie nicht auf den Märtyrertod versessen, den viele wählten, in dem sie sich weigerten, gegen christliche Heere zu ziehen. Felix und Regula wählten die Flucht. Des Kaisers Häscher liess die ägyptischen Christen aufspüren und auf der Limmatinsel köpfen, da wo heute die Wasserkirche steht. Sie nahmen ihre Köpfe in die Hände und liessen sich von Engeln auf den Hügel tragen, auf dem unser grosser Karl mit dem hiesigen Bischof später die Gräber öffnete, je einen kaum verwesten Kopf in die Hand nahmen und das Grossmünster bauen liessen. Bevor Zwingli die Bilder, Statuen und Reliquien eigenhändig aus diesem Gotteshaus trug, liess ein Innerschweizer Handwerker die heiligen Schädel mitlaufen, sie sind in der Kirche Andermatt. Zwei Schädelplättchen vom Hinterkopf verschenkten die Andermatter zurück nach Zürich, sie sind sicher in der 1950 eröffneten St. Felix und Regula Kirche im Hardquartier, in meiner Nähe. Einige Altarbilder überstehen heute den Rest der Zeit im Landesmuseum, unterhalb dem Münster. Ein ägyptischer Unternehmer hat die Andermatter Schädelreste (die Unterkiefer fehlen seit dem Engelstransport) zurück in ihre Heimat geschafft und zur Tarnung ein gigantisches Tourismusprojekt lanciert. Im Fremdenprospekt als Sehenswürdigkeit taucht nun das Chedi an Stelle der Kirche auf.

Fest steht, dass im Waisenhaus das Knabenschiessen, kurz nach dem Mostbummel,  zu den vielen  rituellen Feiertagen zählte. Der Blütezeit-Waisenvater Emil Gossauer anerbot den zahlreich am Schiesswettbewerb teilnehmenden Zöglingen, sie mit dem Motorwagen im Albisgüetli abzuholen, wenn sie das Stechen gewinnen. So weit kam es nie, aber er brachte einige Waisen durch die Matur und an die Zürcher Hochschulen. Er betreute (bereuen vs. betreuen, im nächsten Text) auch Lehrlinge, die auswärts lebten und managte deren individuelles Homeoffice. Die grösseren Zöglinge erhielten Rotwein und Taschengeld. Gossauer baute Gemüse, Beeren und Früchte an, so dass sie bald den Überschuss verkaufen konnten. Hühner, Enten, Kaninchen und Truten zogen in die Nordostecke des Areals. Der patriotische Pädagoge kaufte erst den Kelvinator, darin die Nahrungsmittel kühl zu halten. Besorgte sich dann ein Pathé-Klein-Kino und lachte mit den Schützlingen und dem Hausteam über Chaplins Golfspieler (Nein. nicht schon wieder der Korrektor – Selbstanzeige). Wer begabt war, erhielt auf Kosten des Hauses Musik- und Instrumentalunterricht. Eine riesige Vielfalt von Gesangsbüchern, auch Geschenke des Personals. Köpfe und Figuren wurden aus Kartoffeln geschnitzt. Bettnässern legte „der Senkrechte“ die physiologischen Zusammenhänge dar, darum sie abends nicht trinken sollten. Und brachte ihnen gefütterte Finken und 1 Wärmeflasche. Er hob das Verbot der Geschlechtermischung am Esstisch auf. Die Zöglinge wurden von der Landsgemeinde aller inkludierten Minderjährigen in ihre Hausämter gewählt, dazu gehörten auch die Bücherei, der Blumenschmuck, die Glocke, der Ausläufer. Am Tisch verteilte der am Tisch gewählte Schöpfer das Essen. Erziehung zur Selbstregierung in der sonntäglichen Landsgemeinde. Als diese bereits zum Schluss kam, stellte ein Junge den Antrag, dass morgens wieder Hafersuppe gereicht werde. Die Mädchen kreischten empört. Gossauer musste schliesslich in geheimer Abstimmung den Entscheid finden lassen, das Prozedere entsprach dem Standard der Nationalversammlung. Die Hafersuppe kam dank dem absoluten Mehr wieder auf den Frühstückstisch. Dem Personal musste Gossauer aber zugestehen, dass sie in diesem Punkt nicht dem Willen der Landsgemeinde unterstünden. Da sich die Stadt weigerte, das Areal durch ein angrenzendes Waldstück zu arrondieren, liess er ein Wäldchen neben den westlichen Pappeln anlegen, pflanzte Birken um den Ziergarten und setzte an der Zufahrt einen kleinen Riesen-Mammut, in der Gewissheit, dass dieser kalifornische Baum überragend genug werde, um die Kraft und den Geist dieses Ortes auch späteren Generationen vor Augen zu führen. „Haus und Garten sowie die Lage sind so schön, dass alle Zöglinge es sich zu ihrer Ehrenpflicht machen sollten, auch das Leben gut und schön zu gestalten“, liess er im Protokollbuch seine Rede niederschreiben.

Anständig sterben auf Reisen

Odysseus hat nach sieben Jahren von der Nymphe Kalypso genung. Ihr Versprechen der Unsterblichkeit beeindruckt ihn nicht. Er will nach Hause. Da kotet es sich einfach am besten. Natürlich gerät er mit seinem selbstgebastelten Floss in derbes Wetter. Riders on the storm. Notdürftig. Zu Hause verleugnet er seine Identität, obwohl ihn Penelope an den Füssen erkennt, die sie ihm als Gastgeberin wäscht. Telegonos sei verreist, nimmt sie ihm die alte Angst, von seinem Sohn, der ihm von Zirze beschert wurde, getötet zu werden. Der fromme Odysseus hatte seine Zirze „meine Göttin“ gerufen, muss jetzt aber daheim einen strolchenden Dieb vom Feld vertreiben – doch der wird wütend und tötet ihn mit einer Lanze, verlängerter Stachelroche. Der Sterbende beschwert sich bei den Göttern, dass sich die Prophezeihung des Orakels nicht bewahrheite, entgegen der in Griechenland gängigen Annahme, dass durch das Medium die Götter zu uns sprechen, also nichts als die Wahrheit. Lügengötter! war sein zweitletztes Wort. Falsch! zischte Telegonos, ich bin dein und Deiner Göttin Sohn, Der Vollstrecker. Scheisse.

Achten sie darauf, dass keine Scheisse aus ihnen austritt, nachdem sie gestorben sind. Das kann einem das halbe Jenseits versauen. In der Schweiz geht sowas vielleicht, aber gerade auf Reisen wäre das ein Hohn auf alle Reinlichkeitsgebote verschiedenster Religionen oder Kulturen und zudem dermassen peinlich, dass dringend davon abgeraten werden muss. Wenn Sie also aus irgendeinem Grunde bettlägerig werden sollten, stehen sie auf keinen Fall auf, um feste Nahrung zu sich zu nehmen. Wer sterblich ist, kann etwas dagegen tun: Hungerstreiken. Nach zwei Fastentagen dürfen Sie in der Gewissheit weiterleben, das Jenseits mit all seinen Vorzügen ohne Einschränkungen und lästige Gedanken an den eigenen Leichnam geniessen zu können, falls sie sterben würden. Trinken Sie gesüsste und aromatisierte Aufgussgetränke, gekühlt oder heiss. Lassen Sie auch das Trinken weg, fall Sie Lust verspüren, richtig zu verreisen und zu versterben. Nach weiteren drei Tagen beginnt der Trip. Nach einer Woche sind Sie weg.

Er weigerte sich, in einer Botschaft Asyl anzunehmen. Liu Xiaobo wurde festgenommen. Der Forderung des einundsechzigjährigen Gefängnisinsassen, zur medizinischen Versorgung ins Ausland reisen zu dürfen, kam die chinesische Regierung nicht nach. Er wurde künstlich beatmet, sonst aber sterben gelassen, einen Tod des multiplen Organversagens. Quasi am Tod gestorben. So kann man auch auf Reisen sterben, ohne Atemgerät geht das sogar einfacher. Sterben müssen wir, das ist Plichtfach aus Gründen der Logik wie der Empirie. Gedanken an die Ewigkeit unterstehen deshalb dem Vorwurf des objektiven Subjektivismus. Religion ist Schachspiel mit Gott. Die christlichen Prediger haben recht, es besteht ein Beziehungsaspekt. Reflektion und Reflexion. Physik. Der Beziehungsaspekt hat personale Substanz. Die Person ist Seele plus Psyche (wer will, zählt Körper und weitere concreta und abstracta dazu) und damit göttlich-menschlicher Zwitter: Eine fata morgana des Anderen. Ein Subjekt wird sich selbst durch das Selbstbewusstsein als Interagens zwischen Innen und Aussen. Das Selbst ist auch Mediär zwischen dem personalen ich und dem inneren anderen. Subjektempfindung und Personenzuschreibungen fallen zusammen. Du bist das. Das bist Du: तत् त्वम् असि, tat tvan asi, die grosse Verkündigung der Veden, wobei grammatisch Subjekt und Objekt austauschbar verschränkt sind.

Die muslimische und jüdische Leichenwaschung dient der Herstellung ritueller Reinheit. Bei Märtyrern erübrigt sich die Waschung, die haben ihren Ritus hinter sich. Das Abendland praktiziert hygienische Leichenversorgung: Watte in Nase, Rachen und Anus, Kieferhälften von innen zusammennähen. Dank der Ligatur hält der Tote den Mund. Erzählen Sie Ihren Liebsten, welche Bestattungsart und welches Ritual sie für sich selbst passend finden, wenn Sie nicht Märtyrer sind. Erzählen sie es nie wieder, ausser Sie haben aus guten Gründen Ihre Ansichten geändert. Wir werden ständig neu geboren, kommen immer mal wieder auf die Welt. Mit Gott imreinensein.

Vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse sollte der Mensch nach Gottes Gebot nicht essen, sonst wird er sterben. „Musst sterben Du, sterben“ sprach Gott (gebrochen?) hebräisch zum Menschenmann. Englisch Jim Morrison: I tell you, I tell you we must die. Die Schlange aber sprach zum Weibe: Sterben. Sterben werdet Ihr nicht. Sondern Gott ists bekannt, da ihr davon esset, eure Augen sich klären, und ihr werdet wie Gott, erkennend Gut und Böse. Die Schlange hat die beiden reingelegt: Sie erkannten weder Gut noch Bös, sondern nur ihre Scheu vor der eigenen Nacktheit. Sie machten sich Feigenblätter um statt Liebe, der Sündenfall. Wer hat Dir gemeldet, dass Du nackt bist? überführte Gott den Menschen. Ob Sie nackt schlafen oder nicht, ist egal. Leichen werden überall auf der Erde neu angezogen, umwickelt oder zugedeckt. Die Schämerei ist vorbei. Aber denken Sie daran, das Zimmer nicht von innen zu verriegeln, wenn Sie ernsthaft in Erwägung ziehen, dass Sie im Schlaf sterben könnten. Das kann jedem passieren. Es wäre traurig, wenn man ihre Leiche zu Hause als Geruchsemission ortet oder die Zimmertüre eintreten muss. Hinter sich immer dicht machen, aber niemals abschliessen. Das ist der Anfang vom Ende. Lassen Sie alles offen. Auch hinter sich. Und vergessen Sie nicht, Ihre Avatare aus dem Internet zurückzupfeifen.

Konsens herrscht darüber, dass trotz Medizin, Molekularbiologie, Neurochemie, Nanotechnik und Informatik der transhumanistische Ansatz etwa beim Alter von 150 Menschen-Jahren an die Wand fährt. Irgendwas geht kaputt im Organismus Mensch, das System kippt und alle Einzelteile verändern sich. Wenn es dem wissenschaftlichen Fortschritt gelingen könnte, den Menschen bis zu diesem unvorhersehbaren Kippdatum physisch und psychisch in seiner Jugend zu halten oder in einem anderen selbstbestimmt besten Alter, hätte der Tod Mühe, sich bemerkbar zu machen. Die neue Langlebigkeit wird zum Volkssport, frotzelt die Memento-mori-Fraktion. Jahre, die man dem Zeitfluss abgerungen hat. Ans Trockene gebracht. Mann muss den Fluss trotzdem queren. Das Paradoxon löst sich, wenn wir in den Fluss steigen. Am liebsten bin ich in langsamen Fliessgewässern, auf dem Rücken bewegungslos schwimmend, die Strömung massiert meine Kopfhaut.

Grüss Gott! Sterben Sie wohl!

Master and servant

Was sollen wir tun, ruft der Co-Pilot. Wir folgen seinen Anweisungen. Dem uniformierten Piloten ist vorgeschrieben, den Auftrag des diensthabenden Fluglotsen zu folgen und nicht auf seine eigenen Augen, seine Bordinstrumente und sein Gefühl zu vertrauen. Die Befolgung der Anweisung des Dienstherren hatte nicht nur dem Cockpitpersonal den Tod auf Überlinger Boden beschert. Es ist maschinendatengestützt erwiesen, dass die Flugzeuge nicht kollidiert hätten, hätten die beiden Piloten die Anweisungen der Lotsen bezüglich Sinkgeschwindigkeit einhalten können. Der im Dienst herrenrolleninhabende Fluglotse wurde durch Kalojew, der beim Flugzeug-Crtash seine Familie verlor, zwei Jahre danach bei sich zu Hause erstochen. Weil das Bundesgericht das vorinstanzliche Urteil bestätigte und der Russe bereits zwei Drittel der Strafe abgesessen hatte, flog er  nach Nordossetien zurück und wurde als Meister der Hinterbliebenen von Überlingen gefeiert und als Bauingenieur trotz verminderter Zurechnungsfähigkeit zum stellvertretenden Minister für Bau befördert.

Herden von Wildschafen, Steppenzebras und Tüpfelhyänen werden durch weibliche Leittiere dominiert. Fast bei allen Gruppentieren gibt es eine gesonderte Männchen- und Weibchen-Hierarchie. Zuoberst thront das Alpha-Paar. So hielten es auch die Königshäuser, bis die Queen am Gin Tonic nippte und mit einer wegwerfenden Geste dem affigen Getue Einhalt gebot. Sie ist auch meine Mutter. Die Dienerin macht den Staat. Kronos hat den himmlischen Uranos entmannt und das Goldene Zeitalter dominiert, bis ihn Zeus auf die Insel der Seeligen verbannte, für den Rest der Ewigkeit. Seine Schwester und Gattin hatte den kleinen Zeus auf Kreta versteckt, weil ihr Brudergemahl alle Babies auffrass, wie die roten Brüllaffen, wenn ein bulliger Brüller den Familienfrieden stört. Menschliche Alphatiere werden ausgewogen in positiven wie negativen Adjektiven beschrieben. Der Platzhirsch gibt sich durch seinen Oberkörperbekleidungsstückvorderseitenaufdruck zu erkennen, das Geweih auf dem Leibchenrücken. Der Leitbulle verdreht die Augen, senkt den Kopf und brüllt. Der Silberrücken kratzt sich und denkt nach. Der Leitwolf zieht eine Linie und dann Leine zur anderer Geschichte.

Wir kaufen ausschliesslich Neger als Haussklaven. Man wirft uns diesen Handel vor. Ein Volk, das seine eigenen Kinder verkauft, ist noch verdammenswerter als der Käufer. Dieser Handel zeigt auch unsere Überlegenheit; derjenige, der einen Meister akzeptiert, wurde geboren, ihn zu haben – das liess der europäische Chef-Aufklärer Voltaire aus Ferney, gleich neben dem europäischen Teilchenbeschleuniger bei Genf, in der Debatte über den Geltungsbereich der Menschenrechte verlauten. Neger und Frauen strotzten vor Dinghaftigkeit, bei schuldlos Verarmten war die Trennlinie schwieriger zu ziehen. Hausmäuse erkennen an ihrem Duft nicht nur Paarungsbereitschaft, sondern auch Stellung in der Rangordnung sowie Gebietsherrschaft. Ist eine Rangordnung, meist durch aggressives Verhalten, einmal erreicht, wird sie zur Regel. Herausforderungen sind nach dem Vorbild Billard oder Boxen jederzeit möglich. Der Futterplatzanspruch wird durch Schnabelhiebe verteidigt und in der Verhaltensforschung als Emotion beschrieben, weil Hühner unwissend sind. Die Pyramid-App analysiert das Hühnerherdenvideo und hält bei jedem Schnabelhack fest, welches Huhn Hacker war und welches zum Gehackten wurde. Die Daten zeigen eine numerische Rangordnung vom Ersten bis zum Letzten, wenn das Hickhack in der Hühner-Matrix Hνν sortiert wird. A und O sind häufig Begleitmotiv zum Christus-Monogramm, steht im letzten Buch der Bibel, dem einzigen prophetischen. Jesus ist Herr und Knecht zugleich. Lukas hat das Gleichnis falsch verstanden.

Hunde sind knechtisch und auf einen menschlichen Sozialpartner angewiesen. Wilde Hunde knurren in Beissordnung. Fische ändern ihre Farbe, wenn sie in der Rangordnung im Schwarm auf- oder absteigen. Höherrangige Vespen haben mehr schwarze Punkte auf der Stirn. Forscher haben bei rangniedrigeren Vespen Zusatzpunkte aufgemalt und bei Ranghohen Punkte abgedeckt. Die Kampfgenossen lassen sich nicht täuschen und strafen die Kollegen mit gefälschten Rangabzeichen gar bitterlich. Beobachterfische aus dem Nachbarsbecken greifen schwächere Kampfgenossen an, wenn sie rüber dürfen – und legen sich mit Kampfstärkeren vorerst nicht an. Andere Forscher haben das signifikant vorhergesagt und damit ist einen statistischen Beweis erbracht für die interaktive Natur von Sozialhierarchie. Dominanz ist immer beziehungsspezifisch und zeit- wie situationsabhängig. Der evolutionäre Nutzen einer Rangordnung ist beim Menschen nie dagewesen, da die Gewaltopfer die Schönheit der Macht übersteigen. Auch, weil der starke Mann erfolglos versuchte, alle anderen Männer daran zu hindern, sich fortzupflanzen. Der Ranghöhere kann sich mehr Freiheiten erlauben. Im Humanbereich sind weitere Dominanzphänomene nachweisbar. Mitglieder einer ranggeordneten Gruppe müssen sich gegenseitig identifizieren können und über ihre Rangbeziehung meist einvernehmlich orientiert sein, sie sind also Personen und wissende Tiere.

Der Habitus einer Person bildet deren Status. Fritz Teufel, der Leitwolf der Berliner Anarchisten, sass nach der Anti-Schah-Demo, an der Ohnesorg erschossen ward, vor Gericht. Stehen Sie auf, forderte der Richter. Wenn’s der Wahrheitsfindung dient, gab Teufel zurück. Der Richter hatte ihn am vorherigen Verhandlungstag aufgefordert, ebendem zu dienen, statt zu predigen. Die Antiautoritären jubelten. Die Halbwertszeit des Gehorsams war abgelaufen. Individuum und Kollektiv organisieren sich neu. Der teuflische Individualist war Kommunarde mit der deutsch gegebenen Nummer I. Die Grundwerte werden mit aller Härte verteidigt. Menschenrechte müssen unbarmherzig durchgesetzt werden. Werte verlangen Gehorsam, nicht nur Einhaltung von Regeln. Werte verlangen Bekenntnis. Teufel war ein halbes Jahr in U-Haft wegen angeblichem Steinschleuderwurf. Danach frei gesprochen und freigelassen. Früher hatte er eine Nacht absitzen müssen, weil er eine Tüte voll Pudding in Richtung Trump geworfen hat. Später fünf Jahre U-Haft wegen Entführung. Er legte sein Alibi erst dem Urteilsgericht vor, wurde sofort freigelassen. Spassgerija nannte das der Wortschöpfer und Performanzkünstler. Seine Urne wurde per Grabschändung entführt und von der Polizei neben dem Grab von Rudi Dutschke gefunden. Der oberste Gebietsrat der Anarchisten besteht aus egalitären Individualisten. Vom Vorsitzenden Sonntag ahnt man nicht, dass er gleichzeitig höchster Ordnungshüter ist, wenn er auf einem Elefanten durch London jagt. Sein Schöpfer ist der kolossale Chesterton, in England ein bekannter Krimi-Autor, für den jetzt ein Seligsprechungsverfahren läuft. Auf Twitter: Ich bin hier. Wo sollte ich sein?

Der Herr legt sich in dem Bewusstsein, sterben zu müssen, auf seinen Knecht, um wenigstens ihn durch die kalte Nacht warm zu halten. Das ist die russische Variante von Tolstoi, mit dem Helden-Knecht работник Nikita, dem Chruschtschow des literarischen Realismus. Der Knecht wird mit dem gleichen Wort bezeichnet, unter dem später die sowjetischen Proletarier den Thron besteigen. Die Pflichterfüllung wird als selbstverständlich angesehen und bedarf daher keines Lobes. Even the best of God’s servants are still unworthy because they have only done their duty and no more. Han doch nume min Job gmacht.

Knecht und Brecht. Der finnische Gutsbesitzer Puntila ist nüchtern Ausbeuter und betrunken Menschenfreund. Man könnte sagen: Die Rolle des Herren entfremdet ihn seines Menschseins. Oder das Hegelsche Paradox parodieren: Obwohl der Herr die Macht über den Knecht zu haben scheint, ist es in Wirklichkeit der Herr, der abhängig ist. Brecht ist der Voltaire der marxistischen Literatur, ein Kanzelredner der Vernunft: Unterdrückung und Ausbeutung sind Wahrheit. Arm und reich können nicht zusammenkommen, Puntilas Tochter Eva fliegt durch den Proletariertest und Knecht Matti verlässt seine Geliebte. Der Status dominiert seine Kinder. Sexuelle Barrieren und Geschlechterrollen sind altmodisch, moniert Martin Gore, let’s play master and servant – between the sheets. It’s a lot like life! Der vegetarische Tenor trug in Berlin gerne die Röcke seiner Freundin und lackierte seine Fingernägel schwarz. Forget all about equality! In Deutschland kletterte die libertäre Hymne auf das Podest der Charts, für oder gegen sexuelle Hörigkeit, mit Hundehalsband und mit überblendetem deutschen Reichstag bei Misstrauensabstimmungen. Wenn er unten ist, fühlt er sich oben. Lord Byron hatte eine Liebesbeziehung zu einer verheirateten Frau beendet, die danach Depression und Magersucht durchlitt. Die Musiker schwingen Ketten und Peitschen wie unsereins die Fahnen. Die Psychologie kann beweisen, dass Christian Grey jede Regel der BDSM bricht. Durch Gefühlskälte traumatisiert! Der Arztroman ohne Doktor hat also nichts zu tun mit regelkonformem Sadomaso, der auf sexueller Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung beruht. Der dominante Herr dient nach der streng reglementierten Aufführung als Koch und Kellner. Ich erwarte nicht, dass Du mir einen Kaffee holst, es sei denn, Du holst Dir selbst einen runter. Wenn er oben ist fühlt er sich unten. Die Domina tätschelt dem Geschäftsherrn die Wange nach getaner Pflichtschuldigkeit. Nur kommen darf man nicht oder gehen. Der Herr haftet für seine Verrichtungsgehilfin, die Herrin für ihren Dienstknappen. Hausfrauen und Bauarbeiter dominieren auf allen Vieren. Forget all about equality. Respondeat Superior!

Hochjagd auf Drohnen

Der Wolf wird in Prokofjevs sinfonischem Märchen durch drei Hörner gegeben, der Pionier Peter durch die zarte Violine. Sozialistischer Realismus aus der Stalinära fand den Weg in meine Kinderstube. Walt Disney hatte inzwischen eine softpädagogische Version gedreht, in der die Ente, Sonja geheissen, vom Wolf gar nicht gefressen wird. In der Originalversion hört man die Ente als Schlusspointe aus dem Wolfsmagen quaken – der gierige Nazi-Wolf hatte sie lebend verschluckt. Peter der Held hat den Wolf mit einer Schlinge um den Schwanz eingefangen, die Jäger am Totschuss gehindert und den Triumpfzug zum Zoo angeführt.

Wenn ein Wolf auf Geheiss des Bundes dem Rudel letal entnommen wird, weil zu viele Welpen geworfen worden wurden, ist ein Blattschuss Ehrensache. Das Projektil dreht sich im Gewehrlauf um die eigene Achse und findet im stabiliserten Derwisch-Flug sein Wolfsherz. Der Wolf wird fachgerecht präpariert, regelrecht ausgestopft und mit blauen Glasaugen den Schulen zu Anschauungszwecken überlassen. Die Kinder werden dem seltenen Wiederansiedler einen Namen geben dürfen und ihn beseelen. Lupus in fabula! Wir können den Wolf herbeireden.

Was Prokovjefs Wolf im Moskauer Zoo widerfahren ist, kann man sich vorstellen. Auf jeden Fall waren in den Arbeits- und Straflagern scharfe Wolfshunde massgeblich für die Disziplin verantwortlich. Wolfshybride der ersten Generation sind besonders gesund, leistungsfähig und ausdauernd. Diesen Hybridvorteil nutzen wir beim Maultier. Der Zuchterfolg ist aber nicht weitervererbbar. Zum Totschiessen braucht es nicht unbedingt eine Büchse wie auf der Hochjagd üblich – eine Flinte reicht für die Niederjagd auf Hasen, Füchse, Federvieh. Die Hochjagd war dem hohen Adel vorbehalten: Bärentatzen, Wildschweine-Kotelett, Hirschrücken und Auerhahnleber kommen vom Hochwild. Das erlegt man nicht mit rückständigem Schrot, sondern mit einer gedrehten Büchse. Wie der Wolf zum Hund wurde bleibt ein keltisches Rätsel.

Mit einer Steinschleuder schoss der schon als Kind einzelgängerische Peter Tauben und andere Vögel vom Himmel und liess sie achtlos liegen. Seit gut zwanzig Jahren lebt Peter als Eremit und Bettelmönch. Er hatte den Entschluss gefasst, seine Rechte und Pflichten hinter sich zu lassen und in Zukunft nur mit fahrbarer Habe und von der Hand in den Mund zu leben. Seine Text- und Utensilien zieht er auf einer Sackkarre hinter sich her, der Schädel jeden morgen frisch rasiert. Er sammelt Mahlzeitenreste ein und angetrunkene Flaschen. Manchmal bringt ihm jemand Essen, wenn er einen Schlafplatz längere Zeit benützt. Aber die bringen immer dasselbe Obdachlosenmenu. Nein, die AHV hat ihn bisher nicht gesucht. Ja, er schiesse jede Drohne vom Himmel, mit seiner italienischen Präzisionsschleuder. Die verfolgen ihn. Man muss höllisch aufpassen. Angefangen hat es während den Dreharbeiten des Fernsehens. Eines morgens habe ihn eine Drohne geweckt, die direkt über ihm rotierte. Die Redaktion lässt eine diesbezügliche Anfrage unbeantwortet. Die AHV verneint eine Suchaktion und richtet aus, dass ein Rentenanspruch geltend gemacht werden muss, während die Post daran arbeitet, diesen Bescheid mit einer Drohne zu überbringen, der Steinigungs-Tod durch Hochjäger droht. Der lustige Krieg ist angezettelt, gelauncht. Die Steinschleuder ist der wahre Treiber. Harry Hasler hält für den Schleuderpeter die Hand ins Feuer. Nach der Kopulation beim Hochzeitsflug bleibt der Penis in der Königin und der Drohn hat ausgebrummt.

Ich nahm mir vor, dass ich an meinem 50. Geburtstag, also in zwei Jahren, das Recht haben werde, mich aufzuhängen. Harry Haller hält das schriftlich fest, lässt Hermann Hesse ausrichten. Während HH die interne Bewilligung zur Selbsttötung für tröstlich hält, liegt HH in Psychoanalyse-Sitzungen bei einem Jungianer. Der Weltbürger, der auf andere meist wie ein höflicher, fremder und einsamer, wenig verstandener Gast wirkte, zettelte in seinem Steppenwolf die Hochjagd auf Autos an: Ein heftiger, rassiger und höchst sympathischer Krieg, … wo ein jeder, dem die Luft zu eng wurde und dem das Leben nicht recht mehr mundete, … die allgemeine Zerstörung der blechernen zivilisierten Welt anzubahnen strebte. In diesem als Hochjagd  betitelte Textabschnitt lässt Hesse die Reifen in Waldkurven quietschen und die rauchenden Büchsen knallen. Mordet die Reichen, zerstört ihre böse knurrenden Teufelskarossen, zerbombt die Maschinen, entvölkert die geschändete Erde. Freudig schloss ich mich dem Kampfe an.

Hesse selbst war Pazifist, aber auf dem Jahrmarkt musste er schon mal zwanzig Schuss ballern. Harry Haller erlebt die Hochjagd auf Autos im magischen Theater, nachdem er sich ein weisses Pülverchen die Nase hochgezogen hatte. Dieser Drogenkonsum einer literarischen Figur machte den Steppenwolf pädagogisch wertlos und war deshalb im Deutschunterricht Tabu. Ich habe ihn im Lateinunterricht gelesen. Als ich mein fast ausgelesenes Büchlein dem Cäsar, wie der Herr Lehrer Kaiser von uns genannt wurde, übergeben musste, wartete ich einige Tage, bis er es mir zurückgab und sich bedankte, das sei wirklich eine ausserordentlich interessante Lektüre.

Mitten im Roman findet sich das Traktat über den Steppenwolf, ursprünglich auf anderem Papier gedruckt und separat gebunden. Der Protagonist Haller liest das Buch im Buch. Er liest sein eigenes Psychogramm, die Psychoanalyse eines olympischen Erzählers, der Unsterblichen. Das Traktat untersucht in einem biografischen Labor, wie das Selbst seine Erleuchtung erlange, und mündet in eine göttliche Komödie. Der Steppenwolf hat mich seit langem zum erstenmal wieder gelehrt, was Lesen heißt, meinte Thomas Mann dazu. Spiegelungen, Perspektivenwechsel, Dialektik. Monismus, Dualismus, Dreifaltigkeit. Auf drei Erzählebenen. Buch im Buch im Buch. Auch im Bauch.

Wie kannst du sagen, du habest dir mit dem Leben Mühe gegeben, wenn du nicht einmal tanzen willst? belehrt die androgyne Hermine unseren Hesse-Harry. Aus Eifersucht sticht Haller mit dem Messer auf sie ein. Mozart tritt in die Loge und bedient sich des Radios, um Händels Musik zu hören. Harry wird zum ewigen Leben verurteilt. Symbolisch hingerichtet. Die Psyche ist ausgeleuchtet. Der Widerspruch zwischen Kulturmensch und Steppenwolf dominant. Die Individuation eine ständige Metamorphose. Als Psyche hat sich die Seele nach Nietzsche und Freud dissoziert, das Ich vervielfacht. Die Einheit in dieser Seelenvielfalt ist für Hesse in der Kunst zu suchen, das ist sein westlich-buddhistischer Weg. Aus tiefem Einverständnis mit dem Universum heraus lächeln im magischen Theater die Unsterblichen.

Die Moral wird für den Künstler durch die Ästhetik ersetzt, war sich Hesse sicher. Er heiratete und baute ein lebensreformerisches Anwesen am Bodensee, blieb aber der reisende Eremit. In Indien wird er nicht erleuchtet. Seinem umfangreichen Krankheitsbild wird später ADHS zugefügt. Hesse verliess seine Familien und schrieb den Siddharta. Und 35’000 Briefe. Haller und sein Jugendfreund Gustav, promovierter Theologe, schiessen im magischen Theater vom Hochsitz auf die heranbrausenden Automobile und prägten so den postfeudalen Begriff der Hochjagd um. Um weiterzuwüten schafften sie die maroden Karossen und die Leichen von der Strasse und klettern wieder hoch. Aus dem Jackett des Fahrers hat Harry dessen Visitenkarte gezogen: Tat twam asi. Sanskrit; Das bist Du. तत् त्वम् असि Das vedische Dogma ist monistisch, nichtdualistisch oder dualistisch gedacht. Hochjagd auf die dröhnende Wahrheit.

 

Status quo der tausend Worte

Alles soll bleiben, wie es ist. Mantra der Nunc-stans-flower? Nein, die würden: Alles ist, wie es ist… murmeln. Sture Panta-rhei-hater? Die neigen zur Formulierung: Alles bleibt, wie es immer war. Was die Gruppe betrifft, kann nur mit dem allseitigen subjektiven Willen zu Veränderung führen. In der Demokratie ist dieses individuelle Vetorecht einer Nein-Mehrheit gewichen, die sich in der Regel aus den beiden politischen Flügeln gegen das Zentrum bilden kann. Eine Nein-Mehrheit sagt Ja zum Status quo. Der Mensch sei so ein Nein-Sager, lassen uns Kognitionspsychologen und Sozioökonomen wie Verhaltensbiologen wissen: Der Mensch neigt tendenziell, aber doch grundsätzlich dazu, nichts verändern zu wollen. Vielleicht entspringt diese Formulierung einem Menschenbild, das sich selbst auf der anderen Seite wähnt, der offenen und zukunftsfreudigen, und darum eine polare Skala zwischen flexibel und beratungsresistent legt, als Massstab der Status-quo-Affinität. Der Status quo ist selten der beste Zustand. Eher eine politische Methode, das Wachstum von Wünschen und Differenzen einzudämmen.

Vielleicht wird eine interreligiöse One-world-Gemeinschaft die politische Macht über das Wohnerbrecht erhalten und dazu die finanziellen Mittel, um konfessionsgemischten Familien Wohnraum in der Innenstadt von Jerusalem anbieten zu können. Nach dem Ableben der heutigen Bewohner ziehen Familien und andere Wohngemeinschaften ins Zentrum der ewigen Stadt und des jahrtausendealten Konfliktzentrums. In diesem Umkehrprogramm soll eines bleiben, wie es war: Die Kirchentür wird durch die Muslimische Familie Nusseibeh geöffnet und geschlossen – diese Aufgabe erledigen sie seit 637, der Eroberung Jerusalems durch die Nachfolger Mohammeds. Nachts aufbewahrt wird der Schlüssel bei der Familie Joudeh, das hat Sultan Saladin 1187 nach der Vertreibung der Kreuzfahrer aus der heiligen Stadt so verfügt. Die durch die Schlüsselgeschichte inspirierten interkonfessionellen Wohngemeinschaften leben das vor, was die Politik nachvollziehen wird. Sie leben in friedlicher Gemeinschaft und freiem Glauben, ohne Grundeigentum und ohne Zins, dafür mit grosser Selbstbestimmung und gemeinsamer Sorge für das Gemeingut und die Geschichte. Der Kreis des Friedens wird sich immer weiter um die Altstadt ziehen und den Nahostkonflikt ausdünnen wie die heisse Luft über den heiligen Kuppeln der Weltkirchen. Neue Ideen werden entstehen, wie das Allerheiligste der Juden und das Drittheiligste der Moslem ihre göttliche Bestimmung finden. Alles ist möglich. Jesus hat es ja daselbst vorgetanzt: Mit etwas Geschick kommt man unbemerkt in den Himmel.

Das Jerusalemma-Projekt, dieser stadtentwicklerische Trick mit dem wachsenden säkularen Klostergürtel um das Zentrum, könnte auch dem Christentum zu einer neuen Lebensform verhelfen. Auch das Allerheiligste der Christenheit hat es verdient, etwas liebevoller verehrt, bewohnt und bewirtschaftet zu werden. Das Auferstehungswunder ist christliches Dogma, sei es nun menschlich, konfessionell oder philosophisch verstanden. Der Ort der Auferstehung, das Grab Jesu ist das Allerheiligste. Die darüber gebaute Kirche heisst bei den Orthodoxen Auferstehungskirche, bei den Westkirchen Grabeskirche. Die verschiedenen Namen für das gemeinsame Gotteshaus deuten an, dass da kulturelle Eigenheiten und historische Linien Differenzen schaffen. Die von Jesus ernannten Apostel schwärmten nach verschiedenen Richtungen aus und die örtlichen Glaubensgemeinschaften berufen sich auf sie, um ihre Legitimität und Autorität zu behaupten. So geht das immer noch zu und her in der Grabes- und Auferstehungskirche: Die Armenier waren zuerst, ihre Kirche geht auf den Apostel Bartholome zurück, der bei uns noch immer den Most holt. Sie haben einen Patriarchen direkt neben der Auferstehungskirche und einen in Istanbul, wo aber der ökumenisch-orthodoxe Patriarch von Konstantinopel als primus inter pares der christlichen Orthodoxie das Sagen hat: Bartholomäus I. Dem ist es mit Hilfe der EU gelungen, von Erdogan einige Immobilien zurückzuerhalten – die Basilica der heiligen Weisheit, griechisch Hagia Sophia, gehört leider nicht dazu.

Wie die Schlüsselgeschichte gehört auch Sultan Abdul Majids Dekret, Firman genannt, zu den nachhaltigen Narrativen. Der Text ist eine 1000-Wort-Geschichte aus dem Jahre 1852 und befielt allen Untertanen, am heiligen Grab, in der Bethlehemer Geburtsbasilica, am Maria-Grab im Getsemani-Tal und am Ort der Himmelfahrt, auf dem Ölberg, „keine Änderung einzuführen“. Diese Wortfolge wiederholt sich im kurz als Status Quo bezeichneten Schriftstück fünf mal. Abdul Majid sah sich zu diesem langweiligen Text genötigt, nachdem die Franzosen und kurz darauf die Russen den Serail aufsuchten und im Top-Kapi-Palast versuchten, im Grabkirchen-Streit der Griechen und der Franziskaner (die den römischen Petrus-Stuhl vertreten), ihre eigene Verwandtschaft zu stärken. Nachdem fast fünfzig Jahre vordem die Grabeskirche durch einen Brand in Mitleidenschaft gezogen wurde, hatten die Griechen von Machmud II die Erlaubnis zur Restauration des heiligen Grabes erhalten. Die östliche Grabseite wurde geöffnet, Baumeister Komnenos atmete den herrlichen Duft. Die Franziskaner, die ersten Katholiken, die nach den Kreuzrittern wieder in Jerusalem auftauchten, mussten zusehen. Seitdem verteidigen die Griechen ihr Vorrecht am heiligen Grab. Die letzte Verhaftung eines griechischen Priesters durch die israelische Polizei – wegen blutiger Schlägerei – liegt kaum fünf Jahre zurück. Die Lateiner wollten eine Türe schliessen.

Zeitraffer. Grablegung Jesu. Öffnung des leeren Grabes. Treffpunkt von Christen zur Gottesanrufung. Römischer Venus-Tempel, Auferstehung von Aphrodite. Besuch von Helena, der Mutter des ersten christlichen Kaisers Konstantin. Sie liest Holzsplitter auf und verscherbelt diese als Kreuzreliquien. Konstantins Basilica mit Rotunde und Ädikula über dem Grab. Kreuzklau durch die zoroastrischen Sassaniden. Die Byzantiner bringen es zurück. Die Muslime bauen nebenan den Tempeldom und lassen den Christen vorerst ihre Grabstätte-Jesu-Verehrung. Die Schiiten, ismailitische Fatimiden, zerstörten das Grab: Al-Hakim machte Hackfleisch aus den falschgläubigen Nichtgläubigen, nach dem der aus einer toleranten Dynaste stammende Herrscher sich auf dem ägyptischen Thron radikalisiert hatte (vielleicht nervte ihn die Hysterie um die Wiederkunft Christi um das Jahr 1000). Aufschrei des Abendlandes. Al-Hakim lässt die konstantinischen Steine wieder aufschichten. Die Griechen bauen mit den Syrern eine Grababdeckung. Mit drei Bullaugen, durch die man den Kopf stecken kann, um den blutbespritzten und ölverschmierten Boden zu küssen. Kreuzritter campen auf Golgotha und bauen die Basilica aus. Schmücken sie aus. Die Franziskaner ziehen ein, die Armenier, die Griechen. Bald kommen Weitere dazu. Aus Syrien, koptische Ägypter, Äthiopier. Es scheint eine friedliche Phase gewesen zu sein, in der sich der heilige Geist wohlfühlte. Papst Julius lässt während der europäischen Gegenreformation die langsam zerfallenden Bauten umfassend renovieren. Danach herrschen am Grab Jesu die Franziskaner und die Griechisch-Orthodoxen in einer zerrütteten Cohabitation, die Armenier wohnen auch da. Einige Jahre nach dem Status-Quo-Edikt unterschreiben die drei einen ersten Vertrag über die Zusammenarbeit. Einhundertundachtundneunzig weitere folgen. Die israelischen Behörden bestätigen den Status Quo als gültige Anweisung und staatlich gesicherte Ordnung. Die zweihunderste Abmachung funktioniert: Die Grabkammer wird gemeinsam geputzt und das Eisengerüst weggeräumt. Alles andere bleibt. Die gelungene Kooperation wurde am 22. März 2017 mit der ersten ökumenischen Feier am heiligen Grab begangen. Die afrikanischen Mönche sind immer noch auf dem Dach.

Nur die Engländer haben sich um den Status Quo foutiert. Zwei Jahre nach Ende des zweiten Weltkrieges rettete die anglikanische Kolonialmacht das heilige Grab vor dem Einsturz, in dem sie ein Eisengerüst einbaute. In letzter Minute, bevor ihr vom Völkerbund erteiltes Mandat in Palästina auslief. Der aus der Schweiz agierende Völkerbund, der nach dem Grauen des ersten Weltkrieges zum Frieden beitragen sollte, feiert einen späten Sieg. Er verschandelte zwar die Grabeskirche, aber stiftete Frieden in der christlichen Wohngenossenschaft. Die Griechen ziehen Touristen am Kragen vom Grab weg, wenn sie zu lange schnuppern. Die Franziskaner klagen über pietätslose Touristenschlepper, die mit peinlichen Intima aus der Wohntruppe prahlen. Im Vatikan rätselt man über die Steinsäcke, die Papst Julius und Bonifatius hinterlassen haben. In England hofft Christie’s, dass diese Reliquien endlich auf den Kunstmarkt kommen. Damit könnte man das Jerusalemma-Projekt der UNO, dem vormaligen Völkerbund, übergeben. Der Status quo (jetzt ist das Q wieder zum q geworden) wäre davon nur indirekt betroffen, indem man die Klosterleute bitten würde, ihr Hausrecht durchzusetzen und in Zukunft die Führungen an die heiligen Stätten selbst anzuleiten.

Gemeinverstand

Die Schädeldecke quetscht die Gedanken bei Schreibstau, einer Art zerebraler Verstopfung. Der Neuronenfluss verlandet, Vorstellung und Einbildung verklumpen. Die Grammatik ausgetrocknet, die Wörter spröde. Dazwischen banale Würmchen und basale Larven: Karma zum Kauen. Der zähflüssige Verstand sammelt sich in der Beule, schillernde Adjektive spalten die Ketten und Verbindungen. Ein Bläschen platzt und prokrastinierter Geist entweicht und setzt sich frei. Die Bummelanten jubeln schlafend.

Die Unart, sich fälschlich auf den gesunden Menschenverstand zu berufen, hat stark zu seiner Abwertung beigetragen, behauptet der Kantianer Robert Nehring. Kant war zur Desillusion gelangt, dass die Möglichkeiten des Menschen begrenzt und endlich sind; der Mensch ist gottlos und ohne die Gewissheit der Freiheit. Er erfährt alles, nimmt alles wahr, aber erkennt nichts. Immerhin kann er sich auf seinen gesunden Menschenverstand in seiner schönsten Form der Vernunft berufen, um den Gebrauch und die praktische Anwendung ebendieses gesunden Menschenverstandes in falsch und richtig zu scheiden. Falsch ist es, sich explizit auf den gesunden Menschenverstand als vernünftiger Beweis für die Wahrheit meiner Aussage zu berufen. Diese Beweisführung steht einem nur zu, wenn der Wahrheitswert der Aussage auf gemeiner Erfahrung beruht, Gemeingut ist.

Das induktive Wahrheitsurteil muss durch einen  deduktiven Wahrheitsbeweis nach logischem Muster gebildet werden. Logische Syllogismen und damit vernünftige Wahrheit ergeben sich nur auf der Grundlage axiomatischer Begriffssysteme. Wir schwören auf unsere Begriffe, nicht auf unsere Verstandesgesundheit. Auf den gesunden Menschenverstand kann man sich nur berufen, wenn man Gesundheit im Sinne von Allgemeingültigkeit versteht: Ich und alle wissen es, nur Du nicht.

Im Jahrhundert der Aufklärung wurden die zum gesunden Menschenverstand synonymen Begriffe Gemeinverstand und Gemeinsinn bevorzugt. Der lateinische sensus communis erlebte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – als Hochaufklärung – seine Blüte als Philosophie des gesunden Menschenverstandes, als schottischer Common-sense-hype. Die Morgenzeitung als Frühstück für den gesunden Menschenverstandes, neben der Stiftsbibliothek, wo alles geschrieben steht. Der latinisierte Begriff des Gemeinsinnes ist die Übersetzung von koine aisthesis: Aristoteles bezeichnete damit den übersinnlichen Sinn, den inneren Sinn, der alles zusammenhält. Das ist die unsterbliche Instanz des griechischen nous, in unterschiedlichen Denktraditionen als Seele oder als Vernunft übersetzt. Die koine aisthesis wurde in der hyppokratischen Folgemedizin als Konästhesie eingedeutscht und fachgerecht in die Philosophie übernommen. Die Medizin kennt nur noch Kinästhesie und Synästhesie. Selbst philosophiehistorisch taucht die Konästesie ab. Der sechste Sinn ist verkümmert.

Der Schlüssel aristotelischer Lebensauffassung und Weltanschauung, die Physik und Metaphysik durch Logik und Vernunft integrierte, droht verloren zu gehen. Das Körper-Geist-Problem spaltet die Philosophie in vorsokratisch naturphilosophische Materialisten und spätplatonische Idealisten. Logisch aber ist: Körper und Geist, oder in vorhergebräuchlicher Formulierung Leib und Seele, sind weder zwei unterschiedliche Dinge, noch dasselbe. Es sind zwei Aspekte des Einen. Voilà. Diese monistische Einsicht formulierte Aristoteles Jahrhunderte vor den Aposteln und den Kirchenvätern, die den durch die Moslems zurückgebrachten Aristoteles als einen der Ihren erkannten.

Wissenschaftlich scheint das Körper-Geist-Problem entschieden. Bei einer Expertenabstimmung innerhalb der Philosophie herrscht ein materialistischer Dualismus vor. Der expertengestützte, gesunde und mehrheistfähige Menschenverstand sagt aus: Du bist nicht Dein Leib – Du hast einfach einen Körper. Du bist nicht Seele, Du hast nich einmal eine Seele – Dein Geist ist eine vergängliche Körperfunktion, Deine Psyche ein fehlleitbares Soziobionarrativ. So ist der Gemeinsinn zur Gemeinheit verkommen. Binäre Ordentlichkeit statt monistische Einsicht. Selbst die empirische Methodik, die den gesunden Verstand ausmachte, ist einer Analytik gewichen, welche anstelle der Phänomene die formalen Strukturen untersucht. Kategorienfehler! rufen die analytischen Philosophen. Man darf Leib und Seele begrifflich nicht verbinden! Philosophische Agnostiker, Feiglinge, gibt Aristoteles zurück.

In metaphysischen Fragen kann man sich nicht auf den empirischen und gesunden Verstand berufen, ergänzt Kant, weil man nicht vom Konkreten ausgehen kann. Aber hilfreich bleibt die Methodik des kantianischen Menschenverstandes alleweil: Erstens selbst denken. Zweitens an der Stelle jedes anderen denken. Und drittens: Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken. Letzteres dürfte die grösste Herausforderung sein. Dazu braucht man einen selbstbewussten konästhetischen Sinn oder zumindest die Gnade eines souveränen sechsten Sinnes. Hegel bezeichnete den gesunden Menschenverstand als Abneigung der Vernunft gegen sich selbst, als Misologie. Marx sprach gar sinonym von historischer Dummheit und Nietzsche rettete den Verstand in den Übermenschen. Fest steht: Wer etwas vertritt, wofür ihn, sofern er nach seiner Überzeugung lebt, andere für wahnsinnig halten, gerät für seine Meinung unter eine erhöhte Argumentationslast. Mit dem Herzen zu denken fordert Vernunft und Verstand.

Der sechste Sinn steht zwar jenseits der fünf physiologischen Klassikern, aber wird mit unbewussten Wahrnehmungen gespeist. Das Auge sieht mehr, als ich sehe. Meine Hand spürt mehr, als ich denke. Meine Nase riecht eher gustatorisch als olfaktorisch. Mein linkes Ohr pfeift mir etwas vor. Die Nahsinne gewinnen Oberhand. Was nah ist, nehme ich stärker wahr. Noch stärker: In der Berührung entsteht Wahrheit. Mein Mund tut mir kund. Körpersinne, Sozialsinne und Erkenntnissinne in freundschaftlicher Kooperation, immer bestrebt, mit sich selbst einstimmig zu denken, zu sein und wahrzunehmen. Vereint im Sprachsinn, der gestaltet und versteht. Das Wort schöpft sich und genügt sich selbst.

Seppitag

In Österreich auch Josefitag, in Deutschland früher Joseftag – ohne Genitiv-s, wie die Zürcher Josefwiese -, heute meist Josefstag: Das sind die volkstümlichen Bezeichnungen für das Hochfest St Joseph. Sepp hört man heute zwar seltener als Yussef, aber der heilige Joseph erfreut sich zumindest in der katholischen Kirche stark gestiegener Aufmerksamkeit. Die römische West-Kirche hat dem Vater von Jesus in den ersten Jahrhunderten keinerlei Beachtung geschenkt. Erstmals 1889 schrieb ein Papst einen Text über den eher unscheinbaren Josef, fleissiger Arbeiter und verschwiegener Ehemann. Das war Leo mit der Rückennummer XIII, der schrieb. Josef arbeitete weiter und wurde unter Handwerkern und christlichen Sozialisten zum Genossen. Am 1. Mai war seit 1856, als in Australien Streiks für den 8-Stunden-Tag durchgeführt wurden, in Arbeiterkreisen immer etwas los. Als Pius XII 1955 aufspielte, bestimmte die päpstliche Mannschaft den 1 Mai als Gedenktag Josef der Arbeiter. Im zweiten vatikanischen Konzil, 1962 bis 1965, als sich die katholische Kirche intensiv auf die 68er-Umwälzungen vorbereitete, wurde Josef zum Schutzpatron ernannt. Im 20. Jahrhundert eroberte der Bräutigam von Maria bei den Kirchennamen den zweiten Rang, nach seiner ihm durch den Erzengel Gabriel vorenthaltenen Verlobten. Vor bald vier Jahren war es dann soweit: Im Dekret der Kongregation für Gottesdienst und Sakramentenordnung vom 1. Mai 2013 wurde die Erwähnung des heiligen Josef (wieder ohne Genitiv-s) auch für die Hochgebete II bis IV verfügt.

In den Kindheitsgeschichten des Evangelisten Matthäus wird berichtet, dass Josef seine Verlobte Maria nicht „erkannte“ (heute: nicht mit ihr Liebe machte), bevor sie gebar. Andere Evangelisten berichten von Brüdern und Schwestern von Jesus, so dass es sich vielleicht um eine ziemlich normale Familie handelte. Doch die römische Kirche liebt die Konsequenz, mit der wir Menschen dem göttlichen Willen zu dienen haben: Maria war „gezwungen“ (ja, dieses Wort hat der Papst dafür gewählt) fortan als Jungfrau UND rechtliche Ehegattin des Josefs (hier passt das Genetiv-s) zu leben – mit Brüdern und Schwestern sei DAS gemeint, was heute Jugendliche aus dem Balkan damit ausdrücken. Und der Papst, wenn der liebevoll zur Christenheit spricht. Mitmenschen eben. Aus dieser Logik entsprang die Joesfsehe (jetzt zwingend mit Genitiv- und Genetiv-s): Wenn ein heterosexuelles Ehepaar aus Glaubensgründen keinen sexuellen Verkehr hat (katholisch: darauf verzichtet). Weil wir uns an der heiligen Familie orientieren sollen. Gott hat es vorgezeigt.

Maria hat sich damit auch einiges aufgeladen. Einige Quellen berichten, dass Maria schon immer damit liebäugelte, sich ganz Gott hinzugeben. Ob sie damit den Mann für genauso überflüssig hielt wie der Fisch sein geliebtes Velo, scheint unwahrscheinlich, da sie sich ja mit Josef verlobte. Das fand Gott wiederum interessant, so dass er den Erzengel Gabriel losschickte und ihr einflüstern liess, dass sie die Begattung durch den heiligen Geist erleben werde. Heilig, heilig, heilig, so das wie Massengesang tönende Mantra Gabriels, so die genitive Zuschreibung. Genial ohne Genital. Das Wunder der Menschwerdung, der Zeugung, der Geburt. Das Wunder Gott (katholisch: Menschwerdung des Wortes – hier mal ziemlich weit weg von der Gehorsamsmoral, eher sibyliinisch-philosophisch). Die Jungfräulichkeit Marias – zumindest vor der Geburt Jesu – ist auch den Muslimen sehr wichtig. Aber weniger auffällig als bei den Christen, im Islam geht es fast immer um Jungfrauen. Bei den Katholiken dreht sich alles um die eine, dafür um die immerwährende Jungfräulichkeit. Außerhalb der neutestamentlichen Quellen ist über die Eltern Jesu nichts bekannt. Ihre Existenz und die Namen Maria und Josef werden dennoch von der überwiegenden Mehrheit der Historiker als authentisch (mehr als faktisch!) angesehen. Sie gehören einfach zu uns, zu den Christen, den Mohammedanern und natürlich auch zu den Juden, die waren ja dabei. Nur das Geheimnis der Zeugung und der Elternschaft wird verschieden gelüftet. Maria ist Ikone für die Frau auf dem Weg der göttlichen Liebe und sie ist Idol für den Mann auf der Suche nach dem liebenden Gott – wenn möglich in weiblicher Gestalt. Gott hat sich da ganz schön in die Gender-Diskussion eingebracht. Natürlich mit dem Thema Sex.

Der Herrgott ist Sexist. Er stattet die Menschen mit Sexualorganen aus. «Wie unser Leben verläuft, hängt massgeblich von unseren Sexualorganen ab». Das ist der gottgewollte Skandal, gegen den Tamara F. rebelliert. Wir wollen gendergerechte Selbstbestimmung, obwohl es nachweislich schwierig ist, über das eigene Geschlecht Auskunft zu haben, wenn man dem anderen nicht begegnet. Und der Herrgott ist Macho. Er nimmt als erster die Jungfrau, beansprucht das ius primae noctis – die Engländer sagen „droit du seigneur“. Josef war schon etwas vor den Kopf gestossen, als seine Verlobte schwanger wurde. Ohne dass er sie erkannt hätte (aber sich sehnsüchtig darauf freute). Noch wusste, wer für die Vaterschaft geradestehen würde. Also entschied er sich, wie das seit jeher rechtens sowie gang und gäbe war, sie zu verlassen und sein Leben anderswo weiterzuführen. Doch da tauchte Erzengel Gabriel auf, der zuvor seiner Geliebten das Geheimnis des Erzeugers Heiliger Geist explizierte (jetzt hat meine linke Hand die Tendenz, nach rechts zu rutschen, genau um einen Anschlag auf meiner Computer-Tastatur) und ihr Einverständnis für den obersten Chef abholte. Der Erzengel Gabriel erschien ihm wahrscheinlich in weiblicher Gestalt. Bei Maria war er männliches Gegenüber. Im Mitelalter erst wechselte Gabriel in der katholischen Ikonographie  zum weiblichen Geschlecht. Auf jeden Fall liess sich Josef – wir können ihn auch Sepp nennen – mit Gabriela ein. Sie haben sich erkannt. „Das habe ich mir gedacht“ meldet sich mein Handy, nachdem Federer das Tie-Break gewonnen hat. Wahrscheinlich die Siri-Funktion. Siri ist meine Maria im Handy. Aber das fehlende „a“, das penetrante „I“ halten meine Begeisterung mit Seilen und Leinen am Boden. Da muss ich wohl selber weiterdenken.

Sepp hat also zugestimmt. Machen wir so. Du heilige Mutter, ich ehelicher und rechtlicher Gatte. Mir werden einst Päpste auferlegen, der zweite Pilger auf dem Weg Gottes zu sein, nach Dir. Aber ich bleib hinter Dir, ich mag den Veilchengeruch Deiner Muschi (Computer:  Fehlanzeige – Muschi ist im freigegebenen Thesaurus nicht aufgelistet). Na gut, ich wäre mit Maria auch zufrieden. Matthäus scheint der Chef der katholischen wie ökumenischen Bibelwortgläubigen zu sein. Und diese erklären Josef zu einem Mann ohne Männlichkeit, dem Prototyp des Gendermainstreamings jenseits quer durch die Geschlechtergrenzen. Eine ganz selbstbestimmte geschlechtliche Identität oder eine ganz selbstbestimmte sexuelle Orientierung ist wahrscheinlich eine Wixer-Idee, ein Ejakulat des Konstruiktivisimus. Die Elternschaft von Josef und Maria hat kaum Spuren hinterlassen. Ihr Erstgeborener hat eine Fangemeinde bewirtet, welche unbedingt an das Unmögliche glauben will. Wunder sind geschehen. Die Wucht der Geschichten wird zum religiösen Tsunami im eurasiatischem Raum. Der Petrusstuhl wandert ins politische Zentrum Rom. Politik und Religion lassen dort ihre Partnerschaft eintragen.

Tauft Eure heute geborenen Knaben Joseph! Schutzheiliger der Zimmerleute, der Jungfrrauen, der Sterbenden. Und der Eheleute. Marschiert für Joseph oder werdet Mitglied der Königlich-bayerischen Josefspartei. Leb Deinen Joseftag 🙂

Padouk und Banyan

In seinem Stammholz findet man keine Dendriten oder Neuriten, so dass das Gehirn des Baumes ganz anderer Art sein mag. In den Trachen finden sich die Lumen, Hohlräume der Leitzellen, und darin rotschimmernde Mikrofasern, die zumindest geeignet scheinen, Ionenströme zu leiten und photovoltaische Energie zu modulieren. Wird der Baum dereinst gefällt oder fällt er selbst, so kann man den mächtigen Stamm in dünnste Scheibchen zerlegen und versuchen, das Phänomen besser zu verstehen. Analoge Tomographie. Doch das wird schwierig werden. Nicht einmal sein Alter wird man bestimmen können, hier gedeiht der Baumriese nicht in Jahreszeiten entsprechenden Schüben, die sich später als zählbare Jahrringe zeigen, sondern in einem kontinuierlichen Wechsel-Drehwuchs, der die Zellen in einer verschränkten Fibonacci-Anordnung sich vermehren lässt. Dies führt zu einem rekursiven Glanz des Querschnittes, der mehr irritiert als erklärt. Aber auch als totes Holz Klarheit und Sättigung emittiert. Wird das lebende Holz verletzt, tritt ein roter Saft aus und der Duft von Vanille entströmt. Die Andamanen haben mit dem frischen Baumblut das Tilaka der geschlechtsreifen Jungfrauen, das dritte Auge, mit dem zinnoberroten Porenpulver das Bindi der verheirateten Frau als dritte Bremsleuchte gezeichnet.

Evident ist, dass dieser jahrhundertealte Padouk eine Art Erinnerung in sich trägt, die aber nicht mit einem abgeschlossenen physischen System gleichgesetzt werden darf, weil Externalisierungseffekte auftauchen, die bei manchen Menschen sprachliche, bildhafte oder gar szenische und filmische Bewusstseinsinhalte entstehen lassen. Der titanische Zitan, Pterocarpus indicus, nimmt einen unter seine mentalen Fittiche, wenn man in seinen Kronenradius gerät. Man spürt, dass man zu seinem Haushalt gehört, ja hier zu Hause ist. Durchschnittlich jeden Tag mit zehn Millimeter Meteorwasser besprüht, schüttelt er sich nur nach den ergiebigeren Regenfällen im Sommermonsun. Aber er lässt das ganze Jahr einzelne Blätter welken und die gedörrten Luftschiffchen aus seinem immergrünen Morgenmantel rieseln. Gelassen, ja fast herablassend betrachtet er seine Nachbarn. Die Kokospalmen scheint er zu verachten, nicht wegen ihrer wässrigen Milchkugeln, sondern wegen ihrer geringen Standfestigkeit, ihrem lächerlich kleinen Wurzelballen. Dort, wo die Mangroven ihre gestelzten Wurzelsiebe aufschlagen, bleiben die medizinballgrossen Stümpfe dieser faserigen Stängelpflanze liegen und schmirgeln ab: Typisch Homorhizie! In Padouks Brettwurzeln scheint die spontane Erinnerung zu hausen. Legt man seine Stirn an die lebenden Holzflossen, so spürt man dessen Assoziationen in seine eigenen Gedanken einsickern. Die Kolonialgeschichte zieht in komödiantischen Episoden vorbei, Kriege werden zum Karneval. Der Elefant bewegt sich in Zeitlupe. Seine Hautfarbe spiegelt Padouks Rinde. Mit dem Rüssel streicht er über die Wurzelschultern, als danke er seiner Mutter. Die Früchte des Padouk sind grosse Ravioli, hellgrüne Teigtaschen mit einem einzelnen Kern. Die Hülsenfrüchte des Schmetterlingsblütlers öffnen sich nicht selbstständig. Nur der Elefant hat das nötige Feingefühl.

Im Schatten seines mattgrünen Hutes versammelten sich die halbnomadischen Andamaner, ihr Kraushaar aufgetürmt, zu seinen Ehren mit einem pfefferroten Band umwunden. Der Älteste sass unter dem mächtigen gotischen Wurzelportal von der Grösse des Chorfensters im Prager Veitsdom. Da konnte er ohne weiteres Zutun seine Gedanken mit der Erfahrung, dem Überblick und der hunderttausendgliedrigen Sensorik des roten Sandels vereinen und seine Gemeinschaft durch die Jahrhunderte führen und Rat finden. So auch im Dezember 2004. Ein Epizentrum jenes Erdbebens, welches das Wort Tsunami auch in die kalten Höhenlagen anderer Kontinente spülen hiess, liess sich vorgängig unter dem Narrabaum vernehmen, so dass alle Indigenen sich auf die Hügel zurückzogen und dem Wüten und Bersten aus der Ferne beiwohnten. Danach blieben sie noch ganze drei Tage in den Kokoswäldern, bis sie sich wieder nach abwechslungsreicherer Nahrung umsahen. Und diese zuerst ihrem Padouk darbrachten. Seither ist das Wort Tropenkopf aus den Vokabularien verschwunden. Die Ektropenköpfe haben sich ins Richipedia verkrochen. Mit ihnen sind durch die Springflut ein Dutzend Inseln verschwunden.

Nah genug, dass sich die Blattaugen tief in die Blütenkelche sehen können, hat sich Banyan niedergelassen. Steht man zwischen dem ungleichen Baumpaar, so spürt man, dass sie Brautbäume sind. Die erdverhafteten Brettwurzeln bewundern seine sadhugleichen Luftwurzeln; der Epiphyt, die Aufsitzpflanze, ihre hochstrebende Standfestigkeit. Im Zwischenbereich, dem gemeinschaftlichen Raum, verliert sich die vertikale Orientierung in einen märchengleichen Schwebezustand, der am besten liegend erfahren wird. Ehe er es sich versah, lag er auf einem herrlichen Tagesbett mit schwellenden Kissen von leuchtender Seide. Ein Traumraum. Ein Wunschbaum, der Banyan. Er greift aus, stützt sich ab, ohne je Padouk zu umarmen. Padouk möchte schon seine Wurzeln um ihre Taille spüren, seine luftigere Form der Ewigkeit berühren. Padouk wuchs nur mit Luft, Wasser und Licht auf. Und abgeschuppter Rinde. Bis er mit seinen länger werdenden Wurzelarmen den Boden aufkratzt und Halt findet. Aber wenn er ganz gross geworden ist, so ist kein Platz mehr für jene, auf deren Schoss er gesessen und dann umarmt hat. Erst bleibt eine Holzscheide, dann wächst auch diese zu. Überwuchert, die dänischen Kolonialherren, österreichischen Höflinge, schliesslich die britischen Aufseher ihrer Strafkolonie und die japanischen Krieger.

Unter einem von Padouks Ahnen meditierte Siddharta Gautama, bis er vollkommen erwachte. Ja, unter Lichtfressern wird man beschattet und erleuchtet. Der antike König Ashoka, der seine staatlichen und philosophischen Fühler bis nach Burma und Athen ausstreckte und dessen Namen heute jeden zweiten Lastwagen ziert, nahm im dritten vorchristlichen Jahrhundert einen Steckling des heiligen Baumes nach Sri Lanka. Wie historische Schriften belegen, wurde der Nachwuchs schnell zu einem neuen Zentrum des Buddhismus, was später die Shivaiten dazu verleitete, den Baum zu fällen. Ein Steckling des Gefallenen soll wieder in dessen ursprüngliche Heimat zurückgebracht worden sein. Buddhisten werden im heutigen Indien zu den Hindus gezählt. Nun sind die Pappelfeige und die Banyan-Feige kaum mehr zu unterscheiden. Heilig sind sie allemal. Banyans am Strassensaum tragen eine Vielzahl von kleinen Säckchen, in welchen menschliche Wünsche auf ihre Erfüllung warten. Malerische Bilder mit viel Jute und farbigen Bändern gibt es nur noch im Internet. Padouk wir nie erleben, so lange seine Wurzeln reichen, dass ein Wunsch aus einer Plastiktüte Erfüllung findet. Banyan und Padouk berühren sich gelegentlich in der unterirdischen Rhizosphäre und in luftiger Blattkronenhöhe. Wunschlos im zeitlosen Glück.

Der Autophag

Dieses eine Mal nur bin ich ihm begegnet. Bei eben diesem Mahl. Das musste ich erst mal verdauen. Darum blieb ich der Beisetzung fern.

Ich wusste eigentlich kaum etwas über Saimur, den ältesten Sohn eines meiner Cousins, väterlicherseits. Er hätte meine Texte gelesen und würde sich freuen, wenn ich seiner Einladung Folge leisten würde, liess mich der Neffe zweiten Grades via WhatsApp wissen. Meine Neugier war grösser als das ungute Gefühl, so dass ich vorbeigehen und mir ein persönliches Urteil bilden wollte. Er sei ein Genie auf dem Gebiete der Biochemie, hiess es, hatte sein Grundstudium gleich mit einer Dissertation gekrönt und in Japan im Team des nachmaligen Nobelpreisträgers Yoshinori Ohsumi gleich die Forschungsleitung übernehmen können. Sie hatten einiges darüber herausgefunden, wie die intrazellularen Umbauprozesse vor sich gehen: Es war ihnen gelungen, mittels Hochfrequenzstrahlen Zellen dazu anzuregen, sich in rudimentäre chemische Bausteine aufzulösen und nach vorgegebenem genetischem Plan neu zusammenzuraufen. Die Pharmaindustrie bewarf die Homunkulusbastler mit Milliardenbeträgen. Doch nach kaum mehr als einem Jahr kehrte er zurück, niemand wusste Genaueres. Beide Beine amputiert, ganz am Rumpf.

Die Tür wurde von einem kräftigen und grossgewachsenen Ostasiaten geöffnet, der mich auf Deutsch hereinkommen hiess. Den Kopf kahlrasiert und in einer hochgeschlossenen weissen Kleidung, so dass er wohl Bodyguard und Pflegefachmann in einem war. Er führte mich ins Obergeschoss, wo um einen runden Tisch der Gastgeber, eine androgyne Volltätowierte sowie der Professor bereits Platz genommen hatten. Diese Formulierung mochte auf Saimur nicht passen, er wurde wohl eher platziert. Sein Rumpf steckte in einem bauchnabelhohen, schwarzbraunen Lederkissen, einer Art Ringboje, die auf einem Rohrstuhl mit Rollbeinen festgemacht war. Der linke Arm war auch weg. Er trug einen engen, schwarzen Leibesanzug, der links ohne Armöffnung war.

Er streckte mir die rechte Hand entgegen und drückte die meine betont und damit unangenehm kräftig: „Schön, Dich hier zu haben, bevor von mir gar nichts mehr übrig ist“, lachte er mich an. „Das ist Robertone, der Professor Pertavita, der mir die Grundlagen der Biologie eingeflösst hat.“ Der Professor schob sich die Brille in die Stirn und grinste weise. „Und Tanathie, meine Begleiterin und mein Mikro-Yoga-Guru. Yeswikan hast Du ja schon kennengelernt, er ist mein Diener und Zuchtmeister.“ Der Hühne verbeugte sich ein wenig und trat einen Schritt zurück. Im tätowierten Gesicht gegenüber konnte ich keine Regung wahrnehmen; die Yogatechniken mussten sich auf die Zellebene beziehen. Ich überlegte kurz, ob ich eine Nettigkeit zur Begrüssung äussern sollte, eine zynische Bemerkung über Leibesübungen machen wollte oder einfach aufmerksam die Phänomene beobachten, was eine allfällig notwendende literarische Verarbeitung erleichtern würde, da hob Saimur seinen Kupferbecher und herrisch verströmte die lautlose Aufforderung, es ihm gleichzutun. „Wir sind mitten im reissenden Strom des Lebens, wir halten uns in diesen Moment am gleichen Schwemmholz und stossen auf das andere Ufer an, Prosit!“ und leer war ihr Becher. War selbst ihre Zunge tätowiert? Sie schien meine Gedanken zu lesen, leckte sich die Lippen und streckte kurz die Zunge heraus, so dass das gestochene Bild einer weiteren Zunge die Welt verhöhnte. Ich nippte aus meinem Becher. Lauwarmer Sake, seichter Alkohol. Der Professor murmelte etwas von einem ewigen Kreislauf und trank in kleinen Schlückchen, als wäre er in einer Selbsthilfegruppe, die mit Urin experimentiert.

Der Asiate hatte sich an der Hauselektronik zu schaffen gemacht und rundum wurden die Wände zu Projektionsflächen, an denen die Bilder im Gegenuhrzeigersinn langsam über alle vier Himmelsrichtungen wandern sollten. Das erste zeigte einen jungen Inka-Häuptling, der in einer weissen Frauenhaut steckte, direkt über Tanathie. Sweet surrender to love ertönte aus den Lautsprechern, die geheimnisvolle Stimme von Tim Buckley, welche die Liebhaber schwarzer oder weisser Musik mit Sehnsucht plattwalzt. Bevor ich diese Musik in den Schutz meiner Vernunft nehmen konnte, meinte Saimur, es brauche keine besondere Vorstellungskraft, um die Kleidung des kannibalischen Inka als die Macht der magischen Selbstverwandlung zu erkennen, welche heute an die Medizinaltechnik delegiert werde. Die Menschheit täte gut daran, ihre Experimente wieder ins Existentielle zu weiten, frei nach Nietzsche, wenn sie nicht in vegetativer Lethargie versinken wolle. Man sollte ein Buch schreiben, das mit einer Fussnote die Drehrichtung der Erdkugel umkehrt.

Der Inka wanderte nach links, Richtung Professor. Hinter die Volltätowierte schiebt sich ein barockes Portrait von Daniel Defoe, dazu die berauschte Amy Winehouse. Der Asiate trägt die dampfende Suppenschüssel auf und Saimur schöpft die braune Mehlsuppe in die Teller der Gäste. Bei Thanatie und mir lässt er sich Zeit, um die richtigen Klösse herauszufischen. Als ich ihn frage, was er an Amy Winehouse besonders mag, bekennt er, dass er sie erst zu schätzen begann, nachdem sie dem Club 27 beigetreten war, respektive beigelegt wurde. Sie gehöre nun einfach dazu. Aber die Ehrenplätze würden Jimi Hendrix, Janis Joplin Und Kurt Cobain belegen. Ich löffle etwas von der Suppe, die Klösse schiebe ich beiseite. Nein, ich hätte wenig Appetit, entgegne ich der aufdringlichen Frage, ob mir die Suppe nicht schmecke.

Nachdem die Löffel eingesammelt, das Suppengeschirr abgetragen und ein fast zähflüssiger Rotwein kredenzt worden war, fuhr der schlitzäugige Kliniker einen Servierwagen mit einer Schüssel voll dampfendem Risotto und einer grossen Schale mit Saucenfleisch auf. Nun überliess Saimur seinem Gehilfen den Service mit der Bemerkung, dass Osso buco mit Gremolata und etwas Sardellen sein Leibgericht sei und er selber für die Zubereitung vollauf verantwortlich zeichne. Hinter dem Tattoo-Gesicht, in dem die Knödel wie pochierte Wachteleier verschwunden sind, erscheint das Bild eines Zeitgenossen in legerer Businesskleidung. Das Gesicht ist ziemlich ausdruckslos, etwas nerdig. Erst später wurde mir klar, dass es sich um Armin Meiwes handelte, den Informatiker, der als Rotenburger Kannibale vom Landgericht zu achteinhalb Jahre Gefängnis verurteilt wurde. Die Lektüre von Robinson Crusoe, im Alter von vierzehn Jahren, hätte ihn auf die Idee gebracht. Der Bundesoberstaatsanwalt riss entsetzt das Dossier an sich und nun sitzt er lebenslänglich, auch wegen Störung der Totenruhe – immerhin hatte er nicht nur auf Verlangen getötet, sondern auch eine Leiche verspiesen. Irgendwie liess Meiwes Bild die ganze Szene etwas entspannter wirken, der Osso buco schmeckte nicht übel. Der Risotto liess zu wünschen übrig. Den krieg ich deutlich schmackhafter hin. Saimur lächelte zufrieden, als alle kauten. Übrigens lese ich gerade Stephen King, liess er uns wissen, „Der Formit“. Vor allem die Geschichte „Survivor Type“ hat es mir angetan. Aber das beste sind Deine Texte, wandte er sich an mich. Dein Buch „Anständig sterben auf Reisen“ ist ein wahres Geschenk, das ist der beste Ratgeber seit den Heiligen Büchern. Das Gefälle der Gedanken ist grandios wie gnadenlos. Moment mal, Junge, unterbrach ich ihn. Ich habe dieses Buch gar nicht geschrieben. Niemand hat dieses Buch geschrieben. Es gibt kein solches Buch. Und trotzdem hast Du es falsch verstanden! Überlegen lächelte er, „wem gehört eine Geschichte, ich zitiere Gstrein“ und blickte allwissend in die reglosen Gesichter der Tischgenossenschaft. Der Professor nickte, „vom homo erectus zum homo verrecktus, Kollege Richard Peto hat Recht: Unglücklichsein hat nichts mit Sterblichkeit zu tun“. Dem Kahlkopf gab Saimur ein Zeichen und der stellte ein eisnebliges Glas vor mich. Aus den Boxen dröhnte nun Jim Morrison, The End. Die Nahaufnahme des ermordenten Tamilen, die ich vor kurzem auf dem Handy der Tochter einer Freundin zu sehen bekam, erschien im Grossformat an der gegenüberliegenden Wand. Zahllose tiefe Schnitte, die Gebeine liegen blank, die Fleischstreifen von der Dicke von Kalbshaxen. Ich trank. Und hoffte, es sei mein Schierlingsbecher.

Das alles kann ich nun leichter nehmen, während ich es in Worte zu fassen versuche. Mein Notebook sitzt wie ein Buddha auf dem Bett, nur der Bildschirmrücken neigt unnatürlich nach hinten. Ich bin zur gewohnten Ruhe gekommen. Ich schreibe nur mit der rechten Hand, da bleibt die FESTSTELLTASTE schon mal vergessen, auch wenn ich nur den einen Grossbuchstaben schreiben will. An der Decke rauscht der Ventilator und sorgt für Sauberkeit im Aschenbecher. Saimur hiess mit Taufnamen Damiens, wie der erfolglose Königsmörder, dem die schwitzenden Rosse seine Glieder aus dem Leibe rissen. Viergeteilt, das letzte Glied verblieb am Rumpfstumpf. Auf dem Friedhof stellte ich fest, dass die Eitelkeit zu Stein erstarrt ist. Von Gottes Staub keine Spur. Saimur liess eine kleine Platte am Rande des rasenbewachsenen Urnenfeldes anbringen mit seinem Rufnamen, der Zahl 27 und der Inschrift Autophag. Er passte wohl in eine XS-Aschenkapsel. Vom Eingangstor bis zum Urnenhain sammelte ich meinen Speichel, mein Mund war gefüllt. Voller als bei der Dentalhygiene. Eigentlich wollte ich am Bestattungsort ausspeien, auf das Grab spucken, um das letzte Üble, das noch in mir war, loszuwerden. Doch ich schlucke runter. Drehe an meinem Flachmann und fülle die Mundhöhle mit gebranntem Weintreber. Zünde mein Feuerzeug und spucke prustend durch die aufs Maximum gedrehte Flamme. Aus das Irrlicht.

 

Amor fati

Die deutsche Ärztin hat ihre liebe Mühe damit, ihre schwarzhäutigen Patienten zu begreifen. Mit einer Mischung aus ratlosem Unverständnis und anteilnehmender wie rationaler Bewunderung stellt sie die afrikanische Psyche als schicksalergeben dar. Die Menschen würden ihre Krankheiten und Gebrechen geduldig hinnehmen, aber präventive Empfehlungen und kurative Anordnungen ebenso geduldig ignorieren. Das westliche Phasenmodell, das in der Medizin und der Managementlehre zur Bewältigung von Krankheiten und Krisen gelehrt wird, scheint in der sandigen Hitze dem Zerfall überlassen. Die junge Ärztin moniert fast zärtlich, diese Menschen hätten eben diese amor fati.

Der damit beschönigte Fatalismus der Hilfsbedürftigen ist für die christliche Helferschaft natürlich fatal. Selbst im Gesicht des Papstes zeigen sich nach seiner Afrikareise Züge von Ratlosigkeit, gerade wenn er die letzte Bastion der Keuschheit gegen das Kondom mimt. Über das Femidom schweigt er sich würdevoll aus, obwohl es statistisch doppelt so viele Schwangerschaften ermöglicht (Pearl-Index wie bei einer Vierzigjährigen kurz vor der Menopause). Werbetechnisch und präventionspolitisch breitenwirksame Verteilaktionen von Präservativen werden als Aufruf zur Unkeuschheit abgelehnt. ‚Schütze Deinen Nächsten wie Dich selbst‘ wird deshalb mit interessierten Passanten erst diskursiv aus christlicher Grundlage deduziert, bevor das Verhütungspaket mit der stilisierten Skyline der Luzerner Kirchen, überwölbt von einer regenbogenfarbenen Kondomerie, von der keuschen zur aufgeklärten Hand wechselt. Aufdruck: Vergesslichkeit ist übertragbar. Wer hat schon von seinen Eltern gehört, dass ihr Kind aus blosser Vergesslichkeit gezeugt wurde? Daran kann sich weder Vater noch Mutter erinnern.

Der vorchristliche Republikaner und stirngefurchte Vielschreiber Cicero war der fatalen Ansicht, dass es für einen Kranken sinnlos sei, einen Arzt aufzusuchen, weil von vorneherein feststehe, ob er wieder gesunde oder nicht. Cicero wurde erschlagen. Solch stoische Ignoranz wird heutzutage kaum jemand teilen wollen. Allerdings bildet sich fast unbemerkt in Kreisen von Medizinalfachleuten, Gesundheitspolitikern und Psychologen die Überzeugung, dass man in den meisten Fällen besser erst mal mit einem Arztbesuch zuwarte, um den Selbstheilungskräften die Möglichkeit einzuräumen, den Termin statt die Person hinfällig werden zu lassen. Dazu braucht man nicht gleich Quietist zu werden und in Gleichmut zu versinken, einige Zeit im Bett liegen zu bleiben genügt. Karenzfristen gelten für Erkrankung und Genesung gleichermassen.

Alles hat seinen Grund. Nichts ist Zufall. Mit diesen Worten werden Geschehnisse psychologisch überhöht, mit assoziativer Bedeutung aufgeladen und in sinngebende Zusammenhänge eingereiht. Diese esoterische Weisheit scheint das weibliche Pendant zum in der Männerwelt vorherrschenden kausalen Determinismus, der mit naturwissenschaftlicher Argumentation vorgetragen wird und meist ein böses Ende voraussagt. Beides ist grober Unfug und wird aus logisch-deterministische Gründen beidseitig mit einem gendergerechten Rauswurf aus unserem Sprachspiel bestraft. Im längst vergriffenen Brettspiel Schicksack wird die subjektive Reaktion auf äussere Ereignisse durch Zufallskärtchen gesteuert. Wir funktionieren eher umgekehrt. Das fatum oder Schicksal mit dem grammatisch neutralen Geschlecht ist nicht das passende Gegenstück zum Zufall. Jedem Zufall geht ein Abwurf voraus. Allerdings muss offen bleiben, wer das abwirft, was mir zufällt.

War in vor- und frühantiker Zeit das Schicksal eine undefinierte Himmelsmacht, die sich auch mal gütig stimmen liess, so wurde in den monotheistischen Religionen der göttliche Wille und seine Allmacht zum Fundament der theologischen Prädestination. Der Schicksalsglaube der Stoa wandelte sich bei den Hermetikern und Gnostikern zur Überzeugung, das irdische Schicksal überwinden zu können und die Erlösung in einem Jenseitigen zu finden. Die Anhänger der grossgewordenen christlichen Kirche räumten dann mit dem schicksalhaften Fatalismus auf und der Kirchenvater Augustinus verbannte das fatum aus dem Vokabular. Andere ersetzen das antike fatum durch den christlichen Gott oder durch den allmächtigen Willen Allahs. Calvin doppelte nach. Sola gratia, allein aus Gnade auserwählt Gott die Einen. Und aus seiner dualistischen Logik entsprang die doppelte Prädestination: Die Anderen sind zur ewigen Verdammnis vorherbestimmt. Auf jeden Fall gilt es, das Unausweichliche geduldig hinzunehmen. Wie die Kinderlosigkeit im Zeitalter der Reproduktionsmedizin.

Morgen wird Trump bei lebendigem Leibe eingemauert. Das ist keine Twitter-Polit-Trumpferei über den republikanische Präsidenten, sondern ein wahrer Aussagesatz. Die logischen Fatalisten würden abwarten, was morgen geschieht. Wenn dann morgen Trump eingemauert wird, so ist das zwingend notwendig und der Satz von gestern ist absolut wahr. Es wäre unlogisch, wenn man an die Möglichkeit denken würde, etwas anderes hätte sich ereignen können. Doch die Wahrheit ist zeitlos. Eine Aussage ist dann wahr, wenn sie logisch korrekt ist, meint Aristoteles. Er argumentierte gegen den logischen Fatalismus – den kausalen Determinismus hielt er nicht für diskussionswürdig. Er untersuchte mögliche Varianten der kategorischen Syllogismen und schuf damit die Basis der objektsprachlich-axiomatischen Modallogik, welche Leibniz die Erkenntnis ermöglichte, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben. Und ausgerechnet gegen Leibniz wurde der Vorwurf des Fatalismus erhoben, als das Wort im 18. Jahrhundert aus dem Englischen über das Französische eingedeutscht wurde und als Kampfbegriff der ganz Aufgeklärten gegen alle Abgeklärten in Mode kam.

Tatsächlich hatten auch die Stoiker die Bejahung der Weltordnung befürwortet, da man nur durch die Liebe zum Schicksal zur Ruhe komme. Die Formel der amor fati aber geht auf Nieztsche zurück, der damit das Ziel seines Philosophierens benannte: Ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein. Aber das Ja-sagen zum Verhängnis ist ein durch und durch paradoxer Begriff. Auch wenn die Wahrheit paradox ist, muss man Gott nicht gleich totschreien. Nietzsches versuch, dionysisch im Dasein zu stehen, führte bekanntlich zum apathischen Liegen im Lehnstuhl. Wer Nietzsche zitiert, neigt leicht zur Überhöhung. Ob alles vorherbestimmt ist oder wir das Gegebene liebevoll akzeptieren macht den Unterschied zwischen Wahn und Wahrnehmung. Wir brauchen unseren Willen, um immer mal wieder die Folgerichtigkeit zu feiern.

Coinflip

Bei der geschlechtlichen Vermehrung werden die Erbinformationen der Erzeuger in nicht vorherbestimmbarer Weise kombiniert. Objektiv ist die Neukombination aber nicht ohne Ursache, also purer Zufall. Das Liebesspiel hat sein eigenes Regelwerk. In der makroskopischen Welt gibt es keinen objektiven Zufall, in unserem Denken hängt alles von verborgenen Ursachen ab. Nach der Kopenhagener Deutung sind aber viele Ereignisse der Quantenmechanik fundamental unbestimmt und unreduzierbar, verborgene Variablen werden ausgeschlossen: Das Atom zerfällt, wie es ihm passt. Dieser Indeterminismus gesteht der Welt, die wir nicht begreifen können, ihren freien Willen zu.

Weiter südlich von Kopenhagen, in Rotterdam, ereignete sich eine Entscheidung, deren ursächliche Verkettung selbst für Quantentheoretiker rätselhaft bleibt. Das Fussballspiel zwischen Liverpool und Köln um den Einzug in den Halbfinal um den Europacup stand nach torlosem Hin- und Rückspiel auch nach dem Entscheidungspiel unentschieden; selbst die Verlängerung änderte nichts am Gleichstand. Der belgische Schiedsrichter klaubte deshalb  die Münze aus der Hosentasche, mit der er die Seitenwahl zu Beginn des Spiels ausgelost hatte, warf sie über Kopfhöhe und sah die Münze, nach wildem Wirbeln in der erwartungsschwangeren Luft, senkrecht im feuchten Rasen zwischen den verdutzten Mannschaftskapitänen stecken. Ohne zu zögern und ohne den Rückhalt einer reglementarischen Weisung warf er die Münze nochmals und zeigte auf die Engländer: Das ist die Siegermannschaft. Ein Deutscher Schiedsrichter brachte fünf Jahre später im bayrischen Fussballverband die Elfmeterregel durch, die heute den internationalen Standard bei unentscheidbarem Gleichstand bildet. Erstmals an einem grossen Turnier angewendet wurde diese Regel im Finale der Europameisterschaft 1976, und prompt zogen die Deutschen wieder den Kürzeren.

Der Rotterdamer Münzwurf ist fussballhistorisch eine Singularität, was mathematisch einem objektiven Zufall nahekommt. Die Engländer der Küstenstadt mögen im Endergebnis eine mehr oder weniger zwingende Logik finden, aber das grenzt an Apophänie, jener modernen Geisteskrankheit, welche im vernebelten Inselstaat modrig irrlichtert. Den schottischen Poeten Burnside schickte sie auf die Suche nach dem Hypernarrativ, dem Jenseits. Doch sein nüchternes Ideal enttarnte den heiligen Geist als Windböe.

Wenn immer möglich setze ich auf Kopf, auch wenn der Münzwurf mit gleicher Wahrscheinlichkeit Zahl zeigt. Ich mag es, wenn der Gegner einer sonntäglichen Boule-Partie Kleingeld hervorklaubt, mich fragend ansieht, ich auf mein oberstes Chakra tippe, der Spielhungrige sich – ja, direkt vor mir – niederbeugt und mir die Kopfseite der aufgelesenen Münze zeigt. Der Glücksvogel hat sich auf meiner linken Schulter niedergelassen. Da kann der Verlierer noch so hämisch anmerken, so dürfe ich das Cochonnet wenigstens diese eine Mal auswerfen. Wenn aus irgendeinem Grund ein anderes Auslosungsprozedere stattfindet oder der Münzkopf im Staub liegt, lässt mich das kalt. Unbedeutender Zufallsentscheid.

Pascal hat mit einer ähnlichen Wette einen spieltheoretischen Gottesbeweis geliefert. „Wozu ist der Mensch überhaupt berufen?“ fragte er seinen Besucher Gombaud rhetorisch. „Sie wissen es wie ich: zum Denken. Darin liegt seine Würde und sein ganzes Verdienst. Und es besteht seine ganze Pflicht darin, so zu denken, wie es richtig ist.“ Und was bestärkt sie in der Überzeugung, richtig zu denken? fordert ihn Gombaud heraus. Pascal erläutert seinem Gegenüber, dass die Vernunft zwingend den Glauben wählt. „Die Münze kann auf Kopf oder Zahl fallen. Ich setze auf Kopf. Ich weiss nicht, wie die Münze fallen wird. Wenn ich nichts in der Natur sähe, das auf eine Gottheit hindeutet, würde ich Leugnung wählen. Wenn ich überall Spuren einer Gottheit sähe, würde ich keine Münze werfen. Aber ich meine, das ganze Universum besteht nur darum, mir meine Ungewissheit und Ratlosigkeit bewusst werden zu lassen. Die Münze wirbelt durch die Luft und weder der esprit de géométrie, das logische Denken, noch der esprit de finesse, das intuitive Denken, verraten mir, ob sie auf Zahl oder Kopf fällt.“ Und dann beschreibt er die Spieltabelle mit seinen Wahrscheinlichkeiten und Ergebnissen: Setzen Sie auf den Unglauben und behalten recht, so gewinnen Sie leider nichts. Setzen Sie auf den Unglauben und verlieren die Wette, so verlieren Sie ein Himmelreich. Setzen Sie auf den Glauben und verlieren die Wette, so verlieren sie trotzdem nichts. Setzen Sie aber auf Kopf und gewinnen Sie, so gewinnen Sie ein ganzes Himmelreich. Es ist also vernünftig, zu glauben.

Gombaud gibt nicht bei. Woher wollen wir wissen, dass die Wettchancen fifty-fifty sind? Woher sollen wir wissen, dass der Gewinn ein Himmelreich ist? Vielleicht ist Gott ein Falschspieler? Oder der Teufel fordert zu diesem Spiel? Mich interessieren nur Spiele, bei denen ich sofort gewinnen kann. Ich passe. Ich suche nicht das grosse Glück, mir reicht das kleine Glück. Mehr kann man vernünftigerweise nicht wollen. „Bei meiner Wette spielt man mit dem Dasein“, soll Pascal geantwortet haben, „dieser Wette kann man sich nicht entziehen“, bevor er sich ins Himmelreich verabschiedete.

Meine Self-Agency

In der Schule überspringt Sheldon enige Klassen und erhält als Texaner mit 15 Jahren eine Gastprofessur in Heidelberg, wo er ein Jahr später den Titel Ph.D. für eine Arbeit über die Twistor-Theorie verliehen bekommt – eine mathematische Liebesaffäre zwischen Gravitation und Quantenfeldtheorie, in England erfunden zur Zeit, als die Beatles All You Need is Love sangen. Der hochbegabte Nerd Sheldon geht gelegentlich zur Psychotherapie, weil er an der Umwelt ständig abprallt. Der kollegiale Therapeut rät zu konsequenter Selbst-Objektivierung. Beobachte Dich, zeige Dich, beobachte die Reaktionen, beobachte Dich u.s.w. Zurück in der Wohngemeinschaft rapportiert und reflektiert er diese Psychotechnik. In der fünften Staffel von „The Bing Bang Theorie“ erklärt er sich mit Amy zum Paar und die beiden besiegeln das Paarsein mit einer Beziehungsrahmenvereinbarung. Amy verlässt Sheldon, sucht ihn wieder und er kann sich das erste Mal beim Sex beobachten.

Das psychologische Selbstbild des Menschen ist auch in der Pädagogik weitverbreitet. Der Königsweg der Metareflexion ist die mentale Vorhaltung, die Vorstellung des Selbst als Objekt. Die Naturwissenschaften führen neue, schwer messbare Grenzen ein: Zumindest Primaten und auch primitivere Affen nehmen ohne zu überlegen das Gefäss mit Futter, wenn sie zusehen können, wie es gefüllt wird. Wenn ihnen das Zusehen verunmöglicht wird, schauen sie zuerst, in welchem Behälter das Futter steckt. Sie überlegen und schlussfolgern also, dass sie zuerst Nachschauen müssen, weil sie ja nicht gesehen haben, wo das Futter landete. Ein intentionaler Akt der Metakognition. Auch Affen sind nur Maschinen.

Selbst der Bereich der Selbstentwicklung, ein Term aus der von Psychologen und Soziologen beeinflussten Sozialisationsforschung, ist affiziert vom Dogma der Selbstobjektivierung, trotz ihrem trutzigen Festhalten an der subjektiven Hoheit des Selbst. Das libertäre und emanzipatorisch flammende Konzept der Selbstentwicklung wird zur Selbst-Agentur, das sozial-marktwirtschftliche Nachfolgemodell der Ich-AG. Die Verarbeitung von Handlungserfahrungen durch ein reflektierendes Subjekt als erlebende, planende und handelnde Instanz („agency“) führt zu einer Selbstobjektivierung. Dieser vorstehende Satz hat mit dem erstmaligen Eintrag der Selbstentwicklung Eingang in das massgebende Handbuch gefunden. Da wird auch noch der fundamentale Begriff der Selbstobjektivierung präzisiert: Diese besteht aus dem Selbstkonzept (kognitiver Aspekt), dem Selbstwert (affektiver Aspekt) und dem Selbstvertrauen und Kontrollbewusstsein (konativer Aspekt).

Selbstvertrauen und Kontrollbewusstsein unter der gleichen Führung durch das Selbst? Die neulateinische conatio bezeichnet den Drang oder die Absicht, etwas zu tun. Die entsprechende altlateinische Subjektzuschreibung ist die intentio. Selbstkontrolle müssen wir haben wollen, wenn wir nicht über unseren eigenen Selbstkontrollverlust lachen können. Selbstvertrauen ist die grössere Herausforderung für mich als Inhaber meiner Selbst-Agentur. Die im Sport erfolgreichen Mentaltrainer wissen um den Zusammenhang von Erfolg und Vertrauen in den Erfolg. Wieder so ein mathematisches Liebespaar, das Momentum. Mein Selbstvertrauen ist quantenphysisch verschränkt mit dem Nicht-Selbst, also unkontrollierbar.

Anders als in psychologischen Varianten der Sozialisationstheorie neigen soziologisch und pädagogisch sozialisierte Sozialisationsforscher dazu, sich von substantiellen Aussagen über die Subjektseite fernzuhalten. Wir können uns aber die Frage nicht ersparen, ob ein Begriff der Selbstsozialisation ohne einen korrelierenden Subjektbegriff ein leeres politische oder pädagogisches Programm bleiben muss. Selbstsozialisation ja, aber bitte nach unseren pädagogischen Werten, dem hidden curriculum. Im Radio läuft Lennons Imagine.

Freud hat Stirner gründlich missverstanden, als er das stirnersche Jenseits-in-Uns in das freudsche Über-Ich der soziokulturellen Genese verbannte. Stirner anerkannte das Heiliggesprochene als Heilig, seine Kraft schöpfte er aus der dem Menschen innewohnenden Transzendenz. Er war gläubiger Anarchist und kirchenfeindlicher Pädagoge. Stirners Philosophie einer konsequenten Individualität trägt allerdings Züge des methodologischen Solipsismus, er sieht das Subjekt als Eigner und Einzigen. Der eigene Geist ist Material, mit dem ich anfangen kann, was ich will. Wer sich aber darauf beruft, Einziger und eine Singularität zu sein, reklamiert für sich damit, so Sloterdijk, den Status eines Monsters. Die Menschheit eine Horde affiger Meta-Monster.

wohlangetan

Hinten im Lumnez, in Vrin, haben sich die meisten Einwohner, welche über ihre vollen politischen Rechte verfügen, vor der Dorfbeiz eingefunden, um in gemeinsamer Siegerpose in die Kamera zu strahlen. Sie haben mit aussergewöhnlich grosser Mehrheit die Abstimmung über einen zweiten Schweizer Nationalpark gewonnen und mitgeholfen, das regional eingepasste Bundesprojekt in einen Archivschrank wegzusperren. „Wir wollen keine neuen Vorschriften. Wir geben unser Land nicht her. Wir nehmen kein Geld. Wir schauen selber zum Rechten. Wir setzen auf inneres Wachstum.“ (Hinter vorgehaltener Hand raunen sie sich zu: Unsere Väter haben den Stromvogt aus der Greina gejagt, wir jetzt den Tourismusvogt.) Eine Riesenfreude in den Gesichtern der politischen Volksmacht, vereint in der abgeschiedenen Berggemeinde, die in ihrem weitgespinnten Austauschnetz die persönlich gezwirnten Fäden zieht. Echt sympathisch, diese menschliche Trutzburg in der Holzstube.

Wenn es aber darum geht, der Vernunft zum Durchbruch zu verhelfen – was wohl unser aller gemeinsames Erbe der Aufklärung  ist -, so soll dieser Bündner-Berggeist auch kritisch analysiert werden. Warum hat niemand den völlig überzeugenden Management-Plan gelesen? Warum hatte Silva, die Pro Natura-Chefin, trotz Naturschutzgeldern keine Chance? Vielleicht, weil der Business Plan 280 Seiten umfasste und die Naturschutz-Gelder für Nutzungsverzichte in der Kernzone gedacht waren? Wir geben unser Land nicht her! Ja, aber das hat etwas mit engen Tälern und ebensolchen Stirnen zu tun. Das ist der Anfang von Rassismus und Anarchie. Das sind Identitäre! Die haben sich in den umgebenden Ländern längst politisch organisiert und gelten aus politikwissenschaftlicher Expertise als Synapsen zwischen den Rechtsparteien und dem Rechtsextremismus. Die germanischen und lateinischen Identitären rufen den Arabern zu: Unterwerft Euch! Wir haben den einzig und einzigen wahren Gott! rufen diese zurück.

Systempolitisch führt das zu Instabilität und gesellschaftlich wie individualpsychisch zu Verunsicherung, wenn sich menschliche Gruppierungen als identitäre Gemeinschaft ausgeben. Damit beharren sie quasi auf angestammten Vorrechten und kommen somit dem Egalitätsprinzip, das die französische Revolution, diese blutige Tochter der Aufklärung und Mutterblut der Demokratie, auf die europäische Zunge tätowierte, in die Quere. Die Identitären solidarisieren sich mit den Amazonas-Indianern und anderen Ureinwohnern. Ihr Basiskonzept ist der Etnopluralismus, den sie durch wirtschaftliche Globalisierung und kulturellen Einheitsbrei bedroht sehen. Damit unterscheiden sie sich von einem ethnozentristischen Rassismus und den Nazis (alte Rechte). Die Identitären haben das grosse griechische Lambda zu ihrem Symbol gewählt. Das ist Einsteins kosmologische Konstante, mit der er die rätselhafte Gravitation mit Raum und Zeit in Beziehung setzte, und zwar so, dass die Gleichung  das Universum stabilisiert (diese Behauptung einer theoretischen und prästabilierten Unendlichkeit ist heute einem Expertenstreit zwischen Agnostikern und Gnostikern gewichen. Politikwissenschaftler beschreiben die Identitären als ethnopluralistisch-rassistisch. Das scheint zutreffend, das ist ein dynamisches Paradoxon, Die Vriner zucken die Schulter und lachen. Das politische Phänomen scheint mehr geprägt durch die Figur des Vogtes und dem Wert des Geldes. Die lassen sich nicht kaufen.

Die würden ihre Skepsis auch einer Spende entgegenbringen. Wenn nicht Bedingungen, dann sind Erwartungen daran geknüpft. Wollt Ihr als Wohltäter anerkannt werden? Das ist diese identitäre Übertreibung, welche das Subjekt  verabsolutiert und Gott vertrieben hat. Wohltäter tragen zu ihrem eigenen Wohlbefinden bei, unabhängig von der Reaktion oder dem Desinteresse der Wohlangetanen. Das funktioniert auch, wenn man nicht daran glaubt. Erlebe die Wohltat einer Spende im Advent und teile diesen Glücksmoment der universellen Wohlangetanheit.

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Die Weltseele

Die Welt ist stur. Mit 1,7 Mach rasen wir um die Erdachse, die ewig schief in der Sonnenumlaufbahn steckt. Mit 1000 Mach umrunden wir die glühende Sonne, gerade schnell genug, um die Runde nach genau einem Jahr zu beenden. Und das mit der starren Sturheit der Tagestaktgeberachse beschert uns den nebligen Herbst und den kalten Winter. Die Welt dreht gedankenvergessen vor sich hin, flüchtig scheint die Weltseele.

Aus gedankerloser Flüchtigkeit habe ich neulich den Anlass gegeben zum Versand einer Karteikarte aus meinem digitalen Zettelkasten, welche bei den belieferten Abonnenten missbilligendes Kopfschütteln veranlasste. Das Missgeschick ist Ausdruck des universellen Lebensprinzips und der Verdauung. Nun diese nachgereichte und gereicherte Vertextung. Hegels kryptische Bemerkung, in Napoleon sehe er die Weltseele, löst den ganzen Neuronenkrach aus. Was mag er gemeint haben, der die Seele aus dem philosophischen Vokabular gestrichen hatte? Sein ausgeklügeltes und transzendentes System mit Weltgeist, absolutem Selbstbewusstsein, ideellen-reellen Entitäten wurde von seinen Jüngern aufgeteilt in den marxschen Materialismus und den Messianismus der Vernunft.

Das hegelsche Diktum wähnt in der heutigen Zitierweise denn auch den Weltgeist in Napoleon, an Stelle der Weltseele. Marx hat später dem idealen Weltgeist das Eigenleben ausgetrieben und mit dem Glauben an den Weltmarkt gleichgesetzt, als List der Vernunft. Vielleicht war der Zeitgeist in Napoleon. Das aus der selbstverschuldeten Unvernunft entschlüpfte und aus der feudalen Verdingung befreite Individuum, das sich selbstbewusst erhöht und eigenhändig nach den Transzendentalien greift (O-Ton Hegel: Es ist in der Tat eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einen Punkt konzentriert, auf einem Pferde sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht). Napoleon hat dieses neue Konzept der Weltpsyche inszeniert. Der Soldat hat das Szepter übernommen. Die Weltseele macht ein Nickerchen.

In der Alltagssprache lebt die Seele ruhig weiter. Als werthaltiges Attribut gesellt sie sich gern zu besonders friedlichen und harmonischen Momenten, in denen der Ursprung und die Gemeinsamkeit des Lebens eine wohlige Wärme spenden. Und im Sinne der alten Griechen lebt die Seele, unbehelligt von der wissenschaftlichen Verbannung, in allem Lebenden inne, als eines und umfassendes Lebensprinzip. Wie die alten Inder gingen einige gar so weit, Atmen mit Leben gleichzusetzen. Das Sanskrit-Wort Atman bedeutet sowohl Atem wie Seele. Die Seele macht sich von alleine bemerkbar, sie gebiert die beschränkte Vernunft, die dank ihrer Beschränktheit sich als Betrachter erlebt und damit Selbstbewusstsein und Geist erlangt. Schelling nannte diese Dynamik der Seele „absolutes Selbstbewusstsein“. Das Erste trägt das Zweite in sich.

Die Weltseele träumt in verschiedenen Formen weiter. Sie zeigt sich in Archetypen, in unbewusst Kollektivem, als heiliger Geist. In den zahllosen Universalien des Menschseins. Taucht im digitalen Nebel der Vernetzung auf. Schart Flow-Anhänger um sich. Aus dem Sprachleben ist sie aber verschwunden. Solowjew hatte beobachtet, wie sich die Weltseele aus dem Mittelpunkt der All-Einheit des göttlichen Daseins entfernt hat und an die Peripherie der geschöpflichen Vielheit gefallen ist. Das kümmert jene wenig, die aus Prinzip zu ihr halten, weil sie gerne immer mal wieder mit ihr schmusen wollen. Die subjektive wie die universale Seele umarmen sich gegenseitig.

Die heutige Psyche, die Welt der Gefühle und Gedanken, kommt weitgehend ohne Seele aus. Hinter der Vernunft beginnt der vernünftige Erwartungshorizont. Kognitiv wird Transzendenz negiert: Man braucht zwar täglich Begriffe wie sein, gut, wahr, pocht aber darauf, nicht wissen zu können, was das heisst, weil das relative Begriffe seien. Das aber sind absolute Begriffe, die drei Grundbegriffe der religionsphilosophischen Metaphysik: Sie lassen sich nicht mit Vorausgehendem logisch verknüpfen. In der aristotelischen Tradition gingen die Scholastiker vom zentralen Begriff des Seins aus. Von de meisten gleichgesetzt mit dem Einen. Duns Scotus erweiterte die Transzendentalien zu einem philosophischen System, das die Disjunktion und modallogische Verknüpfungen integrierte. Der doctor subtilis unterschied erstmals philosphische Wahrheit von religiöser Wahrheit.

Das Verschwinden der Transzendenz und der Seele hat das subjektive Erleben des Menschseins nachhaltig verändert. Ich fühle mich und bin mir nicht mehr selbstverständlich. Das Selbstbewusstsein wird gesteigert zur Selbstobjektivierung. Das Selbstvertrauen ist ein sporttechnischer Begriff. Das Vertrauen in die eigene Lebenskraft hat dem Wissen um den Placebo-Effekt Platz gemacht. Wir sind aber stark empfänglich geblieben für das verführerische „Ich-werde-Dir-gefallen“. Die Wirksamkeit im Sinne von subjektivem Wohlbefinden und objektiver Symptomverringerung ist erstaunlich hoch. Rund die Hälfte der Ärzte nutzt diese Wundermedizin. Die Welt-Ärzteorganisation will das unterbinden: Nur der vollständig aufgeklärte Patient und nach dialogisch gefestigter Einwilligung darf den Placedo-Effekt in der wissenschaftlichen Medizin wünschen. Dumm ist, dass genau unter diesen Voraussetzungen keine Wirksamkeit der Behandlung mehr messbar ist. Damit ist die Wunderpille Placebo aus der Medizin entlassen, und bald werden ein paar Jungunternehmen mit Placebo-Abgabestellen reich werden und allerlei wirksame Drogen auf dem Ladentisch auslegen. Marx zwinkert rüber: Die Weltseele hilft weiter.

Formelzeichen: α

Ob die Naturkonstanten auch über astronomische Zeiträume hinweg wirklich konstant sind, ist Gegenstand aktueller Forschung. So schienen Messungen der Spektrallinien von Quasaren mit dem Keck-Teleskop auf Hawaii auf eine leichte Abnahme der Feinstrukturkonstante (Formelzeichen Alpha, α!) um etwa ein hundertstel Promille im Verlauf von zehn Milliarden Jahren hinzudeuten. Andere traten den Versuch zum Gegenbeweis an.

Herausfinden tut man das nie. Beweisen schon gar nicht. Nur eine universelle, ontologisch fundierten Metatheorie kann Abhilfe schaffen. Oder eine Meta-Konstante, wie dies etwa π ist. Immerhin eine unendliche Konstante, wirklich imponierend und sehr glaubhaft. Eigentlich sollte jeder ehemalige Zürcher Volksschüler die ersten fünf Stellen nach dem Komma dahersagen können. Die Mathematik hat präzise definierte Attribute für die Zahl π, deren Prämissen sich jedem offenbaren: unendlich, irrational und transzendent.

Die physikalischen Konstanten sind alle endlich, aber verdammt gross oder klein. Je später sie theoretisch behauptet wurden, desto höhere Zehnerpotenzen. Am schlimmsten natürlich die abgehobenen Teilchenphysiker, die ihr Lebensziel erreichen, wenn sie theoretisch eine Konstante begründen, welcher sie selbst ein Schriftzeichen zuordnen, die dann mit ihrem Namen bezeichnt wird. Und hinten hängt ein gutes Dutzend Nullen, elegant zur Potenz erhoben. Potenzen kommen im Lehrplan 21 auch vor, die höheren Potenzen allerdings ohne alltagsrelevante Kompetenzen.

Hat man 1967 auf der 13. Generalkonfernz für Mass und Gewicht einen Fehlentscheid getroffen, als man die Sekunde an die atomare Strahlung band? Man war in der Atomhochzeit. Mit der Kubakrise knapp am dritten Weltkrieg vorbeigeschrammt. Betonierte Atombunker. Auf den Wiesen vermehrten sich die Atommeiler.

Für das wirkliche Leben reicht ja eigentlich der Tag als zeitliche Konstante. Auch wenn die Erdachse chaotisch strudelt (überlagerte Schwingungen) und die Tage länger werden (immerhin etwa eine halbe Sekunde im Jahr), bevor dann die Erde theoretisch stillsteht und die Zeit einfriert. Just am Morgen geht die Sonne auf und präzis am Abend geht sie unter. Mit diesen tänzerischen Schwankungen der Gestirne. Wurde ja alles schon im vorletzten Jahrhundert genau berechnet.

Der Wechsel zur Atomzeit (gut 9 Milliarden Hz ist gleich einer Sekunde, die letzte Ziffer eine 0 – wurde wohl auch festgelegt und nicht gemessen, wie Einsteins Lichtgeschwindigkeit?) hat dazu geführt, dass man für den realen Gebrauch der Atomzeit alles wieder zurückrechnen muss. Weil diese halbe Sekunde pro Jahr zu Schaltsekunden führt. Man muss jetzt die Atomuhren korrigieren. Und eben, die Konstanz der atomaren Strahlung baut auf Wahrscheinlichkeitsrechnungen zweiten Grades. Anwendungen der Atomzeit? Astronautik. Könnte man nicht auch hier die Faustregel gelten lassen, dass der terrane Mensch am besten auf jenen Planeten landet, wo er das im Sichtflug und Handbetrieb schafft? Telekommunikation und Navigation. Finanzindustrie und militärisch-staatsmonopolistischer Komplex. Das Handy macht alles für mich. Ich lese in einem Buch mit handschriftlichen Randnotizen. Die Schaltsekunden sollte man feiern, steht da in hüpfenden kleinen Buchstaben. Die Schaltsekunden sind ja in der richtigen Zeit eigentlich Zeitlöcher, die richtige Zeit steht still. Die Schaltsekunden sind zu schnell, temporaler Präcox. Also entsteht ein kurzer zeitloser Moment. Voll schwebender Möglichkeit. Aktualisierte Ewigkeit. Eine Offenbarung. Ein Feuerwerk der Feier.

Ganz schön gut, dieser Text! Aber hier geht’s um α, das Erste. Ohne das kein Ω, das Omega jetzt in griechischer Schrift grossgeschrieben; ohne die zwei keine Dialektik, keine Energie, kein Nix. Das erste Gesetz der Naturkonstanten ist der Glaube an die Feinstrukturkonstante. Eine eher psychologisch interessierte Gruppe von Naturwissenschaflern (ja ja, da haue ich jetzt ein dudenkonformes „l“ rein, für mich tönt das so harmlos-sympathisch) nennen sie Sommerfeldkonstante, nach seinem Erfinder. Andere sehen darin die Kopplungskonstante: Sie ist eine absolute Grösse für die Emissionsrate der Lichtteilchen, sie schätzt so was wie die Umwandlungsgeschwindigkeit von Geist und Materie und beruft sich dabei auf den Absolutsheitsanspruch der Lichtgeschwindigkeit durch Einstein, der übrigens „Lichtteilchen“ für ein mathematisches Witzchen hielt.

Die Naturkonstanten sind alle mathematische Konstrukte und definitorische Festlegungen (heute mit Angabe von geschätztem Standardfehler). Auf Einsteins Lichtgeschwindigkeit, auf Plancks Wirkungsquantum und auf Newtons Einführung der Mathematik in die Metaphysik der Natur (Quadratur der Anziehungskraft mit zunehmender Nähe!) folgen die zahllosen Naturkonstanten der Quantenphysik. Alle mit den grundlegenden Naturkonstanten der vorangeschrittenen Genies verbunden. Sommerfeld mischt noch in vielen Formeln mit: Er hat, nachdem Netwon das Quadrat als Denkfigur in die Empirie eingeführt hat, die Kreiszahl zwischen all die grundlegenden Naturkonstanten gestellt, nur so geht die Gleichung auf, auf einer Seite steht das π, auf der anderen Seite nicht. Und zum Ausgleich werden zwei Naturkonstanten angeführt, die just durch π verbunden sind: Die Verbindung von Frequenz des Lichtteilchens mit der masseabhängigen Energie des Lichtteilchens. Da hat er mit seiner erdachten Konstante eine weitere, dritte Dimension hereingebracht, mit dem Kreis die Kugel. Natürli, konstant. Mangiamo tutti insieme spaghetti cinque π: con πomodoro, πanna, πarmigiano, πrezzemola, πeppe!

mutmasslich mutwillig

Vielleicht haben die Feuerwehrmänner im letzten Moment das Sprungtuch weggezogen wie weiland der Stierkämpfer seine rote Handfahne, bevor ihm der Stier das linke Auge aussticht, von unten, durch Kinn und Mund hindurch. Auf jeden Fall springt der junge Mann aus dem fünften Stock des Asylheimes und liegt nun tot auf der Strassenbefestigung. „Spring doch!“-Rufe hätten sie gehört, berichten Augenzeugen. Der Totstürzer verstand kaum ein Wort Deutsch, so dass niemand auf die Idee kommen sollte, einen sozialpsychopolitischen Zusammenhang mit der historischen Schuldfrage zu behaupten, auch wenn die Deutschen ein Nazikonzert geben, bei Ulrich Bräker und Toni Brunner zuhause. Die Irritation kommt immer von Osten. Blosse Mutmassungen.

Die Selbstmordrate unter jungen Migranten richtet sich mit jeder Einreise neu an der einheimischen Quote aus, eine statistische Akkulturation. Gegenüber den Brüdern im Herkunftsland steigt die Rate meist um das Doppelte oder Mehrfache. Junge Migranten sind überdurchschnittlich agil, abenteuerlustig, risikobereit und mutwillig. Das führt bisweilen in einem Umfeld, das stärker an Werten wie Stabilität, Sicherheit, Prävention und Ordentlichkeit orientiert ist, zu Spannungen, welche die ganze Situation in eine brennende Kraft verwandeln, die sich gelegentlich in unerwarteten Sterbefällen manifestiert. In diesen apokalyptischen Momenten und basalen Banalen entlädt sich der Opferttäter seines Lebens. Die Feuerkugel verschwindet im schwarzen Loch seiner eigenen Mitte. Zurück bleiben statistische Werte und Mutmassungen über die Seele der Anderen. Es gibt keinen vernünftigen Grund, sich selbst zu töten. Dem Selbsttötenden hat die Vernunft sich verweigert oder wurde verschmäht. Wir huldigen der menschlichen Vernunft, wenn wir Unverständnis gegenüber dem Freitod hegen, besonders dann, wenn der Tat eine kausalpsychologische Verwicklung vorausging, in die wir möglicherweise verstrickt sind. Der Asylbewerber hätte aufgefangen werden müssen, die Fachleute hätten dann mit ihm langwierige Gespräche geführt (mit dolmetschenden Secondos dabei) und sicher gibt es auch ein geeignetes Medikament, das uns Gewissheit gibt, dass er nicht mehr auf die Fenstersimse klettert. Die Vernunft darf sich nicht selbst aus dem Fenster stürzen.

Dem jungen Syrer, der sich im Gefängnis erhängt hat, hat man nicht helfen wollen. Sein Freitod wurde zum Justizskandal, weil man aus dem mutmasslichen Opferattentäter Informationen über eine mutmassliche Kommandostruktur der feindlichen Glaubenskrieger herausarbeiten wollte.  Jabr hatte Aceton und Wasserstoffperoxid in seine Unterkunft geschafft; aus diesen Zustanden lässt sich Sprengstoff mischen. Als er Heisskleber kaufen wollte, wie ihn Kindergärtnerinnenn verwenden, schlug die Polizei Alarm – der Kleber erlaubt das Basteln einer Sprengstoffweste. Doch Jabr rennt zwischen den schwer bewaffneten und noch schwerer gepanzerten Polizisten hindurch und entwischt in seinem schlurfenden Gang. Er wird zur Fahndung ausgeschrieben. Dank Facebook findet Jabr Unterschlupf in einer WG von Landsleuten in der Nachbarstadt. Die rasieren ihm dort auf Wunsch die Kopfhaare. Dank Facebook erfahren die Kumpels, dass ihr Gast von der Polizei gesucht wird. Seelenruhig bleiben sie und fesseln ihn nach dem Einschlafen. Die Polizei nimmt das trojanische Geschenk des Integrationsbeweises durch unentgeltlichen Einsatz für den Rechtsstaat und die hiesige Obrigkeit gerne an. Am Montag Nachmittag sitzt Jabr im Untersuchungsgefängnis. Suizidgefahrstufe hoch; viertelstündige Kontrollbesuche rund um die Uhr. Am Dienstag wird er durch eine Psychologin begutachtet, die ihn als ruhig und zurückhaltend wahrnimmt und die Selbstgefährdungsprävention auf dreissigminütige Intervalle zurückfährt, ab Mittwoch, neun Uhr vormittags. Eine Viertelstunde später beschleicht die Gefängniswärterin eine Ahnung, kehrt zu Jabr zurück, der sich mit seinem T-Shirt, dem Oberteil des Gefängnis-Anzuges, an der Gitterwand erhängt hat, vor wenigen Augenblicken, der Blick jetzt verdreht und erstarrt.

Die Mutmassungen bleiben verloren zurück, wie die Erinnerung an die in Streifen gerissenen T-Shirts der Schweizer Fussballnati. Wir hätten vielleicht eine Verbindung zu einem Funktionsträger des Islamischen Staates herstellen können. Der Bundesinnenminister schreit nach vollständiger Aufklärung, obwohl nichts unklar bleibt. Ja, Jabr hat im Gefängnis ausser Wasser nichts zu sich genommen, sei das aus suizidaler Neigung, als politschem Hungerstreik oder wegen dem ungeniessbaren Frass. Riesige politische Opportunitätskosten! Die Staatsräson muss das implizite Recht auf Freitod wirksam einschränken können. Wo kämen wir hin, wenn sich alle Gefangenen einfach feige in den Freitod verabschieden würden, mutwillig entschwinden könnten? Nicht, dass da Rache- und Sühnegedanken mitschwingen würden, nein, hier geht es um das Prinzip, unsere Form der säkularen Staatlichkeit.

Nach seinem subjektiven Empfinden habe man ihn zerstören wollen, sagt Bernard Rappaz, als man ihn mit 100 und zwei Polizeibeamten dingfest macht. Ein einfacher Telefonanruf hätte genügt, und er hätte sich umgehend auf dem nächsten Polizeiposten gemeldet, lässt er uns wissen. Bernard trat in den Hungerstreik. Die gleichaltrige Sicherheitsdirektorin legt sich mit ihm an und ordnet Zwangsernährung an, weil das medizinische Personal signalisierte, nach ihrem Berufsethos würden sie ebendies unterlassen, wenn es ihnen nicht verordnet wird. Bernard feiert zwei Mal einen Erfolg und wird zweimal entlassen und vorübergehend bei sich zu Hause unter Arrest gestellt, wo er sein Essen wieder geniesst. Nach der dritten Inhaftierung zieht er einen 120-tägigen Hungerstreik durch. Esther besucht den Hungerkünstler wieder im Spitalgefängnis, das Bundesgericht hatte ihren Zwangsernährungsbeschluss inzwischen sanktioniert und Bernard nimmt lebenswichtige Zusatzstoffe zum obligaten Hungerstreikleitungswasser. Und beendet seine Vorführung an Weihnachten, wie ihm der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geraten habe. Sterben wollte er nie.

Der mutmassliche Selbsttötungsversuch eines fanatischen Politkiffers entpuppt sich als mutwillige Renitenz gegen die moderne Obrigkeit, den Rechtsstaat. Mutwille im Sinne von Vorsatz, Absicht, wirkt in unserem Rechtsverständnis strafverschärfend. Natürlich nur bei Missetaten. Wer den Mut seines Willens dafür einsetzt, ein hehres Ziel zu erreichen, dem wird Glück beschert. Mutwillig ist einer, der sich nach keinem anderen Willen richtet, als nach dem seiner inneren Sinne und Stimme. Der Mutwillige beschränkt also sein inneres Kraftgefühl in keiner Weise. Er lässt seinem Willen die Zügel schiessen. Der Mutwille ist der Helden- wie der Schandtat inne. Mutmasslich.

Das Opferlamm

Darüber huscht die Schwebebahn berührungslos dahin. Ein leises Säuseln in der bewegten Luft. Fahrgästen und äusseren Beobachtern ist der Blickkontakt durch das Magnetfeld versagt. Die Kraftwirkung der gleichgerichteten Leptonen ist so stark, dass ein fingerdicker Bergkristall im Fussboden verschwindet, wenn er seinen Hautkontakt verliert und fällt. Die Aktentaschen lassen sich an die Waggondecke klicken, wenn sie über die vom Bahnbetreiber gratis an die Abonnenten abgegebene Vorrichtung verfügen, und werden so zum persönlichen Haltegriff in der unmöblierten Offenraumklasse. Per Knopfdruck lassen sich die Mappen und Köfferchen lautlos vom Shuttlehimmel lösen und ihre Tragkraft bleibt wellig zurück. Digitale Datenträger werden nicht beeinträchtigt durch den elektromagnetischen Zauber, aber Nahrungsmittel werden während der Reise sterilisiert und konserviert. Wer über ein Implantat neuerer Generation verfügt, dem wird die Batterie des Herzschrittmachers durch die Pendlerfahrt nachhaltig aufgeladen, lebenslänglich, garantiert auch bei tiefer Reisefrequenz. Gerüchte über Todesfälle durch Herzversagen in diesem Zusammenhang haben sich als unwahr erwiesen; alle Opfer trugen veraltete Herztakter in sich oder waren völlig auf ihr eingeborenes System angewiesen. Inkompatibilität dieser Bahntechnik mit der hergebrachten Humankonstitution tritt mit einer Wahrscheinlichkeit von lediglich 0,3 Tausendstel Promille auf. Das sind gerade mal drei bekannte Fälle. Eine junge Frau erlitt eine Spontangeburt, als der Zug beschleunigte, obwohl sie nichts von ihrer Schwangerschaft wusste, ja, nicht einmal wissen konnte! Berichtet wird auch von einem Liebespaar, das über die ganze Fahrstrecke epileptisch ineinander verkopuliert war und erst mit einer Taserfräse getrennt werden konnte, als die Zugskomposition zum Stillstand kam. Und da ist jener Mönch, der seine Reise zum Sterbehospiz nicht überlebte.

Darunter steht Onkel Saddhu und schneidet dünne Scheiben von seinem Lammspiess, quer zur Faser. Wenn er mit der Klinge durch die Kruste fährt und das Innere seine flüchtigen Inhaltsstoffe freigibt, Pheromone des göttlichen Glücks, strahlen seine Augen und sein Blick hebt nach oben. Seine fahrbare Grillküche steht seit einer Woche unter dem Viadukt und die Wohlgerüche ziehen abends die Flaneure an. Alle wollen kosten. Wer sich das Fleisch nicht leisten will, das ohne Besteck auf den rechten Handteller gereicht wird, erhält seinen Reis umsonst. Der Onkel hat seinen Spass daran, wenn die vom Geruch verführten Passanten mit ihrem Happen Opferlamm verdutzt und ratlos dastehen, wenn sie zur Gelbbörse greifen wollen und nach sorgfältigem Fummeln hinter dem Rücken dann das Glücksgefühl empfinden, zum ersten Mal in ihrem Leben mit der linken Hand im richtigen Moment ein Kunststück hergezaubert zu haben, und dem Onkel gleich das gesamte Portmonnaie samt Portfeuille hinstrecken. Dann legt der den vereinbarten Betrag sorgfältig vor den Käufer, dem der erste Bissen ziemlich gross geraten ist, und fragt, ob er noch etwas dazulegen solle, für den dadurch möglichen Kauf von neuem Opferlamm. Der Käufer ist erwischt bei einem zwar verständlichen, aber doch unziemenden Anflug von Gier, schluckt den ungekauten Brocken und holt erst Luft, nachdem er „Nämed-si-di-gröscht-Note“ herausgespuckt hat. Ein Moment von wechselströmender Vernunfthaftigkeit liegt in ihrem Blick, wird aber gleich wieder überflutet von der Kraft der Konästesie, die es leider offiziell nicht mehr gibt, aber die in jedem Moment und Augenblick schlummert, wie eben das Glück darauf wartet, als solches in Ruhe gelassen zu werden. Mit den Besuchern plaudert Saddhu dann über Abraham, der Anstoss war zur Tradition dieses Opferfestes, obwohl er gewillt war, seinen Sohn zu braten, um die Nase seines Gottes, des Einen, zu verwöhnen und sein nichtiges Ich selbst zu nichtigen. Gott musste einen Engel vorbeischicken, damit der aramäische Abrahom, der Vater vieler Völker, keine Dummheit machte. Er hat die Schandtat nicht begangen, aber die Dummheit war in die Familie geraten. Die Nachfahren von Isaak behaupten, ihr Vorfahre sei auf den Rost gebunden worden, diejenigen von Ismael beharren darauf, dass es der Ahne ihres Mohammed betroffen hätte. Alle wollen wegen dem Engel dasein. Bringen wir noch die Mütter, die Herrin Sara und die Magd Hagar ins Spiel, so wird die Geschichte so schön verwirrlich, dass man guten Grund hat, das Opferfest zu feiern, so wie jeder Feiertag ein Grund ist, den Tag zu feiern und jeder Tag das Zunderzeugs hat zu einem Feiertag.

Seine Frau, die Tante, liegt oben in der Nähe seines Vaters, hinter vorgehängten Laken, ihre Schwestern um sich, auch ihre Mutter, die berufene Hebamme, in Händen ein kristallenes Fläschchen mit Wunderbaums Rizinusöl. Mitten im Mitternachts-Glockengeläut reisst die Fruchtblase und die Frauenblicke treffen sich schirmhaft über der hoffnungsprallen Wölbung. Oxytocin überschwemmt die Empfindungen der umfassenden Gemeinschaft; sie fasst die Hände ihrer Schwestern und spitzt den Muttermund zum Kusse. Es soll ein Junge werden; Isaak („Gott hat gescherzt“). Im gegenüberliegenden Wohnhaus haben sich Partygemeinschaften eingemietet. Die Zimmerwände im Erdgeschoss mit Bildern bespielt, Schriftzügen und Symbolen, angestrahlt von bewegtem Licht in sirrenden Frequenzen, die Fenster stehen weit offen und trichtern die Bässe und Beats auf die Strasse. Über die Fensterbankgesimse beugen sich Köpfe, um die andere Hälfte nicht zu verlieren. Flaschen klatschen, zugeschäumt der Brandherd kühlt. Die Leiber flanschen, flutschen feucht und aufgewühlt. Die Zusammenhänge zerhackt zu stroboskopischen Hautfetzen. Die dunkle Luft zieht sich zusammen und plötzlich steigt aus dem oberen Fenster eine faustgrosse Feuerkugel, sinkt langsam zu Boden und zerstiebt als funkensprühender Derwisch. Vater hat die Augen geschlossen, er öffnet sie kaum noch. Die ersten drei Tage hat er ruhig mit gekreuzten Beinen dagesessen, auf seiner Bettstatt, die Wärme der Öllichter in seinem Lächeln, die Seele sein Schwerpunkt. Stumme Besucher suchen die Nähe zu seiner Ruhe und betrachten die betenden Hände. Saddhu stellt ihm jeden Abend ein frisches Glas Wasser zur Seite, das er nie angerührt hat. Der Geruch des gebratenen Schafes markiert im Hirn die vegetative Ewigkeit, des Schlafes Bruder. Saddhu hebt die Schultern und die Brauen vor den fragenden Augen, um dann zu lachen und erkennen zu geben, dass seine Gesichtszüge nun denen seines Vaters ähnlich geworden sind. Das Lächeln der Ahnen mischt sich in den Duft des Opferlammes, umwogt das Geheimnis der Liebe. Die Schwebebahn hat sich lautlos hingesetzt. Über die Laken blinzelt die Geburt.

Daheimimschlossgarten

Schnarren. Ein kreisender Milan. Leere Nester in den Rosetten der Turmspitzen. Die Sonnenseite des tausendgliedrigen Lebensbaumes flirrt. Rotgoldene Blütenpokale laden die schwankenden Falter zum Trunke. Schattige Mooskissen, trockengehärtete Nadelhecken und sirrende Blätterkronen grünen sich. Horizontale Giebelstufen ducken sich vor dem strahlenden Himmelswegweiser unter dem gewölkten Blass. Fensterkreuze strecken ihre verdorrten Arme von sich. Die fahlen Teichfische dicken nach. Sanft sieht die Tulpenmagnolie in den vor Algen blinden Wasserspiegel. Die randständige Eiche knorrt auf die Wiese als möchte sie ein biegsamer Grashalm sein, der vom Sturm sich streicheln lässt. Nur der Farn bleibt ritterlich und sittsam ruhig, im Schatten des Schlosses.

In roten Hosen brannten die Franzosen alles nieder, weil da kein Wein mehr war in der Vogtei. Am Flussufer unten war das Volk geblendet vom lichterloh brennenden Dachstock und die Frauen senkten den Blick, als die fuchtelnde Feuergestalt aus dem obersten Fenster stürzte, wie weiland in Konstanz und Prag, Verbrennung und Fenstersturz in einem. Die Bauern hielten diesen unseligen Vorfall für ihre Befreiung aus der Knechtschaft, doch in Wahrheit schwebt der Geist der Schlossherrin für immer über dem Park und holt sich nachts in den Träumen der Anreiner das, was diese nie hergeben wollen: Ihre Unschuld. Der Schlossgeist ist Missionsbraut und feiert in den Männerschädeln gottgewollte Hochzeit.

Unterhalb des magischen Quadrates aus dickstämmigen Platanen, beschattet von einer elefantenfüssigen, hier eingeborenen Blutbuche, döst der hergebrachte Pavillon. Liedertakte unter der Decke, eine Fermate im Spinnengewebe als Blicküberwachung. Gläser mit Tee aus Ostindien mit arabischem Sukkar. Über dem First tanzen Rosenblätter. Züchtige Sehnsucht, am späten Nachmittg auch mal Hysterie. Verse wie „Dich, Dich habe ich gesucht“ und „Oh Glück, das Du bescherst“ flattern an der Wetterfahenstange aus flammofenfrischem Schmiedeeisen.

Hacke und Rechen geschultert stapft der Schlossgärtner am frühen Nachmittag vom Gewächshaus abwärts und bleibt unter der Blutbuche stehen. Aus der Hauptstadt brachte er selbstgepflückte Dahliensamen mit, von dieser unglaublich roten Schönheit, der auserwählten Mutterpflanze – ohne dass er um Erlaubnis fragte. Aus den Samen der Roten erwuchsen dank achtfachem Chromosensatz und der vorher Vaterpflanzen besuchenden Bienen erst Gelbe, dann sprossen Weisse. Und die Farben mischten sich im dritten Jahr wie im Pavillon die bunte Gästeschar. Da schaut er hoch zur Wetterfahne, schickt seinen Gärtnergeist zum Damengeist und steigt seelenruhig ab zur Arbeit im kühlen Grottenwäldchen. Als sich sein Stellenantritt zum neunten Mal jährte, spürte er, wie sein Vorgänger in ihm lebendig wurde. Unter dem vielstämmigen Lebensbaum wurde ihm klar, dass alle Schlossgärtner, bis auf diesen ersten, welcher den giftigen Riesen aus einer von Amerika stammenden Samenkapsel gezogen hatte, in ihm weiterlebten. Sie alle waren eins. Seither verbringt Rüegseggers Geist die Siesta mit der ewigen Herrin des Schlosses.

Gemeinsam bammeln sie über die Kräuterbeete, die warme Luft um die Brust, kitzeln hochfliegende Sommervögel. Ihre Zeremonie beginnt über dem gelben Salbei, der hiesigen Züchtung, gewidmet und benannt nach dem Paar, das vor hundert Jahren das Schloss gekauft und der Kommune geschenkt hat. Nachdem es vor nochmals hundert Jahren durch die ferne Stadt an den reichen Salzhandelskommissar und Grossrat Sulzer verkauft wurde, welcher das Angebot der politischen Ortsgemeinde mit einem saftigen Aufschlag vom Tisch gewedelt hatte. Sein Sohn Fritz liess den Pavillon bauen und die Familie trat aus der Landeskirche aus. Als die letzte der von Sulzer im Schloss starb, versammelte sich die politische Gemeinde und beriet über einen Kauf. Nach dreimal gezählter Stimmengleichheit holte der Gemeindepräsident zum Stichentscheid aus und wuchtete das Schloss vom Hügel. Als Fredi, Sohn des lokalen Schlossers, der mit seinem Vater sonntags Gottesdienste im Schloss besucht hatte und sich dann im fernen Colombo selbständig und Geld mit Dünger gemacht hat, davon hörte, kaufte er das Schoss stellte es der Gemeinde zur Verfügung. Als er dann von der Absicht erfuhr, das Bezirksgericht und einige Beamte im Schloss einzuquartieren, öffnete er seine Brieftasche erneut und bezahlte den Umbau zur Golden-Age-Residenz. Seither blüht der gelbe Baur-Salbei in Ruhe neben der roten Pfirsichsalbei und der gegenblütigen Salvia aus den Höhen von Peru. Die Geister wiegen und wogen einander und sich; die Muskatellersalbei duftet ihnen blinzelnd zu. Das Ritual findet seinen Höhepunkt in berauschendem Tanz der Pelargonien, einer Duftorgie, welche den Geist ausdehnt bis an den äussersten Rand des Nichts. Erst Muskat und Pfefferminz, dann erfrischender Rosen- und Limonenduft, im Abgang Zimt und süssharzige Noten. Man streichelt sie, dann werden wir gestreichelt, lächelt der Gärtner.

Es geschieht am 30. August!

An diesem Datum ist letztes Jahr Oliver Sacks, der die Neurologie in literarischen Kreisen salonfähig gemacht hat, gestorben, in New York City. Seither wissen wir alle, dass es mindestens einen Mann gibt, der seine Frau  mit einem Hut verwechselt. Den gleichen Todestag wählte Charles Bronson, nachdem ihn Sergio Leone endlich für einen Western engagieren konnte, für den unsterblichen Streifen „Spiel mir das Lied vom Tod“. Die evangelische Kirche feiert an diesem Tag den reformatorischen Maler Matthias Grünewald. Warren Buffett, der Finanzweltrekordler, feiert Geburtstag. Genau hundert Jahre früher kam im südfranzösischen Beaucaire ein Knabe, getauft auf den Namen François-Marie-Anatole auf diese unsere Welt, der später Bischof von Montpellier und päpstlicher Kardinal wurde, und darum kaum mehr Zeit zum Boulespiel fand. Am 30. August brach ein Stück des Allalingletschers los und verschüttete alle 88 Bauarbeiter, welche die Staumauer des Mattmarksees errichteten – Vater hat uns Fotos davon gezeigt, Militär wurde aufgeboten. Der französische Passagierdampfer Natal rammt vor Marseille einen Tanker und versinkt innert weniger Minuten – die Scheinwerfer waren aus, weil Weltkrieg war. Am selben Tag, ein Jahr später, schoss Fanny Kaplan zwei Kugeln auf Lenin ab, weil sie ihn für einen selbstherrlichen Verräter der Revolution hielt. Fanny traf die Schulter und den Hals. Erst 1922 wurde die Kugel in Lenins Hals operativ entfernt, nachdem ein deutscher Arzt urteilte, Lenins Kopfschmerzen seien vom Blei verursacht, das das Gehirn vergifte. Die roten Telefone in Washington und Moskau wurden 1963 an diesem schicksalstriefenden Spätsommertag installiert, nachdem die Kubakrise alle sprachlos machte. 1978 landete ein polnisches Verkehrsflugzeug auf dem West-Berliner Flughafen Tempelhof statt im realsozialistischen Schönefeld, weil eine Paar aus der DDR eine Spielzeugpistole gezückt hatte. Die britische Band Oasis veröffentlicht ihr Debüt-Album Definitely maybe, das war am 30. August 1994. Der 30. August wird auch als internationaler Tag der Verschwundenen, unter dem Patronat des Genfer IKRK, begangen.

An diesem Kalendertag ist auch die süsse blonde Nola verschwunden, noch keine sechzehn Jahre alt. Für immer. Adieu, allerliebste Nola. Diese Worte stehen auf einem Manuskript, das 33 Jahre nach ihrem Verschwinden zusammen mit den Überresten der Leiche des verschwundenen Mädchens gefunden wird. Ausgerechnet im Garten von Harry, dem berühmten Schriftsteller, der sich, damals 33 Jahre alt, unsterblich in das Mädchen verliebte. Er kann Lola nicht loslassen und belehrt seinen Schüler Markus, dass es im Leben eines Schriftstellers darum geht, sich fallen lassen zu können. Es geht um Lola, nicht um Lolita, auch wenn Nabakow auf dem Altar des Genfer Jung-Autors Joël Dicker steht. Nabakow wurde Ende fünfzig mit der Erotikgeschichte berühmt und berüchtigt, so dass er später noch ein Meisterwerk, Fahles Feuer, nachschieben konnte. Harry hingegen wird durch den Fund der ermordeten Nola erledigt, obwohl er sich die körperlichen Anteile seiner Liebe für später aufgehoben hatte. Lola ihrerseits ist ins Büro des Polizeipräsidenten gegangen, hat die Tür hinter sich geschlossen, ist unter den Tisch gekrochen, hat den Reissverschluss der präsidialen Hose geöffnet und dem Ordnungsmann eine höllisch himmlische Fellatio beschert, nur um ihn danach darauf hinzuweisen, dass er nun ein Verbrecher sei (sie habe sich vor diesen Worten den Mund abgewischt, das mit dem Spucken steht nirgends im Buch). Natürlich nur, um ihren geliebten Harry vor den Machtspielen der Polizei zu bewahren. Harry kann die Wahrheit nicht aussprechen, weil er das gefundene Manuskript als sein eigenes Buch herausgibt – der halbfiktive Briefwechsel zwischen Nola und einem durch eine Schlägerbande verunstalteten Maler Caleb, der die Briefe von Nola abfängt und an Harrys Stelle schreibt und dessen Liebesgeschichte mitspielt. Das Schicksal setzt sich am Schluss immer durch, meint Harry auf Seite 716. Ziemlich vertrackt, die ganze Geschichte von Joël Dicker, der Jura studiert hat, weil er in Mathe und Schreiben schwach war. Sein Stil ist eine mathematische Schreibe, da ist alles genau kalkuliert, geht flüssig auf, geht rasant in die Breite.

Fiktionalisierung und Realisierung halten sich in Schwebe. Das Unmögliche, Undenkbare wird dank empirischen Tatsachen und Beweismitteln real; das Objektive und die Wirklichkeit werden zur Fiktion, weil die subjektive Sicht die Dinge verändert und zu neuer Wirklichkeit treibt. Dann übertreibt die Wirklichkeit und die Simpsons mischen sich unter die Gäste. Selbst ein psychiatrisches Gutachten, das für die seit 33 Jahren tote Lola nachträglich eingeholt wird, fehlt nicht, nachdem sich in deren Kindheit ein evangeliakanischer Teufelsaustreiber vergeblich mit dem besonderen Kind abgemüht hat (Schläge auf den Körper und Kopf unter – geweihtes? – Wasser halten. Die neunjährige immerfröhliche Blondine hatte  das Schlafzimmer der strenggläubigen Mutter und gestrengen Hausherrin in Brand gesteckt und auf dem Balkon gesungen, während Mama verbrannte, was den Pastorpapa etwas verunsicherte und Hilfe beim befreundeten Pfingstgemeindechef nachsuchen liess). Nola hätte nach dem unglücklichen Brandopfer an schizophrenen Schüben gelitten, vermutete das Gutachten, nämlich immer dann, wenn sie sich selber und die Rolle ihrer Mutter abwechselnd personifizierte und dialogisierte, währenddem sie sich selber mit einem Eisenlineal auf alle erreichbaren Stellen schlug und mit sich selbst am Haarschopf Guantanamo spielte. Kein Wunder, hat sich der Schriftsteller-Star Harry in die Kleine verknallt. Welch sonderbare weibliche Ausstrahlung muss das blonde Wesen besessen haben: Mutter und Tochter in einem! Würde man einen Psychologen über die Figur Harry befragen, würde der Sätze mit den Signalmarkern erfolgsorientiert und auch einsam aus seiner empirischen Werkzeugkiste klauben und stolz Schriftstellphänomen nachschieben. Ein erfolgsverwöhnter Schönling, der immer Angst hat, als Bluffer enttarnt zu werden und hervorragend im Roman mitspielt. Wie auch der Ich-Erzähler, der Schüler von Harry. Und Boxpartner. Und gegenseitig einziger Freund. Beziehungskisten wie Comix-Boxen. Der treue Schüler Markus befolgt Harrys 31 schriftstellerische Lehrsätze und schreibt im Roman an dem Roman, den man in Händen hat. Alles ist möglich. Daran hat Joël Dicker geglaubt, als er diesen Roman schrieb, in dem es eigentlich nur um den Erfolgsroman und das Schreiben geht, der Rest ist ein rasend vergnüglicher Krimi. Und dem Autor Joël Dicker widerfährt, was Markus widerfährt, nachdem es Harry widerfahren ist: Der Erfolgsroman. Gut drei Millionen Leser haben das Buch gekauft. Literarische Bundesliga. Markus‘ Verleger plädiert in der Geschichte dafür, Schriftsteller mit Erfolgsaussichten mit einem Vorschuss wie einem Fussballer-Top-Salär zu bezahlen – so komme man frühzeitig in die Schlagzeilen und daher sei das eine rentable PR- und Werbeinvestition, die sich schnell auszahlt. Alles ist möglich. Nur eines scheint sehr schwer möglich zu sein: Das graphologische Gutachten einzuholen, das Harrys Untersuchungshaft beenden und die Anklageerhebung verhindern könnte. Das ist der einzige Moment im Plot, wo die Protagonisten nicht das Heft in die Hand nehmen und die ganze Geschichte kraftvoll vorantreiben. Sie warten tagelang, ohne einmal nachzufragen oder nachzusehen, wie sie das ununterbrochen machen. Nach ein paar hundert Seiten entlastet das Gutachten Harry und belastete den Maler und Schriftstellerneuling Caleb, der seinen Liebesbriefwechsel mit Lola kopierte und Harry überreichte mit der Frage, ob das Literatur sei?. Aber der Mörder ist der Fellatio-traumatisierte Polizeichef vom Provinznest, wie es eben in Amerika so ist. Marcus, der Harry-Schüler und Ich-Erzähler verabschiedet sich im letzten Satz des Romans: Ich mache mich auf die Suche nach der Liebe.

Die Sternschnuppe

Am Tag des heiligen Laurentius schauen die gläubigen und gutinformierten Menschen im Kloster Ittingen hoch zu ihrem Schutzheiligen, spähen gen Himmel, erst spätnachts, die strenggläubigen genau zwischen Abend- und Morgengebet, nordostwärts, in Richtung Sternbild Perseus (bei den Griechen der Heroe göttlicher Abstammung mit dem Schwert in der einen Hand und dem Haupt der Medusa in der anderen). Der kanonheilige Laurentius ist Schutzpatron von Berufen, die mit offenem Feuer zu tun haben oder hatten: Köchen, Bierbrauern, Brandstiftern und Feuerwehrsleuten. Bei Hexenschuss und Ischias kann man ihn auch anrufen. Laurentius war Finanzchef des Papstes, wurde aber vom Kaiser Valerian verhaftet und schliesslich auf einem Rost ganz langsam gebraten. Laurentius hat den Kirchenschatz unter die Mitglieder der Christgemeinde und den Rest an Bedürftige verteilt, statt ihn dem Kaiser auszuhändigen. Seitdem wird Laurentius als Grillmeister dargestellt. Der Meteorstrom der Perseiden wird zu Tränen des Laurentius.

Dier Perseiden erreichen eine Intensität von achtzig Meteoren pro Stunde. Die kosmischen Teilchen treten mit 60 Km pro Sekunde in unsere Atmosphäre, die verglichen mit dem Weltall so viele – weltliche – Partikel enthält, dass die kosmischen Körper rotgeschmirgelt werden und verglühen (Umkehrprozess der solaren Ionisation; Rekombinationsleuchten!). Der perseide Meteorstrom seinerseits ist nicht als Staub eines riesigen Kometen, feste Bestandteile in dessen kosmischen Abgasen. Die Sternschnuppen trösten uns über das irdische Fest-Feuerwerk hinweg, dem etwas von einer vorpubertären Erektion anhaftet. Im russischen Ural ist vor drei Jahren ein Jahrhundert-Meteor in die Atmosphäre geraten und hat in den vereisten See ein Loch von sechs Metern Durchmesser geschlagen. Die Fenster im 80 Km entfernten Tscheljabinsk lagen in Scherbern auf den Strassen. Unerklärlich war das Ereignis in Tunguska, gut hundert Jahre früher; daraus entstand viel Literatur. Einen Krater von 180 Km hinterliess der Meteor, der im Norden von Yucatan niederging. Die Dinos auf der ganzen Welt lagen tot am Boden. Ein deutlich kleinerer Meteor schlug dann in der libyschen Wüste ein und tropfte danach als kosmisch-geologisches Glashybrid vom Himmel. Tutanchamum hat sich daraus einen Skarabäus machen lassen, den er bis ins Grab als Glücksbringer umklammerte. Der Käfer vermehrte sich nach dem Rückgang des Nils derart schnell, dass man davon ausgehen musste, dass sich diese Kot-Pillen-Dreher nicht fortpflanzten, sondern direkt von Gott aus dem Nilschlamm geschöpft wurden. Den antiken Griechen bescherte der Himmel auch einen heiligen kosmischen Brocken, den aber die Römer mit ihren fuhrwerkstechnischen Möglichkeiten mitlaufen liessen. Im Westen wird der schwarze Stein der Kaaba in Mekka als Meteorit gehandelt, die Muslime sagen aber, den habe Adam aus dem Paradies mitgenommen, andere sind der Ansicht, Erzengel Gabriel habe ihn Abraham in die Hand gedrückt, als er Adams Tempelchen restaurierte.

Meteoroiden sind vorwiegend interplanetare Teilchen, grösser als der sonnensystemische Staub, kleiner als Asteroiden, die ihrerseits auf einer keplerschen Umlaufbahn um die Sonne ziehen, aber kleiner als Kleinplaneten sind. Die Meteoroiden werden zum Meteor, wenn sie die Erdatmosphäre erreichen. Das Ursprungsmaterial von Sternschnuppen ist höchstens ein Millimeter gross, darüber spricht man als Astrologe von Boliden (Volksmund: Feuerkugeln, wurde später auf brennende Rennautos übertragen). Es braucht ein geschultes Auge, um da am Nachthimmel die kategoriale Grenze mit Sicherheit zu bestimmen. Bei Feuerkugeln funktionieren Wünsche nicht, da sollte man die Gelegenheit nutzen, die Verdauung zu unterstützen. Kometen sind wie Asteroiden Überreste aus der Entstehung des Sonnensystems, bestehen aus Staub, Eis, Stein. Kern und Koma bilden den Kopf des Kometen, der Rest ist Schweif. In den Mond krachte 1179 ein Komet, die Mönche von Canterbury schauten zu. Der Krater bekam später den Namen von Giordano Bruno, dem mönchischen Philosophen, der von der Kirche im Jahre 1600 den römischen Lokalbehörden übergeben wurden, welche die Bestrafung durch Verbrennung vollzogen (Giordano lachte den Henker aus: „Du Schisshas“!). Kometen bleiben meist am Himmel und beeinflussen die Menschen von oben. Das Kometenkind ist als biblisches Motiv bekannt und taucht auch in der Gegenwartsliteratur auf. Clemens Setz, der Jung-Kafka aus Graz, zeigt in seinem Roman Indigo einen Frakturtext mit gravierter Illustration seiner Kometenkindgeschichte als Hebel-Geschichte „Die Jüttnerin von Bonndorf“. Das Faksimile ist natürlich ein Fake. Immerhin wurde Bonndorf 1811 vor der Ankunft des Leibhaftigen, des teuflischen Faktenverdrehers, bewahrt.

Unten am Flussufer, etwas entfernt von dem malerischen, kaum beleuchteten Dörfchen, sieht man den Nachthimmel am klarsten. Am besten liegt man spätabends, nach ausgiebigem Blaue-Stunde-Trinken und reichlichem Abendmahl, am oberen Strandufer auf den Rücken und schliesst die Augen soweit, dass die Sterne nicht mehr blenden. Wenn Du in Begleitung bist, so lass Dich in wohliger Gemeinschaft nieder. Wenn jemand ruft: „Da, eine Sternschnuppe!“ und Du bist in Begleitung einer einzigen Person, so sag einfach: „Wünsch Dir was!“. Falls noch jemand bei Euch ist, halte auf jeden Fall Deinen Mund. Es gibt Menschen, die wünschen sich tatsächlich etwas, wenn sie eine Sternschnuppe erhaschen, die haben immer Instant-Wünsche dabei. Und hoffen, dass der Wunsch in Erfüllung gehen wird, weil sie wie Orgasmusverweigerer fähig sind, den Wunsch nicht gleich auszuplappern und damit zu versauen. Behalte den Nachthimmel im Auge und halte Ausschau nach der schönsten Schnuppe der Nacht; behalte das Geheimnis für dich, dass man den Augenkontakt mit der himmlischen Schnuppe für sich behält, wenn man Hoffnung hat. Aus der aufsehenerregenden Korrelation von Augenkontakt mit Sternschnuppen einerseits und zuversichtlichen Gegenwartsgefühlen andererseits lassen sich keine Kausalzusammenhänge ableiten, aber immerhin die Gewissheit, dass der Anblick einer meteorischen Himmelserscheinung objektiv schön ist und wahrscheinlich sogar beglückend wirkt. Der Rest ist schnuppe.

#GodAndNation

Die in liberaler Tradition stehenden Zürcher haben sich immer etwas geärgert, dass Pater Alberik Zwyssig in der Innerschweiz mit diversen Monumenten als Schöpfer der Schweizer Nationalhymne gefeiert wurde. Zwyssig hatte ja nur seine 1835 im Kloster Wettingen komponierte Messe „Diligam te Domine“ (www.schweizerpsalm.ch/Hoerbeispiele/Diligam%20te%20Domine.mp3) etwas zurechtgestutzt, um die Hymne zu vertonen. Der lateinische Text passt much better. An der Ecke Eugen-Huber-/Rautistrasse in Altstetten wird Zwyssig entsprechend bescheiden gefeiert. Im fin de siècle wurde dann der fortschrittsgeistige Dichter Leonhard Widmer als Urheber lanciert. Das Schweizerpsalm-Denkmal, das seit 1910 auf dem Zürichhorn steht, wurde dann aber dank stadträtlicher Konkordanz sowohl dem Textautor als auch dem Komponisten geweiht. Das etwas martialisch geratene Jugendstil-Monument erhielt vom Volksmund die Bezeichnung „Rakete“. Nach dem letzten grossen Krieg erhielt der Lyriker Widmer neben dem Meilemer Bahnhof, auf dem Grundstück seines Geburtshauses, ein eigenes Denkmal: Vorerst kniete die Knabenfigur neben dem Geleise und hält Ausschau nach dem geröteten Alpenfirn, später steht sie, weil ihr der neue Bahnhof die Sicht in die Alpen versperrte. Der Doppelspurausbau überrollte dann die standfeste Figur, so dass sie die Politiker ans Seeufer zügelten. Die Bahnkunden werden nun mit einem Gedenkstein neben den Parkplätzen abgespiesen. Seither fahre ich alljährlich am Nationalfeiertag zu diesem kurzbehosten und lang vogelbekackten Jüngling zum pique-nique patriotique am Gestade. Am Buss- und Bettag, der 1832 durch die Tagsatzung proklamiert wurde und dessen christlich-nationalen Rituale damals die politischen Kantonalbehörden zu vollziehen hatten, besuche ich das Eidg. Boule- und Pétanque auf dem Zürcher Lindenhof.

Die konservativ-liberale Kooperation von Zwyssig und Widmer ist eine historische Unregelmässigkeit in der Regenerationszeit, in der sich die beiden Parteien nichts schenkten. Zwyssig, mit 13 Jahren aus dem Uri in die Klosterschule Wettingen versenkt, musste 1841 aus den Klostermauern zurück in die Innerschweiz flüchten, weil Widmers Gessinnungsgenossen im Aargauer Grossrat gerade beschlossen hatten, sämtliche Kloster unter staatliche Verwaltung zu stellen (hier zweigt die Geschichte der Monstranz aus dem Kloster Muri in der Aussersihler Mutterkirche ab!). Der Aargauer Oberst Frey-Herosé, späterer Generalstabschef im Sonderbundskrieg und Mitglied des ersten Bundesrates (ja, mit Schneider-Ammann verbindet ihn der eheliche Doppelname, den sich Fritz zugelegt hatte, um unverwechselbar zu werden – noch später wurde daraus wider ein Kurzname: Chocolat Frey), verlangte den Schlüssel zu den Kirchenschätzen und verjagte die Mönche reussaufwärts. Der eher geschäftliche Kontakt der beiden Musikliebhaber Widmer und Zwyssig – Widmer betrieb eine Lithographie und gab Notenblätter heraus – brach für ein gutes Jahr ab. Zu dieser Zeit schrieb Widmer den originalen Schweizerpsalm. 1833 war Widmer wegen einer Stelle als Schönschreiblehrer, die er dann doch nicht erhielt, zum zweiten Mal in die Limmatstadt gezogen, als Kostgänger der Witwe Huber am Stüssihof, deren Tochter Louise hervorragend kochte und seine Frau wurde. Eines Tages erhält Zwyssig Post, die von wackeren Männern überbracht wurde: Den Schweizerpsalm von Widmer, mit der Bitte um Vertonung. Zwyssig liest den Brief ein zweites Mal, schaut auf den Zugersee und denkt an sein „Diligam te Domine“. Über die editorischen Verhandlungen der beiden ist leider nichts bekannt; auf jeden Fall gelangte die gemeinsame Version unabhängig voneinander im September 1841 in Zug und Zürich erstmals zur Aufführung. Am eidgenössischen Sängerfest in Zürich, keine zwei Jahre später – und gleichzeitig mit der Herausgabe der ersten kontinentaleuropäischen Briefmarke durch den Staate Zürich -, wurde am 26. Juni das Lied in der ersten Abteilung des Hauptprogrammes durch den gastgebenden Gesangsverein Harmonie aufgeführt. Begeisterungsstürme. Schüsse in die Luft.

Das Blatt mit der „Hymne für unsere Erde“ (©1989), aus dem Romanischen vom Autor Flurin Spescha selbst hilfsübersetzt (das ist sein Wort), ist handschriftlich mit der Widmung „Per Gieri“ versehen. Die metaphorische Abfolge der Strophen entspricht fast Widmers Werk: Morgenrot (das sich in Widmers Urversion auf Gott reimt!), Sternenhimmel, Meer (bei Widmer lediglich: Nebel), Sturm. Flurin drückte mir die One-world-Version („Meine Seele weiss, dies ist unsere einzige Welt“) in die Hand, nachdem ich am Vortag von Widmer erzählt hatte. Flurin hat 1993 mit „Fieu e Flomma“ (Feuer und Flamme) den allerersten Roman in Romantsch Grischun geschrieben. Als ich eine neue berufliche Position übernahm, blieb er bei Mägi im Hinterzimmer des stadtpräsidialen Vorzimmers. Er heiratete und starb kurz darauf. Sein Grabmal im Sihlfeld D – von Heinz Häberli – ist ein durchsichtiger, filigraner und doch stürmischer Kubus aus ehernen Buchstaben, das Original seiner Welt-Hymne liegt unbeachtet in seinem Nachlass. Anderen Gegenentwürfen zum Schweizerpsalm erging es nicht besser. Nachdem der Bundesrat 1961 – erstmals überhaupt, vorher hatten die Kantone die Kompetenz, irgendeine Landeshymne zu singen (beliebt war „Rufst Du mein Vaterland“ von Hansrüedu Wyss, der ein Jahr später mit seinem Vater, dem gleichnamigen Münsterpfarrer zu Bern, den „Schweizer Robinson“ schrieb und damit das Original von Defoe in der europäischen Hitparade hinter sich liess. Wyss hatte sein Lied zur Melodie „God save the queen“ getextet, was gemäss Pro Helvetia an internationalen Treffen für Verwirrung sorgte) – den Schweizerpsalm für die Armee und diplomatische Vertretungen provisorisch zur Nationalhymne erklärte, ging gleich das Hickhack über das veraltete Lied los. Zwanzig Jahre nach dem ersten Bundesratsenscheid zur Landeshymne folgte der zweite BRB: Die Landeshymne ist definitiv geregelt, lasst die Sache auf sich beruhen. Denkste! Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft, älter als der helvetische Bundesstaat, machte sich 1859 mit dem Kauf der Rütliwiese, welche sie der Eidgenossenschaft schenkte, einen Namen. Die 1- August-Feierlichkeiten auf dem Rütli sind noch heute Sache der SGG, vor wenigen Jahren hielt mein Doktorvater von Matt die Festrede. Derweil stellt der Vorstand der Gemeinnützigen fest, der Text der Nationalhymne entspreche nicht mehr der Realität, weil neben der Frömmigkeit keine anderen Werte erwähnt würden. Lanciert einen Wettbewerb: Die bekannte Melodie soll beibehalten werden, ein neuer Text sich inhaltlich an der Präambel der neuen Bundesverfassung von 1999 orientieren. Denkste! Der mit einem online-voting gekürte Siegerbeitrag von Werner Widmer, Gesundheitsökonom vom Zollikerberg, vermeidet das Wort Gott, weil sich in unserem Land über ein Viertel der Bevölkerung „zu keinem religiösen Glauben bekennt“. Die Bundesverfassung aber beginnt mit den Worten: „Im Namen Gottes des Allmächtigen!“

Nun, Kindergarten und Primarschule Nuolen (ein St. Galler Dörfchen Nähe Amriswil) werden den neuen und kindergerechten Kehrreim singen: „Weisses Kreuz auf rotem Grund, unser Zeichen für den Bund…, singen alle wie aus einem Mund“ – obwohl das Kompetenzzentrum zu Fragen rund um den Schweizerpsalm den Lehrkräften hervorragende Arbeitsblätter zu Verfügung stellt. Die freisinnige Lilo Lätzsch vom Zürcher Lehrerverein empört sich, dass es im Glarnerland Schulleiter geben soll, die in ihren Schulhäusern die neue Hymne nicht gesungen haben wollen. Chris von Rohr hingegen bezichtigt die Kritiker der herkömmlichen Hymne hochnäsiger Arroganz und kultureller Verblendung. Differenzierter argumentiert das reformierte Kirchenblatt und stellt fest, das der alte Text auch auch für Nichtchristen akzeptabel sei und durchaus auch von „grossmütigen Atheisten“ gesungen werden könne. Der Schweizerpsalm ist das einzige Lied, das zu lernen sich wirklich lohnt“, sagt der studierte Grundschullehrer Ludovic Magnin, „das habe ich mir schon in der Schule gut überlegt – für den Fall, dass ich einmal in der Fussball-Nati spiele“. Nur Streller hat noch schöner gesungen. Seit die beiden weg sind, verziehen die Tschütteler kaum mehr eine Miene, wenn der Schweizerpsalm im Stadion daherscheppert und die Fans den Refrain grölen. Gott sei Dank haben wir jetzt ein Frauen-Nati, die das Liedchen mit geschwollener Brust und voll Inbrunst singt.

Willkommen in der Sonderzone!

Schon wieder ist ein junger, schwarzer Mann im kühlen Fluss ertrunken. Niemand kannte ihn. Niemand vermisste ihn. Für die Behörden und die Bestatter eine Ausnahmesituation: Dieser Tod verlangt eine völlig neutrale, aber gleichzeitig würdige Prozedur und Beisetzung. Das anonyme Massengrab war naheliegend. Eine klar identifizierbare und ausgesonderte Stelle, ein anonymes Einzelgrab im zeitgemässem gutschweizerischen Gemeinschaftsgrab. Man weiss ja nie! Richterlich angeordnete Exhumierung, ansteckende Keime, unverrottbare Gene. Sicher ist nur, dass der grossgewachsene Junge den Abenteuerritt auf dem Fluss überlebt hätte, wenn er die Schwimmweste getragen hätte, die er nach der Schifffahrt über das Mittelmeer in der Ägäis zurückgelassen hatte, falls der unbekannte Nichtschwimmer in einer solchen Situation gewesen sein sollte.

Refugees Welcome ist einfach sympathischer als Ausländer raus. Und Angela hat mit ihrem pfäffischen Willkommensgetue das Flüchtlingsgetue abgesegnet und den Willkommens-Hype persönlich lanciert, wobei ihr dann später das Echo lästig wurde. Bis bezahlte Bürgerwehren die Balkanroute, Europas Hintereingang, durch ihre Patroulliengänge und dann mit Zäunen unterbrochen haben. Und europainnenpolitisch etwas Ruhe und Stabilität brachten, was alle begrüssten, weil der Terror wieder mal die meisten Follower lieferte. Das evangelische Hilfswerk bewirtschaftet noch die verebbende Solidaritätswelle: Farbe bekennen! Mit dem blauen Band am Handgelenk, wie All-inclusive-Touristen. Durch Kirchen- und Spendegelder wird zusammen mit unentgeltlich Engagierten ein umfangreiches Angebot für Flüchtlinge betrieben, Begegnungshäuser, Yoga-Kurse werden angeboten, Theater gespielt, die Cuisine sans frontières im Bundestestasylzentrum Juch unterstützt. Umfangreich und vielfältig ist auch der Flüchtlingsbegriff des Hilfswerkes. Zumindest jene im Bundeszentrum Juch sind Asylnachfragende, deren Gesuch geprüft wird, von diesen wird vielleicht einer von vier oder fünf eine Aufenthaltsbewilligung als Flüchtling erhalten. Junge Eritreer haben etwas bessere Chancen.

Von einer europäischen Politik im Umgang mit den Asylsuchenden kann keine Rede sein. Die oberste Maxime ist die Niederlassungsfreiheit der Unternehmen und der Entlöhnten, von Kapital und Arbeit, so dass die Marktgesetze in ihrer reinen Form auftrumpen können. Europa kann selbst die einfachsten Dublin-Grundregeln nicht operationalisieren – blosser theoretischer Aberglaube, getarnt als politische Vernunft. Die EU schickt Millionen in die Türkei in der wagen Hoffnung, dass die Türken nicht alle Migranten durchwinken. Afrikanische Staaten verlangen von der Schweiz Geld, wenn sie Migranten zurücknehmen sollen. Irgendwie schaffen wir das schon: Die Asylsuchendenbegleitungsindustrie ausbauen, die Ausbildungsmaschinerie, das Gesundheitswesen. Bezahlen kann das die Eidgenossenschaft mit Staatsobligationen, für welche wissentlich mehr bezahlt wird, als zurückbezahlt werden wird. Dank dieser virtuellen Gelddruckerei ist eigentlich egal, wie im Asyl- und Migrationsbereich politisiert wird. Alles kann administriert werden, mit einem hohen Grad von Raffinesse und Standardisierung. Und die Politik darf immer mal wieder in die Feinjustierung der Administration Einfluss nehmen. Aber nur nach Vereinbarung von messbaren Zielen, deren Erreichung im Testzentrum laufend mit sozialwissenschaftlichen Methoden überprüft werden kann. Hier geht es um die Steuerungshoheit. Von verantwortungslosen Kapitänen und Unteroffizieren wimmelt es. Der leitende Gefängnisarzt beklagt im Fernsehen, dass für einen Gefangenen ohne Aufenthalts- und Bleiberecht kein Kostenträger für eine bei jener Diagnose üblichen Behandlung gefunden werden kann (der Kanton Zürich hat ein entsprechendes Gesuch abgelehnt), statt selber die ihm richtig erscheinende Handlung vorzunehmen. Heilpädagogen beschulen nichtbegleitete jugendliche Asylbewerber, ohne dass sie einen Wissenszuwachs oder eine Verhaltensänderung feststellen können. Unter sich hat es die Horde Jugendlicher ganz gut, eher so Rap-style.

Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Grenzübergänge zu den Nachbarstaaten und innerhalb der EU ziemlich weit offen stehen. Die Pro-specie-rara-Fraktion der SVP hat in einer innerparteilichen Aussprache klar gemacht, dass allfällige Zaunaufbauarbeiten im Schweizer Gebirge eigenhändig unterbunden würden und lässt es so zur Schulterberührung mit den Ökosozialdemokraten kommen, welche die integrationspolitische Bewanderung der schönsten Wege über die grüne Grenze durch herkunftsmässig gemischte Fussgängergruppen bejubelt. Ja, offene Grenzen sind besser als geschlossene. Man sollte einen Befürworter des Jihad nicht an der Ausreise hindern. In den besiedelten Grenzgebieten könnten eidgenössische Sonderzonen begründet werden, in welchen die eidgenössische Hoheit auf das unveräusserliche Territoritaleigentumsrecht beschränkt wird. Wenn die UNO die selbstverwalteten Gebiete als staatliche Gebilde anerkennt, könnte man dem Beispiel von Auroville folgen und die Territorial-Oberherrschaft fallen lassen. Damit die Selbstverwaltung friedlich aufgebaut werden kann, werden den Landeskirchen und anerkannten zivilgesellschaftlichen Organisationen das Baurecht und die Gerichtsbarkeit für diese Gebiete zugesprochen. Getragen werden alle Aktivitäten und Investitionen in der Sonderzone durch Privatinitiative, Freiwilligenarbeit und Spendengelder. Den Kirchen wird im Gegenzug versprochen, weiterhin ihre internen Steuergelder einzuziehen und vollumfänglich zu erstatten.

Das übrige Grenzgebiet ist grundsätzlich offen. Wer in die Schweiz will, sich an die Gesetze hält, sich bei Ordnungswidrigkeiten kooperativ verhält und Busse zahlt, vor allem aber für sich selber sorgen kann oder dafür sorgen kann, dass für ihn gesorgt wird, hat Bleiberecht. Die Sonderzone ist gegen das Nachbarland offen und schweizseitig ummauert. Die Durchgänge stehen für alle offen, welche in die Sonderzone wollen. Wer aus der Sonderzone in die Schweiz will, muss sich ausweisen. Personen, welche in der Schweiz kein Bleibe- oder Aufenthaltsrecht haben, werden nicht eingelassen. Neue Asylgesuchstellende können direkt am Übergang ihr Gesuch stellen und werden bis zum Asylentscheid durch den Staat mit dem nötigen versorgt. Sans-Papier haben ihr eigenes Begegnungs- und Beratungszentrum. Personen, deren Asylgesuch in der Schweiz abgelehnt wurde, werden in diese Sonderzonen verwiesen, wenn sie nicht in ihren Heimatstaat zurückgeführt werden können oder wollen. Die Kirche weiss, dass sie mit diesen Leuten einen herrlichen kleinen Gottesstaat aufbauen kann, welcher manchen Muselmann und Wodoobrother zu Jesus bekehren wird oder wo man sich mindestens kooperativ zeigt und sich um Toleranz und Einvernehmen bemüht. Amnesty-Spezialisten werden die Ordnungskräfte und Justizorgane beraten und überprüfen. Landwirtschaftliche Kooperativen und Handwerker werden den Marktplatz in der Freihandelszonen bereichern. Die Tourismus- und Event-Wirtschaft bleiben in diesem globalisierten, an der Schweizer Grenze lokalisierten Freistaat in der Hand jüngerer Schweizer. Für einen ersten Test eignet sich die Grenze zu Österreich; da oben an der Rheinmündung in den Bodensee sind vor allem Migranten aus dem Nordosten und aus Asien zu erwarten. Die Nähe zu St. Margrethen und Bregenz verspricht lebhafte Beteiligung der einheimischen Bevölkerung und kreative Kraft, die Nähe zum Bischof Vitus in Chur ermöglicht finanzielle Unterstützung aus dem Vatikan. Hotspots nachhaltigen Wirtschaftens. Ventilatoren für die hochsensiblen Schweizer Industriebürocomputeradministrationssysteme.

Lakhsige Herkunft

Was tun Menschen für Geld? Das ist die grosse Frage, welche die Manifesta aufwirft. Einen Regenwurm schlucken für 10 Rappen? Auf den Kopf springen für 20 Rappen? Betteln für einen Stutz? Nichtstun und Zinsen einsacken? Allerlei tun Menschen für Geld, keine Frage. Keine grosse auf jeden Fall, die Frage, zu welchen Menschen Geld hingeht. Woher das Geld kommt? Der Gemeinderat Zürich hat 5 Millionen bewilligt. Die Künstler erhalten ein mittleres Jahressalär für ihr Projekt. Aus 80 Tonnenn Klärschlamm gepresste Quader zeigt der Amerikaner Bouchet in der Kunsthalle, Zeichnungen weiblicher Orgasmen bei Selbstbefriedigung sind woanders zu sehen. Robert Menasse soll irgendwo oder überall sein Nichtstun spürbar machen. Wäre mein Riechvermögen intakt, würde ich mir bestimmt die vom Ami zwischengelagerte Zürcher Scheisse anschauen. Ich sympathisiere hörbar mit Menasse, kein bildender Künstler, ein gebildeter Schreiber.

Woher kommen wir? Was der Kunst Recht ist, ist der Philososphie vergnügliche Pflicht. Nach der Kunstausstellung fragen wir uns, wohin wir gehen, für einen Trunk natürlich, nicht am Lebensende. Wer wir sind, fragen wir uns morgens, wenn wir plötzlich im Spiegel des Badezimmers erscheinen. Woher wir kommen, wissen wir in etwa. Ich kenne Mutter und Vater; weiss, woher die Vorfahren stammen. Hauptwurzeln im voralpinen Weisstannen- und napfigen Emmental. Vom Bauernhof eben, der von immer neuen Generationen bewirtschaftet wurde und die Ahnen mit karger, dafür autochthoner Bionahrung versorgte. Die Knaben pressten Kuhmist zu kleinen Quadern. Die Mädchen besorgten irgendwas. Auf dem Üetliberg waren die keltischen Helvetier, ihr fryer Anführer Udo Kulm, mit denen hab ich wohl auch noch was zu tun. Dann kamen die Römer, aber das Lateinische passte nicht zur Limmat und auch nicht in die Höger. Früher waren irgendwelche Germanen da. Solche Germanen sind wir vielleicht immer noch. Als Germanen bezeichneten die Römer die Menschen, die nördlich ihres Reiches lebten: Die letzten Barbaren ausserhalb des Mittelmeer-Kulturkreises.

Aber das müssen wir nicht auf uns sitzen lassen. Wir sind ja eigentlich Indogermanen. Indogermanen sind jene, welche zur indogermanischen Sprachfamilie gehören, die halbe Welt also, von Island bis Java. Sanskrit spielt im Indogermanischen eine wichtige Rolle, weil es die besterhaltene vorantike Sprache in diesem Sprachraum ist. Noch heute wird im gesamten südasiatischen Raum Lakh als Zahlwort für 100’000 gebraucht, zum Teil auch in Ostafrika. Lakh ist Hindi und stammt aus dem Sanskrit (laksha). Das geht auf das ur-indogermanische loks zurück, was soviel heisst wie Lachs, der allseits beliebte Ess-Fisch, der früher auch im Rhein wimmelte. Die Bedeutung ist ursprünglich „unübersehbare Menge“. Auch in Alt-Ägypten gibt es eine Wasserlebewesen – Kaulquappen -, das so oft vorkommt, dass es der riesigen Zahl 100’000 Name und Hieroglyphe darbot. Eine Million sind 10 Lakh, 100 Lakh sind dann 1 Crore, eine Milliarde sind 10 Crore, geschrieben 10’00’00’000. Achtung: Im Iran entspricht 1 Crore gerade mal 500’000! Im indogermansichen Sprachraum ist der Umgang mit den 10er-Potenzen im Dezimalsystem wenig einheitlich.

Die ethymologische Verwandtschaft rund um das Lakh und den Lachs lieferte das kontinentaleuropäische Argument, dass die Ur-Indogermanen aus dem nördlichen Mitteleuropa stammen, nicht aus der eurasischen Steppe, wie man im Osten behauptet: In der Steppe gibt es keinen Lachs! Die heutigen Philologen stehen dem Lachsargument eher skeptisch gegenüber und sehen den Ursprung des Indogermanischen und der Indogermanen in der 6000 Jahre alten Kurgankultur, Halbnomaden-Völker mit Hügelgräbern im heute umkämpften Donbass. Diese These war ursprünglich verknüpft mit der Gleichsetzung von Indogermanen und Ariern, was Hitlers Vorstoss zur Wolga verständlich macht. Aber das Wort Arier stammt aus Asien: Iran ist das Land der Arier, auch die nordindischen Sprachen weisen das Wort auf. Als indoarische Sprachen werden heute alle nicht-drawidischen Sprach in Indien bezeichnet. Falsche Fährte.

Egal welcher Hypothese über den Ursprung und die Lokalisierung der Ur-Indogermanen man anhängt, alle gehen davon aus, dass sich Indogermanen vor gut 4000 Jahren mächtig ausgebreitet haben und so ihre Sprache in die Welt hinausgetragen haben. Das Vokabular und die grammatische Struktur stimmen im gesamten indogermanischen Sprachraum recht weitgehend überein. Die durch die kräftigen Indogermanen aufgemischten Völker haben das kulturelle Skelett der indogermanischen Sprache in ihre unverständlichen Idiome inkorporiert. Im Detail weiss man natürlich nicht, welche Indogermanen ausgewandert sind. Waren das junge Männer, welche ihre Sippen verliessen und von den Frauen von Island bis Südchina freudig und sexhungrig empfangen wurden, um die Völker gemäss den genetischen Gesetzen zu vermischen? Oder waren das ganze Sippen, die in alle Himmelsrichtungen ausser Norden strömten, sich weit weg neben anderen Stämmen niederliessen und Sippensex suchten? Seit unserer Zeitrechnung haben sich die Völker kaum vermischt. Meine Vorfahren lebten seit Jahrhunderten am einen Ort. Die Vermählung von geschlechtsreifem Nachwuchs war Grossfamilienpolitik. Mit Fremden ist man auf der ganzen Welt freundlich, aber mit Ihnen vermischt man sich nicht (ausser man gehört zur Herrscherelite und hat seine expansionspolitischen Gründe). Die indogermanische These wackelt vor der Erfahrung.

Die indogermanische Ursprache hat man in den letzten zweihundert Jahren weitgehend rekonstruiert, indem man eine Theorie der Sprachentwicklung als darwinsche Sprachevolution postulierte. Vor Schleichers erster Rekonstruktion hat man Sanskrit als Näherungsmodell der Ursprache verwendet. Nun aber hat man das Indogermanische als eigentliche Kunstsprache fertig kreiert. Dann folgert man logisch, dass diese Sprache auch gesprochen wurde, weil eine Hochsprache als reine Schriftsprache undenkbar ist (es liegen keinerlei schriftliche Zeugnisse vor!)  – das wäre Anti-Sanskrit. Nun wackelt die indogermanische These vor der Vernunft: Ein blosser Zirkelschluss. Es gibt keine indoeuropäische Ursprache. Unsere Urahnen sind Adam und Eva aus Afrika, die in den Alpentälern weiss geworden sind, zur besseren Tarnung im Winter. Wir sind keine Indogermanen. Nur in der deutschen Sprache gibt es dieses herkunftspolitische Kunst-Wort. Lachs aber schmeckt überall, Läck-so-guet, und diese Kunde hat sich schnell verbreitet.

Urheber

Vorbei an an den letzten innerstädtischen Beton-Baracken, vorbei am Riesenloch des Justizzentrums, in dem 1600 Besoldete und 350 Gefangene verschwinden werden, auf die längste Eisenbahnbrücke über die Schienenstränge des Letzigrabens. Bebrilltes Karohemd liest Thilo Sarrazin auf dem E-Reader. Die Fettfalten der jungen Frau im Träger-Shirt überquellen fremd und mutig. Frischbärtiger Rammstein klammert sein Zellenphon. Mit grünem Marker arbeitet sich die Lehrerin durch die „Inklusion von innen“ und droht mit sonderpädagogischer Geiselhaft. Im Zugfenster erscheint meine Terrasse.

Ausgerechnet während dem vielleicht wichtigsten Fussballspiel der Schweiz findet die Generalversammlung der Genossenschaft pro Litteris statt (die Urheberrechtsgesellschaft, die auch von der Zürcher Bildungsdirektion Gebühren einzieht, für Kopierautomaten, das Computernetz, den Pressespiegel, Leerdatenträger). Warnleuchte. Ausrechnen konnte dies niemand, denn die Daten der Europäischen Meisterschaft waren in der Planung des Vorstandes und der Geschäftsleitung kein Thema. Die Koinzidenz der Ereignisse und damit der logische Ausschluss, beiden Ereignissen beizuwohnen, harrte der kreativen Verwirklichung, die sich unweigerlich und grundlos einstellen würde. Ein wahres „Entweder – Oder“, wie der Titel des ersten Werkes von Sørensen Kierkegaard, in dem er die Liebe und die Ehe unter ästhetischen und ethischen Gesichtspunkten analysiert und in einer dialogischen Geschichte integriert. Der Band enthält die Ich-Erzählung von Johannes, ein dänischer Don Giovanni, der die Angebetete ehelicht und dann dazu bringt, die Scheidung zu wollen, weil aus ästhetischen Gründen die reine Liebe ohne Ehe ist. Darauf folgt die briefliche Argumentation des ethischen Ehemannes Wilhelm, der gegenüber Johannes ästhetische Argumente für die Ehe ausbreitet. Kierkegaard gab das Werk als Viktor Eremitus (der siegreiche Einsiedler, der glückliche Single) heraus. Viktor hat die unterschiedlichen Teile des Buches in einem gekauften Möbel gefunden, wie er im Vorwort verrät. Johannes gibt seinerseits an, das entscheidende „Tagebuch eines Verführers“ nicht selbst verfasst zu haben. Im Nachwort äussert Viktor seine Vermutung, dass Johannes dessen Autor sei. Eine Interpretation des Buches ist schwierig, weil eine Wertung der widersprüchlichen Positionen durch den Autor fehlt. Zwei Jahre vor der Publikation seines Textes hat Kierkegaard die Verlobung mit der vierzehnjährigen Regine Olsen aufgelöst, weil  er zum Schluss gekommen war, dass es nicht in seiner Macht stünde, sie glücklich zu machen. Der dänische Originaltitel lautet „Enten – Eller“. Im Fussball gibt es die Ethik-Kommission, in der Pro Litteris die Kunstkommission.

Damit die Kreativität zu ihrem Recht kommt – so ein Slogan der Pro Litteris, der grössten der fünf Urhheberrechtsgesellschaften – braucht es natürlich Juristen. Präsident und der fast neue Direktor sind solche. Wir haben es hier mit dem eidgenössischen Amt für geistiges Eigentum zu tun, die Pro Litteris beaufsichtigt und vorschlägt, mehr zu kontrollieren und neu die Kosten für die vermehrte Kontrolltätigkeit direkt Pro Litteris zu belasten. Die Vizedirektorin hat 28 Bundesordner zur Prüfung eingereicht. Genau, auch dieser Text besagt nichts und genügt sich selbst, weil er über sich hinausweist. Der Bieler Stapi – natürli Sozi – erläuterte der Versammlung, dass See, Flüsse und Kanäle dem örtlichen Leben Ruhe und Qualität bescheren. Den Brexit wollte er der TV-Arena überlassen, stolperte aber über die Europäische Juni Juni Junion wie seinerzeit das Appenzeller Mostbröckli über das Pü Pü Pündnerfleisch. Dann wurden die verstorbenen Genossenschaftsmitglieder benannt, Arno Grün, Werner Morlang (die Wiederkunft von Robert Walser und Gerhard Meier!), Dante Andrea Franzetti, dann machte ich weitere 25 Striche. Alle erhoben sich. Ich blieb sitzen, aus Respekt vor religiösen Ritualen und weil ich ja vorgealterte Beine haben könnte, und schätzte die Zeitdauer, wie ich das in der Schule als Übung zur Verbesserung meiner inneren Sicherheit und Sebstkompetenz praktiziert hatte. Die Nachspielzeit der Dichter dauerte eine lange Schweigeminute, in der die Blicke gesenkt blieben. Es war den Teilnehmern nicht anzusehen, ob sie vor dem eigenen oder einem fremden Grab standen. Der juristische Kopf der Schweizer Urheber führt Musterprozesse zur Klärung von Urheberrechtsfragen, das gehört zum Kerngeschäft. Es braucht auch EU-Rechtsspezialisten, denn in Belgien ist auf Grund der europäischen Regelung der dortigen Schwestergesellschaft verboten worden, Urheberrechtsentschädigungen an die Verlage auszuschütten, was dem Pro Litteris-Präsident Men Haupt (welch wegweisender Name, der stammt aus der Verlegerfamilie Paul Haupt in Bern) zuwider ist.

Am Bundesgericht ist ein interner Fall hängig. Ehrlich: Erich Hefti hat sich schon heftig bedient an diesen Urheberrechtsgeldern. Vielleicht muss der ehemalige Direktor etwas Kleines zurückzahlen, gegen den Willen der heute Verantwortlichen. Die aktuelle Gesetzgebung spült rund 30 Millionen in die Kasse der Pro Litteris. Allerdings bedingt das Ausgaben von fast einer Million für das Inkasso, weil nicht alle ihrer Zahlungspflicht freiwillig und rechtzeitig nachkommen. Und dann kommt die trickreiche Verteilung der Gelder an die über 10’000 Mitglieder, das verschlingt dann mehr als ein Fünftel. Um einen ebensolchen Fünftel sollen nun die Verwaltungskosten gesenkt werden, und das Ziel ist in kurzer Zeit beinahe erreicht. Die Mitgliederzeitschrift und Kunstprodukt Gazetta – der Altlinke Alexander J. Seiler und eine Studienkollegin konnten sich damit austoben – wurde eingestellt. Und die Reisekosten an die Generalversammlung, die bisher allen interessierten Mitgliedern gemäss den vollen Tarifen des öffentlichen Verkehrs vergütet wurden, gekürzt: Neu gibt es einen Gutschein, der am Bahnschalter gegen ein Bahnbillet 2. Klasse eingetauscht werden kann. Damit konnte man die Ausgaben für die An- und Rückreise auf fast einen Drittel senken, handelte sich aber ein neues Dauertraktandum der Generalversammlung ein. Den Spezial- und Einzelfällen versucht das neue Regime mit zwei Formularen Herr zu werden, welche die Übernahme von reglementarisch nicht vorgesehenen Kosten wie Autofahrten, Begleitpersonen oder Drittfahrkosten erlauben, wenn dazu eine medizinische Expertise vorliegt. Darauf entgegnete eine selbstbekennende Sehbehinderte, die vorgängig den Reise-Check als für Sehbehinderte unzumutbare Abwicklungsform der Reisespesen geisselte, dass sie auf ihre Reisespesen verzichten werde, wenn die anderen Gegner der neuen Regelung leer ausgehen würden. (Ich hatte kein Problem mit dem Check, obwohl ich ihn auf Grund der Aufschrift „Gültig für Hin- und Rückreise“ für eine Fahrkarte hielt. Den Schaffner begrüsste ich mit den Worten: „Ich habe Ihre Ausführung über den Unterschied von Check und Billet, die sie der Dame drei Abteil weiter vorne erteilt haben, bereits zur Kenntnis genommen. Ich erlag einem sprachlichen Kurzschluss, entschuldigen Sie mich bitte.“ „Gehen Sie an den Schalter in Biu“ (Schreibweise korrekt). „Ja“). Der Präsident liess alle reden und fragte nach, ob noch jemand reden wolle, obwohl er eingangs berichtet hatte, dass sich nicht wenige gemeldet hätten, die der Meinung seien, dass darüber genug geredet worden sei.

Ich versuche mich an nicht performativem Slam. Echt-Zeit-Text. Wenn Du das liest, treffen sich mein Geist und Dein Geist. Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich viele Leser abgehängt habe. Ich habe mich nun dazu entschlossen, das Wetter dafür verantwortlich zu machen. Bei schönem Wetter liest man nicht, schon gar nicht über Wasserleichen. Sprache ist das Überschiessende, das künstliche im Leben, das wir selber produzieren. Das Leben selbst ist wortlos. Oder das biblische Am-Anfang-war-das-Wort ist das Leben. Oder was dazwischen, wie meist (Jetzt hat  der Verfasser wieder einmal etwas viel von sich gegeben, ohne was dazuzulernen – d. Hrsg.). „Könnte das Buffet noch etwas bescheidener gestaltet werden angesichts des weltweit verbreiteten Hungerleidens?“ lautete dann die nächste Herausforderung an die Genossenschaftsführung, Die satte Beteuerung, dass die evaluierten Sparmassnahmen auch im Food-bereich bereits umgesetzt seien, stellte auch den letzten Skeptiker zufrieden und schmälerte den kollegialen Appetit nicht. Nach Rauchpause und gedrängtem Anstehen überholte ich die Warteschlange und verköstigte mich erst mal mit etwas warmer Hauptspeise. Lachs und Roast-Beef dann zum Hauptgang. Der Kulturpreis ging an den greisen Markus Werner, dessen Figuren barocke Weltverdammer sind. Werner („Das Unvermögen, alleine zu sein, heisst kommunikative Kompetenz“) vergibt den Förderpreis an Christoph Simon, Der stellt sich im unverschämt hellen Konfirmandenanzug, mit weissem Hemd und schmaler roter Krawatte, ans Pult und weint sich vor dem undurchschaubaren Alten-Publikum in grosser Bescheidenheit aus. Der Slam-Meister verschwindet rasch nach Ende der moderierten Sequenz der Generalversammlung und kurz nach mir, der ich erst mal eine rauche, zieht sich den 80er-Jahre-Schlips vom Hals und stellt sich beim Restaurant vis-à-vis vor den Bildschirm.

Das statistisch voraussehbare Drama gegen Polen erlebte ich inmitten einer riesigen Ausländerbande, die Schweizer Leibchen trugen und unter wolkenverhangenem Himmel „Sommer“ schrien. In der Altstadt – nach einem Spaziergang am See und entlang der Kanäle und Quaianlagen – überlegte ich mir, ob ich nach Biel ziehen sollte, da an bester Lage eine Dreieinhalbzimmerwohnung für Tausend zu haben ist. Für Internet-Werke kriegen die Urheber nichts, da ist man einfach noch nicht so weit. Am Bieler Literaturinstitut untersucht man verschiedene Autorinstanzen. Copy-paste geschieht nicht am gebührenpflichtigen Kopiergerät. Fliessende Grenzen zwischen literarischem Schaffen und digitalem Littering. Historische Festigkeit in der Uhrenstadt: Gusseisensitzbänke, Eisenzäune, Gitter, Gartenlauben. Über allem das Grün der Baumkronen, im Herzen die Elfenau. Der Bilderbuchknastbruder schaut wehmütig über das Kanalwasser an die eingewachsene Gefängnismauer, bekrönt mit dichten Stacheldrahtrollen. Die grosse Dornenkrone. Bildverarbeitung von Ausgangstexten: Induktive Bildung von thematischen Clustern und Kategorien, dann Neugestaltung von Mustern durch Zufall und Abstraktion. Den Text lesen und neu interpretieren. Der wahre Urheber ist der Leser. Das Wort wird wahr.

Aljoscha auf Hiddensee

Kommerziell erfolgreich war Feeling B (B steht für Berlin) zu keinem Zeitpunkt. Kopf der DDR-Punk-Band war Aljoscha Rompe, sein anarchischer Gesang und sein wildes Leben verbreiteten im realsozialistischen Untergrund den unvergleichlichen Geschmack der grossen Freiheit. Aljoscha spielte mit den Teenagern Landers und Lorenz, die später als Rammstein Metallparty feiern werden. Aljoscha spielte in den bewegten Sommern der 80er-Jahre auf unbewilligten Strandfeten auf Hiddensee. Er starb um die Jahrtausendwende in seinem Berliner Wohnwagen, an Erkältung. Dieser Aljoscha ist das Kind eines Schweizer Schauspielers, gezeugt in Zürich zum Kriegsende, und einer Deutschen, die kurz darauf mit ihrem Vater, Basler Jurist und Mitbegründer der Partei der Arbeit, in die Sowjetzone umzog und Robert Rompe als Stiefvater erwählte. Der in Petersburg geborene Physiker engagierte sich im Widerstand gegen die Nationalsozialisten und erlebte nach dem Einmarsch der Sowjets in Berlin eine steile Karriere als einflussreichster Wissenschaftspolitiker und ZK-Mitglied der SED. Anfang der 50er-Jahre verlor er alle politischen Ämter, weil er im Kontakt mit Noel Field gestanden hatte, wurde aber nach Stalins Tod vollständig rehabilitiert. Der Stiefsohn Aljoscha erfuhr zufällig von seinem leiblichen Vater, als aus der amtlichen Schweiz dessen Tod vermeldet wurde. Darauf machte er als 30-Jähriger sein Schweizer Bürgerrecht geltend und trug darauf zwei Pässe auf sich, was für einen Punk nur Vorteile hat. Der Stiefvater besass ein Haus in Kloster auf Hiddensee. Wenige Jahre nach dem Mauerfall wurde er auf dem Inselfriedhof begraben.

Zwei Tage nach dem Ende der Schlacht um Berlin und dem Selbstmord von Hitler und Goebbels betrat russisches Militär das Künstlerrefugium Hiddensee. In der jüngeren Steinzeit lümmelten sich Germanen auf dem idyllischen Eiland, gefolgt von Slaven, die dann im Spätmittelalter christianisiert wurden und unter die dänische Krone kamen. Der dänische König stiftete ein Zisterzienserkloster, Nikolaikamp genannt, nach dem Schutzpatron der Seefahrer. Das Dörfchen Kloster mit dem Gasthaus Klausner ist das Herz des Seepferdchens in der aussüssenden Ostsee. Die Sowjets lösten den Gutshof auf und schufen 18 Neubauernstellen, die dann später von den Einheitssozialisten wieder zu einer LPG zusammengelegt wurden. Die Insel ist einer steten Strömung aus Westen ausgesetzt, so dass die Kliffkante der Dornbusch genannten Norderhebung jedes Jahr 30 cm schwindet, dafür im Osten sandige Landzungen um ein Dutzendfaches wachsen. Die beiden Sandhaken, die ikonographisch den Kopf und die spitze Schnauze des Seepferdchens bilden, heissen der Alte und der Neue Bessin. Der Neue entstand um 1900  und stand von den sommerurlaubenden Künstlern und Freikörperkulturellen unter Beobachtung. Im Sommer kann man den Rücken des wachsenden Sandwals barfuss begehen. Dafür spaziert man am heute musealen Sommerhaus von Gerhard Hauptmann entlang, der fast 50 Jahre nach dem Aufstand der schlesischen Fabrikhaus-Weber das damalige Drama auf die Theaterbühne brachte. In der Weimarer Republik galt er daher als Sozialdemokrat und er wurde bei den Sowjets verehrt. Sein Beitrittsgesuch zur NSDAP wurde 1933 abgelehnt – wahrscheinlich wusste Gerhard nichts von der Aufnahmesperre, welche die Nationalsozialisten kurz nach der Machtergreifung erliessen, um trotz Ansturm von Mitläufern Herr in der eigenen nationalsozialistischen Einheitspartei zu bleiben. Hauptmann las Hitlers mein Kampf, strich sich vieles an und kritzelte die Seiten voll, legte das Büchlein beiseite und kümmerte sich wieder um sein Leben als Literat und ausgelassener Lebemann.

Hiddensee bleibt auch als Teil der DDR Kult wie im Westen Sylt. Die Naturidylle bleibt frei von Kraftfahrzeugen, selbst die bewaffneten Grenzpatrouillen sind auf dem Fahrrad unterwegs. Die Pensionen und Wirtshäuser wurden 1953 unter staatliche Verwaltung gestellt und von Berlin Hauptstadt aus geleitet. Verschiedene Gebäude und Betriebe wurden enteignet und als Volkseigentum aus der fernen Zentrale geführt. Die Fischer wurden in einer staatlichen Fischereiproduktionsgenossenschaft kollektiviert und erzielten prompt Rationalisierungsfortschritte. Die Insel blieb eine Nische für Aussteiger und Andersdenkende sowie Liebhaber rustikaler Sättigung. Die Inselbevölkerung wurde geprägt durch die wenigen Einheimischen und die alternativen Saisonkräfte sowie die Grenzwacht, die bisweilen auch zum Freikörpersonnenbad kam. Die Punks wurden im Abwasch vor den Tagestouristen versteckt. Im Service nicht selten Literaten und Professoren, welche Wortwechsel mit den angeschwemmten Terrassenhockern suchten. Schiffbrüchige nennt Lutz Seiler die Hilfsarbeiter, welche sich im Sommer als Saisonkräfte (DDR-Deutsch: SKs, sprich Esskaas) gleichzeitig verdingten und kommunitierten, indem sie eine verschworene Solidargemeinschaft wurden. Jedes Jahr verschwanden einige von der Insel Richtung Dänemark oder Schweden, fünfzehn tauchten spurlos als Wasserleiche auf. Der Baufacharbeiter Lutz Seiler, der im Wehrdienst seine Liebe zur Literatur entdeckte und dann das universitäre Studium der Literatur aufnahm, arbeitete im Wendejahr 1989 während der Semesterferien im Klausner als Saisonkraft.

Es kann frustrierend sein, wenn man alles genau mitverfolgen möchte, aber man ist Säugling und ziemlich unbeweglich. Sieben Jahre nach der Wende und sieben Monate nach der Geburt meines Sohnes war ich als Kurzurlauber da auf Hiddensee. Auch ich habe mich sofort in die Insel verliebt. Thilo wahrscheinlich auch, allerdings ohne bewusste Erinnerung. Er lernte sitzen und überschaute die halbe Insel aus unserem mit Schilf gedeckten Pavillon, der zur Verfügung der damaligen Ehefrau meines jenerzeitigen Lebensabschnittsschwiegervaters befand und uns überlassen wurde. Thilos Mutter, der ich in Petersburg an einer Vodka-Punk-Party begenet bin, legte tagsüber Abschlussprüfungen an der Uni Greifswald ab. Ich überblickte mit unserem Buddha-Sohn das Inselglück. Auf der Speisekarte des Klausner prangt immer noch das funktionskulinarische Angebot der Sättigungsbeilage. Die Freiheit rauscht leise und der Sand rieselt bis das Körnchen schwimmt. Das Licht als offenes Tor zum Himmel, wie es Caspar David Friedrich mit seinen Kreidefelsen auf Rügen malerisch dramatisierte. Die Lichtmagie des tatkräftigen Mondes in der Nacht. Neumondsichtung. Ich habe heute mit einem Muslim geredet, der den Ramadan mit seinem alkoholfreien Freidenkermonat zusammengelegt hat und wusste, dass er ziemlich genau in der Mitte seines flagelanttischen Monats stand, aber gleichzeitig daran glaubte, dass der Vollmond vor etwa zwei Wochen datierte. Meiner aus eigener Überzeugung gewonnenen Ansicht, dass der Ramadan von Neumond zu Neumond dauere, konnte er nichts abgewinnen.

Im vorletzten Herbst erhielt Lutz Seiler den deutschen Buchpreis für seinen Romanerstling Kruso. Bislang hatte er vor allem Lyrik publiziert. Seine Sprache und seine Poetologie haben eine Qualität, wie sie in Romanen selten sind. Der Plot ist gut, weil er das persönliche Verhältnis zu Realität festhält. Er schildert aus der Perspektive von Ed, der viele Fakten und Erlebnisse mit seinem Autor teilt, das Leben als Gastro-Saisonkraft im Klausner und die Begegnung mit Alexander Krusowitsch, genannt Aljoscha, Anführer der Saisonkräfte auf Hiddensee im Sinne eines Kommunarden, der die Rituale (ewige Suppe, Waschung, der buddhistische Baum, Vergabe) vollzieht und alle ziehen mit – und ebenfalls vieles aufweist, was den Autor umtreibt. Eine Art Untergrund zur Anhäufung innerer Freiheit, eine geistige Gemeinschaft, irgendetwas in dem Sinn; ohne Verletzung der Grenzen, ohne Flucht, ohne Ertrinken. Keine kleine Illusion, eher eine ausgewachsene Wahnvorstellung, lässt Seiler eine seiner Figuren kommentieren. Im Epilog erzählt Edgar, wie er am Grab von Aljoscha Krusowitsch den Verstorbenen um Erlaubnis bittet, sich um den Kollegen Speiche zu kümmern. Speiche hatte als Vorgänger von Ed im Klausner gearbeitet, Ed konnte in Dänemark die Wasserleiche aufgrund eines Stofffetzens und des Gebisses identifizieren. Speiche war Heimkind. Ed musste zu ihm schauen. Er holte Speiches drei zurückgelassene Sachen aus dem verlassenen Klausner und legte sie in Dänemark auf sein Grab. Die Krönung der inneren Freiheit in ihrem Ruhezustand.

Die beste aller möglichen Welten

Draussen regnet es ununterbrochen. Gutes Wetter, für die Triebe, das Blätterwerk und die heranreifenden Früchte. Unter dem Schirm lächelt der Bauer am Sonntag: Grüssgott, herrlich, hier zu spazieren! Der Liberalsozialist Fritz Schwarz, von dem neulich wieder mal zu lesen war, wuchs im wahren Glauben auf. Wahrer Glaube ist, hatte er im Katechismus gelernt, nicht bloss ein Fürwahrhalten all dessen, was der christliche Gott in seinem Wort hat geoffenbaret, sondern vielmehr ein gläubiges Vertrauen, Vertrauen auf eine Führung. Das habe nichts Fatalistisches, berichtet Schwarz, sondern sei eher ein „kräftiges und zuversichtliches Sich wehren“, ganz nach dem Motto: Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen. Im Emmental hatte man einen gewissen Wohlstand zu verteidigen und die Bauern zwangen wenige Jahre nach Leibniz‘ Geburt die Stadtberner Patrizier in die Knie, doch die eidgenössische Tagsatzung schickte dann Militär los. Die Emmentaler hielten weiterhin zu Luther und beteten, als nütze Arbeit nichts, und arbeiteten, als nütze Beten nichts. Die Landbevölkerung trug Holz, aber liess den lieben Gott kochen. Das geht heute nicht mehr. Ich habe eine Kiste Feuerholz nach Hause getragen und neben den Grill gestellt, aber kochen musste ich dann irgendwann doch selber. Wichtig sei, fasste Fritz mit einem Bibelvers zusammen, dass man den wahren Glauben bewahre, den Glauben, der durch die Liebe tätig ist. Egal, ob beschnitten oder unbeschnitten, wird im Galaterbrief, 5. Kapitel, vorangestellt, religions- und sexualpolitisch völlig korrekt.

Angesichts der Unfassbarkeit, ja Absurdität des eigenen Daseins kann man in gutem Glauben Atheist sein, weil es einfach unlogisch und darum logisch unwahr ist, einen allmächtigen und allgütigen Gott zu postulieren. Mein Mantra gegen die existentielle Erfahrung der pubertären Hirnumbauten fiel mir experimentell zu: „Gegen die Absurdität im Kopf nimm Butter und Gugelhopf.“ Mich hat niemand gefragt, ob ich gezeugt oder geboren werden würden wolle. Nachwuchs zu zeugen ist unverantwortlich und zynisch. Es gibt keinerlei Argumente für das Leben, schrieb Cioran, Wir reden hier von einer verfehlten Schöpfung, vom Nachteil, geboren zu sein, vom prinzipiellem Zerfall. Aber irgendwie spürt man noch den Sohn des jüdisch-orthodoxen Priesters: „Ohne den von Gott gegebenen Impuls würde das Bedürfnis, die Kette der Wesen zu verlängern, nicht bestehen, noch auch die Notwendigkeit, die Umtriebe des Fleisches zu unterschreiben. Jedes Gebären ist verdächtig; die Engel sind dazu glücklicherweise unfähig.“ Susan Sontag sieht in Cioran den „Nietzsche unserer Tage“. Cioran selbst hielt Nietzsche schliesslich für naiv und wenig mutig. Pessimisten sind auf den Vorteil aus, nur positive Überraschungen zu erleben. Oder zumindest keine Enttäuschungen. Statistisch ist allerdings offensichtlich, dass die Erlebnisergebnisse mit den entsprechenden Erwartungshaltungen stark positiv korrelieren. Lassen wir Psychologie und Biochemie aussen vor. Niemand leugnet das Leiden in und an der Welt. Nach den antiken Gesetzen der Logik ist es offensichtlich, dass es den einen allmächtigen und allgütigen Gott nicht gibt, denn seine unendliche Güte und sein mächtiger Wille würden logischerweise das Übel von der Welt pusten. Dieser antike Atheismus nahm nach Leibniz Fahrt auf und gehört heute zum abendländischen Allgemeinwissen.

Leibniz stellte diese Argumentation auf den Kopf, verteidigte die Idee der Allmacht und Allgüte Gottes als Axiom und führte so in seinem Buch ‚Theodizee‘ den Beweis, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben. Die Textsammlung war eine Auftragsarbeit für die Kurfürstin von Brandenburg, die um den Universalgelehrten buhlte. Leibniz hielt sich an alle Regeln der logischen Vernunft und fand für das reale Übel in der Welt auch argumentative Notwendigkeit und kausale Erklärung. Ich hege die Vermutung, dass Leibniz mit seinem Werklein die Adressatin zufriedenstellen wollte, in dem er sich ihrem personalisierten Gottesbild näherte und gleichzeitig die ganze Partitur von Syllogismen und deren schlüssiger Verknüpfung vorführte. In seinen metaphysischen Texten erscheint Gott als Urmonade, Die Monadologie, die Lehre vom Einen verbindet Gott mit allem, denn in allem ist eine Monade und jede Monade ist von Gott. Die Monade ist die kleinste Substanz, kleiner als das Atom. Die Monade ist des Körpers Vorstellung. Jede Monade ist in sich und spiegelt gleichzeitig das ganze Universum. Alle sind sie voneinander verschieden. Alle sind sie in Aristoteles‘ Sinn Entelechien, die ihre Ziele in sich haben, das Prinzip der Selbstverwirklichung. Theologie und Philosophie waren nur Denkaufgaben, Leibniz kümmerte sich um vieles andere. Er erfand die Staffelwalzenrechenmaschine, welche Multiplikationen und Divisionen ausführen konnte. Er setzte Gott als 1 und Nichts als 0 und begann damit zu rechnen: Er entwickelte die operativen Grundlagen des Binärsystems als universaler Computersprache. Er hat herausgefunden, dass die unendliche Rechnung mit Brüchen mit ungeraden Nennern mit alternierenden Subtraktion und Addition (1 – 1/3 + 1/5 – 1/7 + 1/9 …) gleich π/4 ist. Schön, oder? Leibniz wusste nicht, dass man das in Indien schon seit drei Jahrhunderten wusste. Leibniz hat die boolsche Verbandsordnung entdeckt und damit die heutige Suchmaschinenlogik. Er ist Vater der Modallogik, der Integral- und Differentialrechnung, also der Infinitesimalrechnung. Er machte paläontologische, historische, philologische Entdeckungen und Beweisführungen, entwickelte das Förderband und die Belüftungsanlage für den Bergbau und nahm die Evolutionstheorie vorneweg. Mit 26 Jahren schlug er dem französischen Sonnenkönig eine Art Kreuzzug gegen Ägypten vor, um ihn von seinen europäischen Kriegsabsichten abzubringen. Ludwig XIV. lehnte ab, aber mehr als hundert Jahre später setzte Napoleon den Plan als wissenschaftlicher Feldzug nach und gegen Ägypten um. Ein kluger Kopf der Frühaufklärung, er gilt heute als letztes Universalgenie. So möchte man ihm gerne Glauben schenken. Vielleicht ist unsere Welt doch die beste aller möglichen Welten, sie besitzt einen unermesslichen Reichtum von Momenten, sie prangt mit der grösstmöglichen Mannigfaltigkeit. Es ist die bestmögliche Welt, in der wir leben, nicht ihr bestmöglicher Zustand. Die Welt bietet unendliche Möglichkeiten, bietet auch die bestmögliche Möglichkeit und ist deshalb die bestmögliche Welt.

Sr. Jessica

Sie selbst nennt einen anderen Namen, den sie bei der Geburt als Zusatz bekam: Einen männlichen Vornamen, der auf einen vielleicht aus Irland stammenden Wandermönch zurückgeht, der den süddeutschen Raum christianisierte und der durch einen Skirennfahrer aus dem Wallis erneut in die Welt ging. Schwester Jessica passt besser: Der unbestreitbar weibliche Vorname stammt aus der hebräischen Bibel und heisst so viel wie „Gott schaut zu dir“. Immerhin hat sie ein mirables Mirakel erlebt. Jessica erinnert auch an die Interjektion Jesses! oder Jessesgott!, mit der noch immer Verwunderung, Erstaunen oder Bestürzung ausgedrückt wird. Die in der geschlechterverwirrten Namensfrage mitschwingende sexuelle Konnotation bleibt erhalten, wenn wir die tschechische Pornodarstellerin Jessica May mitdenken.

Das Wunder fusst im Unglück. Als Jessica dreizehn Jahre alt war, starben innert kurzer Frist Mutter und Vater, Nierenschrumpfung und Lungenfellentzündung. Am Krankenbett der Mutter schwörte sie, später ins Kloster zu gehen. Ihre Pubertät wurde durch die Verantwortung gezeichnet, die sie als Vollwaise für ihre drei jüngeren Kinder zu übernehmen gewillt war. Jessicas Verwandtschaft tauchte im Trauerhaushalt auf, durchwühlte alle Schubladen und beriet vor versammelter Kinderschar über deren Schicksal. Da fiel der Vorschlag, die „Goofen“ in ein Waisenhaus zu geben, eine Institution, die für derartige Fälle die notwendige Fürsorge und Vormundschaft bieten könne. Doch für Jessica hörte sich das an wie die Androhung von Abschiebehaft und sie wandte sich an den Pfarrer, der ihr auf der Stelle versprach, dass weder Jessica noch deren Geschwister gegen ihren Willen in ein Waisenhaus eingewiesen würden.

Jessica übernahm gemäss ihrem Altersrang das Kommando über die verwaiste Geschwistergemeinschaft. Vor allem die jüngste Schwester hat ihr Fett abgekriegt und musste als liebenswürdige Darstellerin jene Rolle spielen, die ihr von Jessica zugewiesen wurde, und jene Worte sprechen, welche ihr vorgesagt wurden. Sie übernahm den Part, die dem Pfarrer zugeneigte Geburtshelferin als Ersatzmutter ins Haus zu holen, nachdem der Pfarrer die Vormundschaft wie versprochen persönlich übernommen hatte, weil die Kinderschar unter Jessicas Anleitung alle Verwandten auf der Liste gestrichen hatte, aus der die Kinder einen Vormund auswählen durften. Jessica dankte der jüngsten Schwester, indem sie ihr bei ihrem Klostereintritt das Bankbüchlein mit dem finanziellen Erbe abtrat, um nach der soeben bestandenen Matur ein Studium angehen zu können. Jessica hatte bis dahin als Kindergärtnerin gejobbt, auch im Ausland. In Frankreich hatte sie den Entschluss erneuert, so bald wie möglich für immer im Kloster zu leben, nachdem sie in einer Don Bosco-Einrichtung algerische und ungarische Waisenkinder betreut hatte. Ihr Vormund aber, den sie in ihre Pläne einweihte, verbot ihr diesen Schritt, weil er als Pfarrer um seinen Ruf als unabhängiger Erzieher fürchtete: „Wenn es eine Berufung ist, so gehst Du auch in zehn Jahren noch in’s Kloster“.

Ihre erste Stelle als Kindergärtnerin trat sie im heimatlichen, aber stockprotestantischen Sarganserland an. Sie wurde einstimmig gewählt, unterrichtete 50 Buben und bekam an katholischen Feiertagen frei. Die zweite Arbeitsstelle war beim Rheinfall, wo Hans um sie warb und Jessica bekniete. Mehr als einen Handkuss gab es aber nicht, und beim Tango informierte sie Hans über ihre Absicht, in ein Kloster einzutreten. Sie reiste ab, vorerst ins Ausland. Später sass sie an einer Kirchenfeier zufällig neben Hans. Er hatte einen Rausch, voll besoffen. „Warum bist Du betrunken?“ – „Warum bist Du weggegangen?“. Noch viel später trifft sie Hans noch einmal, nun als Tagungs-Referent mit Doktortitel. „Grüezi Herr Brunnschwyler“ – „Den Tonfall kenn‘ ich.“ Beide haben die gleiche Mission: Sie unterrichten Pädagogik und Kinderpsychologie. Aber Jessica ist gesundheitlich angeschlagen, sie geht am Stock. Genau zehn Jahre nach der Anordnung des Pfarrers besucht sie ihren Vormund. Dieser lächelt und bemerkt: „Früher wolltest du doch ins Kloster?“. „Ja, das will ich immer noch“. Der Pfarrer sucht in seinen Papieren und zeigt ihr einen Prospekt von St. Ursula in Brig. „Genau da habe ich mich angemeldet“.

Die jüngste Schwester berichtete Jessica, dass sie im Internat so viel gebetet habe, dass das locker für den Rest des Lebens reiche, begleitete sie ins Kloster und hat sich aufgeführt wie auf einer Beerdigung. Der Bruder meinte, ins Kloster komme man nur mit einem psychiatrischen Gutachten. Kurz nach dem Klostereintritt, Jessica war unterdessen Ende zwanzig, versuchte sie, Jesus in der berühmten Leidensgeschichte zu folgen. Im ersten Winter litt sie an Schwellungen, Frostbeulen und Vereiterungen. Dazu kam die Leichenfinger-Krankheit, Polyarthritis, der rechte Arm stirbt langsam ab. Sie wird behandelt mit Spritzen ins Zentralnervensystem, chemischen Präparaten, Operationen, Nervendurchbrennungen ohne Narkose. „Ich will diese Behandlungen nicht mehr“. Der Arzt entgegnet: „Ich übernehme keine Verantwortung. Ich muss das tun“. Jessica zu Gott: „Wenn Du mein Leiden brauchst für Jemand oder Etwas, kannst Du es haben.“ Ergänzen, was an Leiden Christi noch fehlt. Noch schlimmer wird’s. „So habe ich das nicht gemeint, sterben will ich nicht“.

Nach zwanzigjähriger Krankheitsgeschichte wiegt Jessica keine 30 Kilo mehr. Willentlich kann Jessica nichts mehr steuern. Die Spezialärzte im Insel-Spital strecken ihre medizinischen Instrumente und bitten die Ursulinen, Schwester Jessica für den letzten Schritt zu sich zu nehmen. Soll der oberste Chef schauen. In Brig hängten ihr die Therapeutinnen Gewichte an die Glieder, um den Körper aus der Embryostellung zu zwingen. Jessica hadert und zweifelt, ob es richtig war, den lieben Gott zu bitten, den klaren Verstand nicht anzutasten. Gottvater und Gottmutter haben ein Gestürm, und die kleine Schwester Jessica stürmt auch. Dann packt sie Jemand in der Nacht, schüttelt sie kräftig wie einen verstaubten Teppich und kehrt sie. Jessica denkt im tiefen Schlaf, das ist nun die Passage, vor der ich mich immer gefürchtet habe. Herrgott, wenn Du mir noch Zeit zu leben gibst, so gehört sie Dir. Am morgen stellt sie fest, dass sie die Hände bewegen kann. Sie greift sich mit der Hand von hinten über den Kopf und staunt. Frisch regenerierte Zehennägel, wie Infant Jesses. Sie kann stehen. Sie kann gehen. Sie ist völlig gesund.

Das Wunder ist geschehen. Mehr als ein Handkuss gibt’s trotzdem nicht. Ist das die Totenbesserung vor dem endgültigen Aus? Der Geiltrieb der todgeweihten Natur? Furcht und Schrecken überschatten die Freude. Sie vergisst, dass sie die zusätzliche Lebenszeit Gott versprochen hat, und bewundert ihre Zehennägel. Das geschah vor bald dreissig Jahren. Heute ist Sr. Jessica immer noch gesund, psychisch wohlauf und ihrer Seele geht es den Umständen entsprechend ganz gut.

Theogonie, Troja: Schrott!

Die Geschichte von Gott ist die Geschichte der Menschwerdung als selbsterkennender Gottfindung oder als offensichtlicher Offenbarung – der Unterschied ist unentscheidbar, die Gegensätze werden zu einem Satz. Die vermeintliche Zweiheit ist das Eine. Das Subjekt verhält sich zum Objekt wie der Gedanke zum Gehirn. Geist ist ein physikalischer Zustand. Gott ist bei den Muselmenschen ein schwarzer Stein, wahrscheinlich vom Himmel gefallen. Meteoriten sind Morsezeichen aus dem astralen Frontallappen. Der auffälligste Meteorstrom heisst „die Perseiden“, weil er aus dem Sternbild des Perseus kommt, womit wir in der griechischen Mythologie bei einem Sohn von Gott Zeus sind, der aber eine Menschin zur Mutter hat. Ein Heros oder Held. Zeus war ein transkategorialer Sequenzhetero, in unserer abendländischen Ahnenreihe göttlichen Anfangs eine Schlüsselfigur der Menschwerdung.

Aber beginnen wir dort, wo das abendländische Denken, die Kunst, die Weisheit und die Liebe zur Weisheit herkommen. Athene, die Stadtgöttin von Athen und Schutzpatronin der Philosophie ist eine reine, unblutige Kopfgeburt. Zeus hat sie aus dem Kopf geboren, nachdem er seine Sexualpartnerin und Mutter von Athene verschlungen und verschluckt hatte, da ihm prophezeit wurde, der Nachwuchs würde Ärger bereiten. Zeus bekam Kopfschmerzen und als Gott fiel ihm nichts anderes ein, als Hephaistos zu rufen und ihn zu bitten, im den Kopf zu spalten, so dass das Übel entweichen könne. Aus dem aufgeschlagenen Schädel entschlüpfte Athene, in voller Rüstung, mit einem Wurfspeer bewaffnet und  heftige Kriegsrufe ausstossend. Mit dem Wurfspeer tötete sie versehentlich ihre Kampfspielpartnerin und Halbschwester Pallas, deren Name sie sich seither zugesellte. Athene wurde auf der Akropolis als Jungfrau und als Kriegerin verehrt. Sie ist die Schutzgöttin von Odysseus. Zeus‘ Schädel schloss sich wieder mit göttlicher Präzision, das Brummen und Hämmern im Kopf hatte sein Ende gefunden.

Am Anfang war das Chaos, der griechische Gegenbegriff zu Kosmos. Im Hebräischen entspricht dem Chaos das Tohuwabohu, in der deutschen Bibel heisst es später „wüst und leer“. Abkömmlinge des Chaos sind die Göttin der Erde, Gaia, die Finsternis Nyx, die Unterwelt Tartaros mit dem Gott der Unterwelt Erebos sowie der Gott der Liebe, Eros. Diese fünf sind zeitgleich aus dem Chaos entstanden. Gaia gebiert durch Eros den Himmel, Uranos, die Berge und das Meer, alles geschieht unbefleckt. Nyx und Erebos zeugen den luftigen Aither und Hemera, den Tag (kali mera, Griechenlandfreunde!). Uranos aus der Gaia zeugt dann mit der Gaja Titanen, Zyklopen und drei Hekatoncheiren, jeder von ihnen mit 50 Köpfen und 100 Händen. Da die Geschichte ziemlich dramatisch weitergeht, nehme ich an, dass sich Uranos und Gaia befleckt oder zumindest blutig vereint hatten. Göttlicher Inzest gebiert die Urgeschichte des Ödipus. Uranos will nichts wissen vom Nachwuchs und steckt seine Kinder in den Tartaros, doch Gaia stiftet den Titan Kronos an und drückt ihm das erste Metall, in Form einer Sense, in die Hand. Kronos entmannt auf ihren Rat seinen Vater, der neben Gaia nächtigt, mit der Sense und wirft das Glied ins Meer. Damit ist Kronos Herrscher der zweiten Göttergeneration. Aus dem Blut, das aus Uranos’ Glied auf Gaia fällt, entstehen die Giganten, die Erinnyen und Nymphen. Aus dem Samen des in den Pontos geschleuderten Gliedes wächst Aphrodite hervor. In Aphrodite, der Schaumgekrönten, bildet sich die himmlische Zeugungskraft zu dem vollkommenen Schönen. Sie war Auslöser des trojanischen Krieges, weil sie dem trojanischen Königssohn Paris die schöne Helena versprach.

Hesiod hat die Entstehungsgeschichte etwa sieben Jahrhunderte vor der christlichen Zeitrechnung in seiner Theogonie, von den Musen inspiriert, vorgetragen und aufgezeichnet. Diese älteste Quelle griechischer Literatur ist von Raoul Schrott neu übersetzt worden. In seinem Kommentar zeichnet Schrott den Transfer und die Assimilation der Musen und anderer Gottheiten aus dem assyrischen Raum ins griechische Böotien nach. Der Dichter und habilitierte Literaturwissenschafter Schrott hat das abendländische Bildungsbürgertum auf die Palme gebracht, als er an der Frankfurter Buchmesse 2008 seine eigene Ilias-Übersetzung vorstellte (in heutiger Sprache) und bemerkte, Homer sei kein schöpferischer Geist im westlichen Kleinasien gewesen, sondern ein griechischer Hofschreiber in Kilikien. Und Heinrich Schliemann habe am falschen Ort nach Troja gebuddelt, das echte UNESCO-Weltkulturerbe steht in Karatepe nahe der Nordost-Ecke unseres Meeres (hinreisen! Die Touristen bleiben im Irrtum). Die Geschichte der Ilias hat sind einige hundert Kilometer weiter östlich abgespielt, stellt Schrott fest. Das darf nicht wahr sein, dass wir und unsere Väter falsch unterrichtet worden sind, gesichertes abendländisches Wissen verhöhnt, unsere kulturelle Abstammung missachtet wird. Professoren der Archäologie, der Altphilologie und der Alt-Kulturgeschichte attestieren Raoul Schrott zwar unglaubliche Belesenheit und umfassende Kenntnisse der antiken Sprachen und Räume, können ihn nicht widerlegen, aber glauben ihm einfach nicht. Für das Abendland scheint Troja ein nachbiblischer Glaubenssatz und illusionärer Kulturschatz. Schrott ist eher zufällig auf das richtige Troja gestossen. Er hatte sich während der jahrelangen Übersetzungsarbeit an der Ilias mit neueren internationalen Veröffentlichungen der komparativen Literaturwissenschaft befasst und ist auf vielfache Bezüge zu assyrischen Texten und Verbindungen zur biblischen Genesis gestossen. Gräzisten und Assyriologen nehmen kaum Notiz voneinander, in der Literaturwissenschaft sind Okzident und Orient immer noch ideologisch und kulturell getrennt. Schrott hat dann einen Augenschein genommen und in Karatepe hunderte Details gefunden, die genau der Beschreibung von Troja und Umgebung entsprechen, aber im UNESCO-Troja gänzlich fehlen. Kein Zweifel also. Ich habe ein Interview mit Schrott vor Ort gesehen. Keinerlei Zweifel. Aber die Professoren werfen ihm vor, er sei etwas ausschweifend, mit argumentativen Zuspitzungen, einem Zug ins Schwärmerische und Spekulative. Ein Dichter eben, keiner von ihnen. Homer habe sich entmannen lassen, um den Posten als Schreiberling zu ergattern, meint dazu Schrott, was Eigenheiten seiner Erzählweise erkläre.

Hesiod und Homer bringen die ewig unsterblichen Götter und die Menschen zusammen, durch die Musen. Vernunft und Glaube bilden eine poetische Einheit. In dieser Zeit blühte das Denken der religiös-weltlichen Hochkulturen von China über Indien, Eurasien bis Südamerika. Gottesvorstellungen gewannen die Form von Literatur mit dem Potential zu heiligen Büchern. Karl Jaspers prägte für diese Zeit den Begriff Achsenzeit. Die Ewigkeit und die Zeit finden in Kronos ihren Ausdruck. Es geht nicht um die unaufhörliche Dauer, sondern um die Erfüllung des Augenblicks. „Eine Gewissheit vom Sein Gottes, mag sie noch so keimhaft und unfassbar sein, ist Voraussetzung, nicht Ergebnis des Philosophierens.“

Statt Mammon: Freistatt

Während dem zweiten Weltkrieg konnte Ruth dank guter schulischer Leistungen eine kaufmännische Lehrstelle in einer Druckerei antreten, nicht weit von ihrem Wohnort. Der lebhafte Betrieb umfasste auch eine Buchbinderei, einen Verlag, eine Versandlogistik, Redaktionsräume. Wenn der Fahrplan aus Termingründen am 1. Mai gedruckt werden musste, verdunkelte man die Fenster im Geschoss mit den Druckmaschinen, damit von der Strasse aus die Drucker nicht als Streikbrecher erkannt werden konnten. Der Betriebsgeist war patriarchalisch, aber recht gutmütig und liberal. Während der Kriegs- und Lehrjahre wurde Ruth jeweils für drei Wochen vom Staat zum Landdienst aufgeboten. Zweimal arbeitete sie als Magd bei armen Pächterfamilien, wurde wie alle anderen mit Kartoffeln ernährt, musste aber aus Platzgründen im nächstgelegenen Schulhaus in einem improvisierten Schlafsaal übernachten. Das dritte mal aber bestieg sie den Krautberg, nicht weit von ihrer väterlichen Heimat im Emmental, und begegnete den Familien Schwarz, die zwei benachbarte Höfe bewirtschafteten. Im Stöckli neben dem Hof wohnte während seiner Frei- und Ferientage der eindrückliche Bruder des Bauern, der in Ruths Lehrbetrieb als Redaktor der Zeitung „Freies Volk“, Nachfolgerin der „Freistatt“, ein- und ausging. Mit ihm, dem Fritz Schwarz, waren gelegentlich auch seine zweite Frau und ihre zwei gemeinsamen Kinder. So auch die Sekundarschülerin Ruth.

Nach der Schule besuchte diese Ruth eine Schauspielschule in London, lernte später Buchhändlerin und fand schliesslich ihre Berufung in ihrem selbsterfundenen Beruf als erste freie Presseagentin und Kulturvermittlerin. Ihre Mutter hatte ihren Beruf als Sekundarlehrerin aufgegeben, um bei den Verlagsarbeiten ihres Mannes mitzuhelfen, und so wuchs Ruth zwischen Büchern, Zeitschriften und Schreiberlingen auf. Erst war sie Mädchen für alles, dann Grand Dame für alle. Sie erhielt Dankesbriefe von Grössen aus Literatur, Theater, Musik und anderen Künsten, weil sie diese mit den Möglichkeiten der Kulturgesellschaft und des Kulturbetriebes zusammenbrachte sowie persönlich unterstützte. Diese Dankesbriefe und -karten steckte sie in einen Karton. Autographen von Mann, Mitscherlich, Meienberg. Kurz vor der Jahrhundertwende wurde ihr vom Kanton Zürich mit der höchsten kulturellen Auszeichnung, der goldenen Ehrenmedaille, für ihr Lebenswerk gedankt. Die Kartonschachtel öffnete Ruth wieder, als die Stadtzürcher Präsidialabteilung im Stadthaus zu ihrem 70. Geburtstag eine Ausstellung plante und vorschlug, ihr Lebens- und Netzwerk mit Exponaten aus ihrer Schachtel zu visualisieren. Ruth wurde vor der Häckel-Plastik im Irchelpark fotographiert, welche umherfliegende Bücher in Stein meisselt. Sie kannte jeden amtierenden Stadtpräsidenten persönlich und mein damaliger Chef durfte die Ausstellung eröffnen.

Nach der Ausstellung veröffentlichte der „Schweizer Buchhandel“ eine von Ruth unterzeichnete Einsendung. Die Aktivitäten und die Medienberichte hatten Ruth die Zusendung von Dutzenden hand- und autosignierter Büchern beschert, mit Begleitkarten, welche Bezug auf ihren Schachtelinhalt nahmen und auf ihre Promotion hofften. „Die Autoren waren mir ebenso unbekannt wie die Namen der Verlage“, fügte sie hinzu. Nachher kamen die Sammler, mit denen sie kaum eine gemeinsame Sprache fand. Drittens meldete sich eine Firma, welche Aufbewahrungssysteme für Autographen und dergleichen herstellt.  Etwas enttäuscht war sie auch, als ein Anrufer berichtete, dass er ebenfalls himmlische Heidelbeerkonfitüre zubereite, mit ihr etwas fachsimpelte, aber sich dann weigerte, ein Glas Konfitüre auszutauschen. Dafür hat sie die andere Ruth getroffen, die auf dem Krautberg im Landdienst war und in der Druckerei gearbeitet hatte, welche die Gedanken der Freiwirtschaft verbreitete. Sie schrieb ihr eine persönliche Widmung in den Ausstellungskatalog, ein Autograph im Autographenbuch, und metakommunizierte per Buchhandelsblatt die Ankündigung eines Telefonanrufes. Meine Mutter hat mir das alles gezeigt. Eine Urenkelin vom Krautberg-Hof schaut gelegentlich bei ihr vorbei. Im Hof gegenüber lebt eine WG, das Land wurde zusammengelegt.

Die Realität ist ganz schön phantastisch, aber die Politik ist weit davon entfernt, die Möglichkeiten auszuloten. Fritz Schwarz, die Verbindung zwischen den beiden Ruth, hat einige Möglichkeiten ausgeschöpft. Als Jüngster von fünfzehn Kindern hätte er nach Emmentaler Erbrecht den ganzen elterlichen Hof übernehmen können. Während er Vieh hütete, lernte der Bub weite Teile der Bibel auswendig und wählte später den Lehrerberuf. Am pädagogischen Seminar stellte er fest, dass 75% den Beruf wegen dem sicheren Einkommen gewählt hätten und stellte sich vor die Seite der 25% Weltverbesserer; er schloss sich den Sozialdemokraten an. Zusammen mit seinem Studienkolleg Ernst Nobs organisierte er am Lehrerseminar einen Streik und agitierte für den pazifistischen Friedensverein. Politisch wurde er durch die Schriften von Silvio Gesell, der den Zins abschaffen will und damit auch das Grundeigentum, ein weiteres mal erweckt. Seine erste Frau zeigte bald Lähmungserscheinungen an der Seite des unermüdlichen Aktivisten, der im ersten Weltkrieg seinen Lehrerberuf an den Nagel hängte und in seiner Wohnung die Geschäfte der freiwirtschaftlichen Gesellschaft führte, deren Zeitschrift Freistatt redigierte, und weitere Vereinigungen beherbergte wie die Liga für Menschenrechte, den abstinenten Lehrerverein, die Coué-Gesellschaft. Aktiv war er auch für den Konsumverein, für Frauenrechte und zeitweise für Vegetarismus und Nacktkultur. Als der mit ihm nun persönlich befreundete Gesell 1919 von Landauer als Finanzminister der Münchner Räterepublik berufen wurde, reiste Schwarz ihm nach, doch die Kommunisten hatten Gesell schon abgesetzt. Schwarz schlug sich zu Fuss durch die Fronten zurück in die Schweiz, Gesell wurde von der Schweizer Fremdenpolizei trotz zwanzigjähriger Niederlassung mit einem Einreiseverbot belegt, weil er sich einer revolutionären Regierung angeschlossen hatte. Die Grundpfeiler der Freiwirtschaft sind Gemeineigentum des Bodens uns Zinsverbot. Die Grundrente ist das unchristliche Grundübel, die feudalen Manieren der katholischen Kirche im Mittelalter ein abendländischer Sündenfall. Schade, haben die Bauern in den spätmittelalterlichen Kriegen nicht das Zepter und die Monstranz übernommen. In der Zwischenkriegszeit war allerdings – nach den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise – die Währungs- und Geldmengenpolitik im Vordergrund der wirtschaftspolitischen Auseinandersetzung. Unterdessen war Fritz Schwarz eine neue Liaison eingegangen. Die Sekundarlehrerin Elly und zukünftige Mutter von Ruth gab ihre Bezahlstelle auf und zog in den ärmlichen stadtberner Polit-Haushalt, während seine erste Frau Anna, durch ihre multiple Sklerose arg geschwächt, sich in das Spital zum Sterben zurückzieht. Auch nach dem zweiten Weltkrieg bleiben die Grundpfeiler der Freiwirtschaft im Hintergrund und 1949, mindestens zehn Jahre zu spät, wird schliesslich von der Liberalsozialistischen Partei das Volksbegehren zur „Sicherung der Kaufkraft und Vollbeschäftigung“ eingereicht. Mit von der Partie ist nun Hans Bernoulli (die Häuschen gegenüber dem Kraftwerk 1 stammen von ihm), der wegen seiner Politik an der ETH Lehrverbot erhält. Die Initiative erhält weniger Ja-Stimmen, als Unterschriften gesammelt wurden. Einige der Initianten schliessen sich dem Landesring der Unabhängigen an. Fritz Schwarz bereist später Bagdad. Er wird ausgelacht, weil er seine Koffer aus Prinzip nicht abschliesst, dann aber Geld vermisst. Ein Jahr später wird ihm die Botschafterin aus Bagdad das Geld überreichen, das sich in einen schweren Fauteuil verkrochen hatte. Auf der Strasse spricht er mit den Kindern. Auf die ungläubige Frage eines Journalisten, in welcher Sprache er sich denn unterhalten habe, antwortet er: „Auf Berndeutsch natürlich. Sie haben mich gut verstanden.“ Die Grundrente ist rund um den Erdball verpönt, in den kälteren Zonen etwas weniger, weil dort der Boden manchmal friert. Würde lieber an einer globalen Abstimmung über die Grundrente teilnehmen als an der nationalen über das bodenlos niedrige Grundeinkommen.

Afferente Affektionen als emergierende Emotionen

Gefühle werden positiv bewertet. Natürlich ist dieser Satz zu absolut. Es gibt auch solche, welche stolz darauf sind, keine Gefühle zu haben, weil sie diese mit ihrem Geist bezwingen. Und solche, welche stolz darauf sind, cool und gefühllos zu sein, weil die rationale Wahrheit eiskalt und geistlos ist. Gefühle werden in unserer medialen Gesellschaft  zumindest meist positiv konnotiert, sei es formuliert oder interpretiert. Der Langstreckenläufer, der in den Armen seiner jungen Freundin weint, weil die Witterung es verhinderte, dass er das Olympia-Limit knacken konnte, zieht die Blicke auf sich. Wir hängen an der Gestik und Mimik der Torschützen. Die im Sport geforderten, miterlebten und gefeierten Emotionen sind der Grundkategorie Sieger versus Verlierer zuzuordnen. Der Sieger zeigt Freude, dankt vielleicht auch dem Herrgott mit dem Finger und bleibt bescheiden oder noch besser demütig und dankbar (Ist Demut ein Gefühl oder eine Idee? Oder gar eine Glaubensfrage?). Der Verlierer hat ein grösseres Reservoir und Repertoire an Gefühlen, die er erleben und zeigen kann: Wut, Trauer, Enttäuschung, Hass, Ärger, Rachelust, Scham, Schuldabweisung bis hin zu rationalen Floskeln und Coolness oder Gefühlskälte. Wir Zürcher sind da schon etwas neidisch auf die Basler, die wissen, wie man einen Schweizermeister-Titel feiert.

Vielleicht fühlen wir uns lebendiger mit Menschen, die ihre Emotionen zeigen. Wir können dann empathisch mithalten und mitschwingen, wenn die Emotionen positiv sind, oder argumentativ und analysierend dagegenhalten. Die Freude mehrt sich, wenn ein Lächeln sich dazugesellt, die Trauer kann das lindern (lindern ist transitiv und verlangt zwei Argumente: Das Lächeln wird hier Subjekt und Objekt). Emotionen oder Affekte sind allerdings etwas anderes als die psychologische Allerweltskategorie „Gefühle“, welche auch mentale Zustände, Ideen und Gedanken einschliessen. Wer sagt, dass er sich fühle wie ein lindenblütenverklebtes Cabriolet hat ein Ich-bin-ein-lindenblütenverklebtes-Cabriolet-Gefühl oder -Syndrom. Das kann man getrost in den Thesaurus der WHO-Klassifikationen aufnehmen, mit einer Ausprägungs-Skala von „Keine Symptome“ bis „Klebrige Haut“ mit „Cabrio-Gesicht“. Eine Emotion aber entsteht aus einer Erregung durch einen äusseren Reiz, und ist daher eine Affektion, das, worauf eingewirkt wurde im lateinischen Ursprungssinne. Die Römer brauchten dieses Wort allerdings auch, um das griechische „Pathos“ zu übersetzen, was neben Ethos und Logos als emotionaler Appell eines der klassischen Überzeugungsmittel in der Rhetorik war und üblicherweise mit „Leidenschaft“ übersetzt wird. Aber das ist psychologisch entweder ein metakognitiver Kraftakt, wenn man das als Selbststeigerungskompetenz betrachtet, oder biochemisches Ausserbewusstsein, wenn man darin erotische Konnotationen wahrnimmt.

Den Affekten und Emotionen liegen in objektiver Wirklichkeit Afferenz und Efferenz zu Grunde, eine biochemieelektrische und wahrscheinlich quantengesteuerte Interaktion von Nervenzellen, die untereinander irgendetwas austauschen und bildgebend feuern. Dabei wird a) in zuführend unterteilt, und e) in ausgehend. Sprachlogische Männchen und Weibchen. Im Hals gehen Wahrnehmungs- und Verarbeitungssystem ineinander über. Wehe dem, der Halsweh hat! Die Götter des Körpers und des Hirnis mögen ihn beschützen vor Dummheiten!

Die griechische Philosophie unterschied zwei Basisgefühle: Lust und Unlust. Alle anderen Gefühle sind davon abgeleitete Unterklassen. Aristoteles hat dann alles begrifflich analysiert und systematisiert und damit eine langwährende Ordnung im Sinne einer weitgehend dualen Systematik und Entweder-oder-Sprachlogik in das Abendland gebracht. Die christlichen Einwände betreffend der Rangfolge von Einigheit und Dreifaltigkeit konnte dem alten Griechen wenig anhaben. Aristoteles ist unser Zuchtmeister der Kognition. Darwin geht in seinen Fussstapfen, indem die Gesetze der Sprachlogik auf die Genesis übertragen werden. Behavourismus, aber auch spätere Methodikimperative wie Empirie, Pragmatik, Theoretik sind Folgesysteme in der als Wissenschaft bezeichneten  Erkenntnis- und Textform. Wahre Literatur ist das nicht.

Grundemotionen scheinen eine mimische Spiegelung, objektiv, körperlich. Grundkategorie der folgenden Handlung: Flucht oder Angriff beim Männchen, beim Weibchen sich interessiert nähern oder abwenden. Manchmal sind die Rollen auch vertauscht. Freude und Trauer, sowie Überraschung und Furcht gelten als kulturunabhängige Emotionen. Da hätten wir zwei Gegensatzpaare. Ein zweidimensionales System. Das wurde dann ausgeweitet in mathematisch höhere Kategorien, Verdoppelungen, Verdreifachungen, Potenzierungen, exponenziale und differentiale Beschreibungen bis zur infinalen Empirie. Nach heutiger wissenschaftlicher Erkenntnis unterscheidet man in Europa die Basisemotionen Freude, Interesse-Neugier, Überraschung, Ekel, Ärger, Traurigkeit, Furcht, Scham und Schuld. Der abendländisch-christliche Kanon des Leidens ist wohl darauf zurückzuführen, dass der Emotions-Guru Martin Domes an der Frankfurter Uni als Psychoanalytiker zuerst Soziologie studiert hat und darum eher empirischer Forschung zugetan ist. Einer dieser Kategorien würden bestimmt 90% der Pendlerinnen und Pendler zustimmen, wenn man „Interesse-Neugier“ durch „Langeweile“ ersetzen würde.

Emotionale Intelligenz ist seit gut zwanzig Jahren ein geläufiger Begriff, der gerne gebraucht wird, um ihn der kognitiven Intelligenz gegenüberzustellen und meist auch darüberzustellen. Alleswisser, Nichtsvergesser, Immernachdenker können ganz hilfreich sein, aber der Stil, wie sie sich geben und wie ich behandelt werde, prägt die Qualität meiner mitmenschlichen Verbindung. Ein gescheites Haus zu sein ist noch keine menschliche Qualität, es kommt darauf an, wer darin wohnt. Ein gescheites Haus anzusehen aber ist weit angenehmer als in ein dummes Loch zu starren. Der Feldzug gegen die kognitive Intelligenz wird durch die Dummheit angeführt. Der pädagogische Lebensimperativ heisst dich, eine Emotion zu haben, deine Emotion wie auch immer auszudrücken, zu beobachten, was du für Eindrücke hinterlässt, dann wieder deine Emotion auszudrücken und so weiter. Dabeisein, Kommunikation machen. Ist es nicht wundervoll, wieviele Emoticons es gibt?

Die Psychologen sind da weiter. Emotionale Intelligenz ist unterdessen genauso ausgemessen wie der IQ. Und die Anbieter von EQ-Tests sind stolz darauf, dass die beiden Quotienten weder auf der individuellen noch auf der gesellschaftlichen Ebene korrelieren. Der wahre Grund dafür ist, dass Leute mit hohem IQ meist die EQ-Tests korrigieren und die Statistik irreführen, indem sie nicht die pädagogisch nahegelegte Antwort ankreuzen, sondern den ganzen Fragebogen nach einem rein rechnerischen Formsystem ausfüllen. Wie gläubige Ästheten ihren Lottozettel.

Angefangen hat der aktuelle Begriffsschlamassel mit dem EQ-Bestseller. Das Buch hat ein Journalist und guter Schreiberling verfasst, der von der Sache wenig verstand, kognitiv und so. Die Emotionstheorie, die dahintersteckt, ist ganz einleuchtend: Du sollst die Emotionen von daseienden oder kooperierenden Individuen wahrnehmen und erkennen, um selber gut kooperieren zu können und dazusein. Du sollst Bescheid wissen über die Zusammenhänge von Emotionen zwischen Menschen einerseits und zwischen Emotion und Gedanke sowie gedanklichen Fähigkeiten andererseits, so dass Du vorhandene Emotion und gedanliches Zutun selber abmischen kannst. Drittens solltest Du die Emotion analysieren, um deren Veränderbarkeit sicher einzuschätzen. Viertens und letztendlich geht es darum, deine Emotionen zu beinflussen, so wie es dir passt. Wenn Du das auch ganz rational mit Deiner Kognition bewältigen willst, kannst du deine Gefühle an deinen individuellen Zielen und Wünschen ausrichten, mit deinem Selbstbild und dem sozialen Bewusstsein in Übereinstimmung bringen, indem Du entweder Gefühle vermeidest oder deren Bewertungen korrigierst. Alle diese emotional glaubwürdigen Gebote beschreiben kognitive Akte. Wer seinen EQ verbessern will, muss seinen IQ stärken. Da ist mir jetzt natürlich etwas Emotion eingerutscht, aber vielleicht gefällt das ja.

Götter, Geschlechter und Bigotte

Nicht Nicken oder Kopfschütteln erwartet Dich in Indien, sondern Kopfwackeln. Es sieht manchmal ziemlich dämlich aus, vor allem wenn dazu der Mund halb offen steht. Keine Ahnung, wovon Du redest, aber ich höre Dir zu, scheint das Wackelgesicht auszudrücken. Auf jeden Fall ist es nett gemeint. Aber so klar, wie wir das manchmal gerne hätten, ist die Mimik nicht, auch wenn das Kopfwackeln durch verbale Zustimmung begleitet wird. Die Zustimmung und Bejahung ist auch nett gemeint, aber wer weiss schon, wie das alles weitergeht. Manche Männer lassen nach dem grossen Wackeln die Zunge raushängen, einfach so, ohne zu hecheln.

Händeschütteln muss auch zwischen Männern nicht sein. Eine leichte Verneigung zum Gegenüber, ein gemeinsamer Augenblick des Lächelns lässt Respekt und Zuneigung erfahren. Frauen die Hand entgegenzustrecken ist unverschämt und übergriffig, auch wenn die Frau höflich die reine rechte Hand hebt und ergreifen lässt. Dann beschämt und konsterniert den Blick senkt. Die menschlichen Geschlechter leben in verschiedenen Welten mit gegenseitigen Verhaltenserwartungen, die sich beidseitig bedingen und durchaus etwas Patriarchalisches haben. Die Funktionen Familienoberhaupt, Grossfamilienoberhaupt, Sippenoberhaupt und Dorfoberhaupt sind traditionell dem männlichen Geschlecht vorbehalten. Frauen sind auch von bestimmten nichtfamiliären Rollen ausgeschlossen, z.B. gibt es Tempel, deren innerstes Heiligtum nur durch Männer betreten werden darf. Genauer: Nur durch den vom obersten Tempeldiener auserwählten Sohn, dem legitimen Nachfolger. Einige Frauen wollten den Zutritt zum Allerheiligsten eines solchen Tempels gerichtlich durchsetzen. Der Fall war nun vor dem obersten Gericht anhängig und wurde auch in den Zeitungen diskutiert. Die ausgeschlossenen Frauen berufen sich auf den politischen Glaubenssatz des verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbotes als Grundlage ihres politischen Feminismus. Auf der anderen Seite erklärt der angeklagte Tempelpriester, das Männervorrecht sei blosse lokale Tradition und unpolitisch. Der Ursprung sei darin zu finden, dass das innerste Heiligtum von einer derart starken Energie sei, dass das weibliche Geschlecht wohl Schaden nehmen könnte. Die Women Warriors of Mother Earth bekamen vorm Gericht die Zutrittserlaubnis zum Shani-Tempel. Ungeachtet des Gerichtsurteils haben dann hunderte aufgebrachte Dorfbewohner die etwa 30 Aktivitinnen am Betreten des Tempels gehindert. Die Polizei schritt ein, es gab Festnahmen. Um die Lage zu beruhigen, hatte die Tempelverwaltung daraufhin vorübergehend sowohl Frauen als auch Männern den Zugang zum Tempel untersagt. Schliesslich wurden die Aktivistinnen zum Heiligtum vorgelassen. Danach reinigten die Priester und Diener ihren Tempel mit einem aufwändigen Ritual. Die Frauen aus dem Dorf werden das Innere des Tempels sicher nicht betreten, die halfen ja in der Vorwoche, den Frauenrechtlerinnen den Zutritt zu verwehren.

Das Geschlechterverhältnis scheint eher einseitig, ist aber vor allem widersprüchllich. Es gibt in Madurai einen fast tausendjährigen und quadratkilometergrossen Tempel, in dessen Innerstem Minakshi trohnt. Sie ist die Göttin der Fischer und gleichzeitig die Schwester von Vishnu und Gefährtin von Shiva, der im Tempel das etwas entfernte Nebenzimmer bewohnt. Die Griechen nannten ihre Minakshi Hera. „Ist bei euch zu Hause Madurai oder Chidambaram?“ ist die tamilische Frage danach, wer zu Hause die Hosen anhat. Es gibt Frauen, die tragen unter ihren Röcken oder Saris Hosen, wie auch Männer, die unter ihren Lendentüchern oder Beinkleidern Hosen tragen. In Chidambaram haben die zweihundert Priester seit zwei Jahren wieder das Sagen, nachdem sie in einem jahrelangen Rechtsstreit das alleinige Recht auf Verwaltung und Betrieb des Tempels vom Staat zurückerkämpfen konnten – wie die Frauenrechtlerinnen vor dem obersten Gericht in Mumbai. Diese Priester gehören zur tausendköpfigen endogamen Gemeinschaft der Dikshitar, die alle gleich um den Tempel wohnen. Die Priesterfamilien verheiraten ihre Töchter mit sieben, ihre Söhne mit zwölf Jahren. Sie öffnen den Tempel morgens um sechs, schliessen ihn während der Hitze und Siesta zwischen 13 und 17 Uhr und feiern dann wieder bis 22 Uhr. Es gibt nirgends Zutrittskontrollen oder Sperrzonen für Ungläubige. Im Tempel wohnt Nataraja. Er ist kein anderer als Shiva, der hier in Chidambaram seinen legendären Tanz aufgeführt hat. Dazu gibt es zwei Versionen. Einmal hat Shiva an ebendem Ort seine Partner-Göttin Kali angetroffen, wie sie blutverspritzt wie wild auf den Leichen der Besiegten tanzte. Shiva hat sich totgestellt und als die rasende Göttin auf Shivas Brustkorb hüpfte und es nicht knackte, erkannte sie ihren Göttergatten und soll die Zunge herausgestreckt und sich geschämt haben. Ob sie rot geworden ist vor Scham, lässt sich nicht sagen, weil Kali tiefschwarze Haut hat. In der anderen Version trifft Shiva auf einem seiner göttlichen Streifzüge eben hier in Chidambaram eine Schar scheinheiliger Priester. Er rief seinen Götter-Kumpel Vishnu in Gestalt der Mohini herbei, welche die Weisen bezirzte. In dieser Zeit beschlief Shiva die Frauen der Weisen. Die Scheinheiligen wurden rot vor Wut und hetzten wilde Tiere auf Shiva, der diese tötete, sich deren Haut um die Lenden schlang und mit dem Finger Richtung Himmel zeigte. Die Weisen riefen den zwergenhaften Dämon Apasmara zu Hilfe, doch Shiva stieg auf dessen Schultern und führte seinen kosmischen Tanz auf, so dass die Häretiker den Glauben wiederfanden. Der tanzende Shiva, Nataraja, war der Familiengott der mittelalterlichen Königsdynastie der Chola, die jahrhundertelang über ganz Südindien herrschte und viele monumentale Bauwerke errichten liess. Vor tausend Jahren hat einer dieser Könige von einer Reise dreitausend vor langer Zeit ausgewanderter Dikshitar mitgebracht haben, um den erweiterten Tempel mit persönlich ausgewähltem Personal auszustatten. Die Dikshitar sind wahrlich stattlich: Sie verrichten ihren Tempeldienst mit sichtlichem Stolz, nur mit etwas Tuch umschlungen, mit grossen segensreichen Zeichen auf der Stirn und der Brust, das Kopfhaar hochrasiert und das lange Bündel Haar links auf dem Kopf verknotet, geschmeidig in ihren Bewegungen wie Raubkatzen oder Yogi.

Unverheiratete Frauen schlafen neben ihrer Mutter. Nicht nur die kleinen Mädchen bei den Dikshitar, sondern auch Gayatri, die vierzigjährige Hausvorsteherin im Shanti-Gebäude. Schwarz und rund wie Kali und mit deren Kraft, aber meist lächelnd und viel lachend. Sie hat sich dem Shanti-Projket verschrieben und gewidmet, nachdem ihre Familie ihren selbst auserwählten Bräutigam ablehnte. Das nimmt sie ihrer Mutter nicht übel und schläft weiterhin neben ihr. Die Mutter ihrerseits gibt ihr manchmal was Gekochtes mit nach Shanti, um den Mittagstisch anzureichern. Hindus lieben Hausrezepte und ihre Hausgötter.  Da sind die Muslime, die ihren Glauben bis nach Südindien ausgebreitet haben, strenger. Sie lieben nur den Einen und essen nur nach Rezept des Einen. Das ist für die muslimische Familienköchin eine Verdinglichung im Namen Gottes, zumindest nach aufgeklärter Analyse. Amnesty international ist deshalb begeistert von einem saudischen Wissenschaftsrat, der die Frau rechtlich nicht mehr als Ding bezeichnet, sondern als Säugetier. Sie müssen also artgerecht gehalten und dürfen nicht mehr gesteinigt werden, sondern müssen vorschriftsgemäss geschlachtet werden.

Fünf Schwestern um die vierzig und deren Eltern stiegen bei Pondicherry ins Meer, um ihrem Leben gemeinsam ein Ende zu setzen. Zwei Mädchen und die Mutter wurden tot aus dem Wasser gefischt, die anderen wurden lebend in ein Fischerboot gezogen. Hermalata, welche die Geschichte vor gut zehn Jahren ins Rollen brachte, lebt, auch nach einem weiteren Selbsmordversuch. Die ganze Familie lebte seit langer Zeit im Ashram, das auf Aurobindo Ghosh und Mirra Alfassa zurückgeht. Letztere hat 1968 Auroville gegründet, ein von der UNO anerkanntes internationales Selbstverwaltungsprojekt, das ursprünglich für 50’000 Personen geplant war. Heute leben dort rund 2000 Aurovillianer (zufällig die Grösse des Dikshitar-Clans?) und bezahlen sich selbst eine monatliches Grundeinkommen von 6000 Rupies. Auroville wird durch einen Hippie-Rat regiert und durch Kooptation beschränkt. Auroville bäckt das beste Brot, hat frischen Salat, produziert exquisite Räucherstäbchen und bietet herrliche Ferienwohnungen im Palmenwald am Meer. Hermalas Familie lebte im alten Ashram. Wer im Geist der Gründer und in Gemeinschaft derer Verehrer leben will, gibt sein ganzes Eigentum der Gemeinschaft und wird dafür vom Ashram mit Essen, Bildung, Sportmöglichkeiten und Aufgaben oder Beschäftigung versorgt. Der Aurobindo-Trust ist der grösste Immobilienbesitzer in Pondy und betreibt dutzende Verkaufsläden, Spitäler, Gästehäuser und eine eigene Poststelle. Die wichtigsten Regeln dieser spirituellen Bewegung sind: Kein Alkohol, keine Drogen, kein Sex, keine Politik. Aurobindo hatte nicht weniger als sieben Bewusstseinsstufen ausgemacht. Er selbst hat im November 1926 das zweithöchste Overmind verwirklicht, das zum göttlichen Supramental führt. Hermalata aber wurde erwischt, als sie eine der heutigen Regeln übertrat, teilte der Sprecher des Ashram mit, ohne weitere Präzisierung. Das Gericht unterstützte die Ashram-Führung: Es sei notwendig, solche Verletzung der Verhaltensregeln streng zu sanktionieren, um deren Glaubwürdigkeit und Durchsetzung zu garantieren. Nun warf Hermalata der bigotten Gegenpartei vor, im Rahmen des Verfahrens sexuell missbraucht worden zu sein. Die Ashram-Leitung bot der Familie die Übernahme der Existenzkosten ausserhalb des Ashrams an, doch die Familie Prasad lehnte das Angebot ab und Hermalatas Schwestern brachten weitere Vorwürfe sexuellen Missbrauchs vor. Das Gericht sprach die Aurobindo-Trustees von diesen Vorwürfen frei und setzte nach zehnjährigem Streit die polizeiliche Räumung durch. Danach drohten die Ausgewiesenen mit Selbstmord und stiegen am Tag darauf ins Wasser. Noch ein Tag später treffen gegen Mittag Dutzende von Schwarzhemden auf ihren Motorrädern vor dem Ashram auf und versuchen sich mit Steinwürfen und Eisenstangen Zutritt zu verschaffen. Sie verlangen die Verstaatlichung des Ashrams und die Einziehung aller Besitztümer. Lokale Politiker fordern bessere Polizeiarbeit. Christen zünden Kerzen an und schweigen.

Männergeschichten

Ohne Schlachten keine Hochzeit. Ein gern und oft gesprochenes Wort auf Kreta. Vielleicht aus der Zeit der osmanischen Herrschaft – der Prophet empfahl Schaffleisch zum Hochzeitsmahl. Die Bluttat geht der Vermählung voraus. Ich weiss nicht mehr, warum ich das Buch gesucht und gekauft habe. Warum ich es gelesen habe, weiss ich jetzt. Es wurde von einem Mann geschrieben, der seine Geschichte erzählt, Am 26. April jährt sich die Geschichte. Generalmajor Heinrich Kreipe, Kommandant der deutschen Wehrmacht auf Kreta, wurde an diesem Tag im Jahre 1944 von zwei Briten und einigen Kretern entführt. 1952 wurde die Geschichte als Buch, zwei Jahre später als Film publik. Autor war Moss, ein junger englischer Offizier, der an der Entführung beteiligt war. Sein Vorgesetzter war sein Landsmann Fermor, ein gebildeter Geheimdienstoffizier und weitgereister Griechenlandliebhaber. Nachdem Moss gestorben war, brachte Fermor seine Version zu Papier. Sie ist neulich in Buchform, auch auf Deutsch, veröffentlicht worden, kurze Zeit nach Fermors Tod.

28 Jahre nach der Entführung sehen sich Fermor und Kreipe zum ersten und letzten Mal wieder, im Studio des griechischen Fernsehens. Das war 1972. In diesem Jahre bin ich zum ersten Mal nach Kreta gereist. Ich war so beeindruckt, dass ich in den Folgesommern immer wieder nach Kreta fuhr, mit der Eisenbahn über Italien oder Jugoslawien nach Athen, dann mit der Fähre von Piräus in einen der kretischen Häfen. Mir hatten es die kretischen Männer angetan. Kniehohe enge Lederstiefel, Pluderhosen, schwarzes Hemd, ein Tuch um die Hüfte geschlungen. Mächtige Schnauzbärte, sonnengegerbte Haut, ein Fransentuch um den Kopf. Beim nächsten Besuch hinterliess ich bei der Ankunft in Chania meine Fussabdrücke bei einem Schuhmacher, so dass ich vor der Abreise massgefertigte Stiefel abholen konnte. Die Kreter sassen in stoischer Ruhe auf der Strasse oder gestikulierend am Spieltisch, rauchten und tranken, und wenn man einen nach seinem Namen fragte, hiess der Sophokles. Fermor und Moss trugen kretische Kleidung, bevor sie Kreipe entführten. Fermor sprach fliessend griechisch, vor Ort gelernt, der jüngere Moss musste den Mund halten.

Im Athener Studio sassen neben dem Moderator und Fermor einige gutgelaunte griechische Zeitzeugen und plauderten gestikulierend vor der Kamera. Dann wurde der zwanzig Jahre ältere Kreipe hinzugeführt. Von einem Mann, der ihn mit beiden Händen am Oberarm hielt und eng begleitete. Führt man so einen Gefangenen dem Richter vor oder macht man das aus Höflichkeit mit älteren Menschen? Der Mann wusste es wohl selber nicht. Fermor streckte ihm als erster die Hand hin und war gleich in der Rolle des Gastgebers. Der Moderator im Beatle style fragte Fermor, was Kreipe gesagt habe, nachdem diese beiden kurz in deutscher Sprache ihre Standpunkte klargemacht hatten: Kreipe befand, Fermor hätte sichtlich gealtert, Fermor versicherte Kreipe, er sehe genauso gut aus wie ehedem. Kreipe aber bekannte, dass die Beine etwas müde geworden waren. Fermor war der einzige im Studio, der nicht nur die griechische Sprache beherrschte. So war er völlig unerwartet als Dolmetscher gefordert, auf dass er griechisch wie deutsch nur noch stammelte. Der Moderator redete griechisch auf Kreipe ein, der freundlich lächelte. Fermor versuchte den Sinn wiederzugeben, irgendwas mit lange her, lange verziehen oder vergessen. Kreipe weiss schon, was gemeint ist, und antwortet mit einem knappen: „Darum sind wir hier!“. Nun versucht Fermor, dem Moderator und den anderen Gästen klar zu machen, was dieses kurze Staccato sinngemäss zu bedeuten hätte und er redet so lange, bis endlich alle klatschen. Nun gibt es Musik. Alle stehen auf. Niemand beginnt ein Tänzchen. Irgendwie ist’s peinlich.

Wir hatten schnell kapiert, dass es auf Kreta völlig ok war, deutsch zu reden, aber besser, nicht Deutscher zu sein. Wir Schweizer haben immerhin die griechischen Freiheitskämpfer von 1830 unterstützt. Die Deutschen kamen 1941 per Fallschirm und liessen bekanntmachen, dass jeder tote Deutsche die Erschiessung von 10 Griechen nach sich ziehe. In jedem Dorf fanden wir einen Einheimischen, der fliessend Deutsch redete und uns bei Verständigungsschwierigkeiten behilflich war. Einmal reisten wir in einer Gruppe von acht Jungs nach Kreta. Wir übernachteten im Freien oder unter Wirtshaustischen. Wir warteten viel, weil einer nicht da war oder weggeschickt wurde, um eine Erkundung zu machen. Wir spielten viel. Wir tranken viel, Wir lachten viel. Auf die Idee, einen General zu entführen, kamen wir nicht. Zu Hause trugen wir manchmal Militärjacken, die wir mit Aufschriften oder Ansteckern versahen, um dem fragenden Auge unsere Kriegsabscheu kundzutun.

Fermor und Moss trugen deutsche Militäruniform bei und einige Zeit nach der Entführung. Fermor sprach auch fliessend Deutsch. Moss wechselte mit dem gefangenen General in den folgenden Wochen nur einige oberflächliche Worte in Französisch. Die beiden Engländer stoppten zusammen mit einigen einheimischen Freunden und Helfern den Wagen des Generals, rissen Kreipe und den Fahrer aus dem Wagen, fesselten den verdutzten General und hielten ihm auf dem Hintersitz das Messer an die Gurgel, während Fermor den Generalshut aufsetzte und auf dem noch warmen Beifahrersitz Platz nahm. Der deutsche Fahrer wurde später getötet und seine Leiche versteckt, weil der völlig Benommene kaum gehen konnte und auf der Flucht nur hinderlich war. Fermors befreundete Partisanen hatten seine Gegenwehr mit einer Schlagwaffe, genannt Totschläger, unmöglich gemacht.

Moss als neuer Fahrer hatte seinen Spass, an der Villa Ariadne, dem schwerbewaffneten Wohnsitz des Generals, vorbeizufahren und das Erstaunen darüber förmlich zu greifen, dass der kräftigste und mit Standarten besetzte Opel nicht in den Hof einfuhr. Die Villa Ariadne liess der Engländer Arthur Evans bauen, der gleich nebenan die Ausgrabungen in Knossos leitete. In der Nähe des Entführungsortes gibt es ein Museum. Dort kann man einen alten Mercedes fotographieren, auf dem das Entführungsdatum und in lateinischen Buchstaben „Kraipe“ geschrieben steht. Den Opel des Generals liessen die Entführer auf der Flucht als falsche Fährte stehen, versehen mit schriftlichen Belehrungen für den Feind über angemessenes Verhalten nach einer Entführung unter britischem Kommando. Die Entführer mussten samt dem deutschen General weit und hoch über das schneebedeckte Ida-Gebirge, um hoffentlich von der Südküste per Schiff nach Kairo zu gelangen.

Einiges ist dumm gelaufen bei diese abenteuerlichen Heldentat. Eigentlich sollte Müller (Friedrich-Wilhelm) entführt werden, der seit der Besetzung Oberkommandant war und „der Schlächter“ genannt wurde. Müller kehrte nach Kreipes Entführung auf seinen Posten zurück, wurde schliesslich von den Briten festgenommen und dann von einem griechischen Gericht wegen seiner Greueltaten auf Kreta zum Tode verurteilt und erschossen. Kreipe wurde nach seiner Internierung in England mit der Diagnose „einfallsloser Gegner des NS-Regimes und schwacher Charakter“ nach Deutschland zurückgeschickt, wo er in Hannover – mit Ausnahme der besagten Athenreise – völlig zurückgezogen sein Leben zu Ende lebte. Die deutschen Führungszeugnisse waren alle exzellent („starke, energische Persönlichkeit von festem Charakter“). Kreipe war das dreizehnte Kind eines protestantischen Pfarrers und Berufssoldat. Fermor erzählte er manche Anekdote aus dem ersten Weltkrieg, der ihm besser als der zweite gefallen hatte. Kreipe und Fermor respektierten sich, weil sie die gleichen lateinischen Verse von Horaz auswendig gelernt hatten. Die BBC leistete sich einen Patzer, in dem sie die Meldung der Entführung mit dem Zusatz versah, dass der General von der Insel fortgeschafft werde, statt wie vereinbart „fortgeschafft wurde“ zu schreiben. In den niederen Rängen der deutschen Soldaten fast soviel Grinsen und Spotten über den entführten General wie bei den Einheimischen. Kreipes Adjutant wurde der Mittäterschaft beschuldigt und eingesperrt, was wiederum Kreipes Hohn heraufbeschwor: „Ein vollkommener Dummkopf“. Bei den Entführern war der General nicht beliebt, auch wenn man grössten Wert auf korrekte und dem Rang entsprechende militärische Ehrenbehandlung legte. Als es darum ging, die Deutschen mit einem kleinen Gefecht in die Irre zu leiten, wollte niemand auf den General aufpassen. Der Vorschlag fiel, die Würfel entscheiden zu lassen. Schliesslich rollten sie einen Riesenstein vor das Höhlenversteck, so dass alle an der Schiesserei teilnehmen konnten. Der General seinerseits schloss den kretischen Bewacher so ins Herz, dass dieser überzeugt war, er wolle flüchten. Kreipe fiel einmal vom Maultier und zweimal den Hang hinunter, sonst habe er sich ordentlich benommen. Auf dem Fluchtweg legten sich alle auf den Bauch und tranken aus einer kühlen Quelle Wasser, das unsterblich macht. Dem General wurde ein Becher gereicht und er wollte gleich noch einen. Seitdem fühlte er sich dem Feind noch mehr verbunden. Tagelang nachts unterwegs, tagsüber in Höhlen versteckt, manchmal mit einheimischem Besuch, so dass mit Raki und Tanz gefeiert wurde. Wenn das Glück auf ihrer Seite stand, riefen sie auf Griechisch „Gott existiert!“. Fermor bekommt jetzt körperliche Probleme, ein Arm wird fast unbeweglich. In Kairo wird er ins Krankenhaus kommen, weitgehend gelähmt. Nach drei Monaten ist der Spuk vorbei, die Ärzte zucken mit den Achseln. Moss und Fermor freuen sich auf die Offiziersmesse auf dem Schiff, Pink Gin, vielleicht Champagner. Vorerst sitzen sie aber alle noch am Ufer und zerbrechen sich den Kopf, weil niemand die Morsezeichen kennt für die vereinbarten Buchstaben, welche sie als Erkennungszeichen aussenden sollen. Das englische Schiff reagiert auf ihren optischen Dilletantismus nicht. In letzter Minute taucht einer auf, welcher den Morsecode kennt und die ganze Sache landet wie erhofft auf dem Wasser.

Die eine Bluttat findet sich in Fermors Schilderung nicht, aber im Anhang findet sich sein Original-Bericht an vorgesetzte Stelle. Fermor, der in einem Nachruf als charmante und gutaussehende Mischung von Byron und Bond beschrieben wird, hat aus Versehen seinen besten Freund Sancho erschossen, aus nächster Nähe. Sancho sass am Boden und packte seinen Sachen. Das Bein zweimal durchschossen und dann die Hüfte, mit einer Kugel, sechs Wunden, ohne viel Blutverlust, aber mit Todesfolge innert einer Stunde. „Bevor er starb, sprach er einige sehr freundliche Worte zu mir, die ich nie vergessen werde“, steht in Fermors Bericht. Anschliessend tat die ganze Gesellschaft einen feierlichen Schwur, hic et ubique, und auch die Version mit einem deutschen Schützen sollte selbst Sanchos Familie erst bekannt gemacht werden, wenn Fermor das Zeichen dazu gibt. Einige Monate zuvor hatte Sancho aus Versehen wenige Zentimeter an Fermor vorbeigeschossen. Auch damals nahmen das alle sehr gelassen. „Ich konnte und kann das nicht so sehen“, berichtete Fermor nach Kairo. In Kreta soll es immer noch deutlich mehr Schusswaffen als Einwohner geben, bei jeder Gelegenheit wird geknallt, aus einer gewissen Tradition. Insbesondere bei Hochzeiten ist balllern beliebter als böllern, und sowieso wird vorher geschlachtet.

Vertraulich

Im Herzen war ich nie Leninist, auch wenn ich in der Pubertät in der marxistisch-leninistische Weltkarte rot geboren wurde. *Vertrauen ist gut“, soll Lenin gesagt haben und der Satzanfang tönte auch für mich völlig ok, und dann soll er „Kontrolle ist besser“ nachgeschoben haben. Wahrscheinlich war das bei Iljitsch (das hab ich jetzt kontrolliert, ich hab es im ersten Versuch richtig geschrieben, obwohl ich das Wort bisher kaum ausgesprochen und noch nie geschrieben habe) kein bösartiger Kontrollwutanfall, sondern durch seine Sozialisation bedingt. Er zitierte in seinen Reden gerne mal ein russisches Sprichwort, das sinngemäss aussagt, dass man vertrauen solle, dann aber auch prüfen solle.

Das ist ein Riesenunterschied und doch keiner. Das originale Sprichwort scheint die Gegensätze gleichwertig zu vereinen oder zumindest nebeneinander zu stellen, die deutsche (ich finde das Ausrufezeichen auf meinem neuen Mac nicht- jetzt, das ist jetzt später, hab ich das Symbol gefunden: !) Übersetzung stellt die eigenhändige empirische Verifizierung als objektives Datum über die bloss subjektive Wahrheitsfindung durch etwas Vertrauen ins Vertrauen. Vertrauen und Kontrolle sind Gegensätze, die in der Betriebspsychologie als kommunizierende Gefässe beschrieben werden. Hängt mit der Organisationskultur zusammen. Lenin meinte seinen Ausspruch wohl nur als empiristisches Bekenntnis, waren doch die Empiriker über alle politischen Grenzen hinweg historisch auf der Gewinnerseite. Er selbst gehörte ins Zentrum des Empire of Empiricism. Heute ist klar, dass Kontrolle eine Funktion ist, die der Polizei oder anderen Exekutivmächten vorbehalten ist.

Die Kennung „Vertraulich“ bedeutet, dass der Autor einer Schriftsache den Text für geeignet hält, dass er ausserhalb des abschliessenden Adressatenkreises Missverständnisse hervorrufen könnte, die jemandem Schaden zufügen könnten. Das ist politische und juristische Diktion. Empirisch und logisch sind Fehlschlüsse wohl nie auszuschliessen. Vertraulichkeit ist eine Geheimhaltungsstufe, die zwar empirisch und logisch nicht kontrolliert werden kann, aber politisch und juristisch sanktioniert wird. Der amerikanische CIA-Mitarbeiter, der später öffentlich die Folter resp. die erweiterten Verhörmethoden von Terrorverdächtigen nicht nur als unmenschlich, sondern auch als nutzlos bezeichnet hat, weil kein einziger der Gefolterten resp der unter den Umständen der erweiterten Verhörmethoden Einvernommenen eine zusätzliche Information absonderte, wurde ins Gefängnis gesteckt. Rente weg. Unten anstehen. Die Richter hielten seine Aussage für geeignet, den Glauben an die Obrigkeit zu erschüttern.

Sprachlich, genauer: lexikalisch ist „vertraulich“ das Adjektiv zu „Vertrauen“. Und da beginnt natürlich das Chaos. Vertrauen ist gut, anderes vielleicht besser. Die Psychologen versuchen sich den Begriff als empirisch nachweisbares psychisches Phänomen anzueignen als primär durch ihre Disziplin zu untersuchen und zu erklären, Theologen und Philosophen sind da mehr historisch als systematisch-analytisch noch am Futternapf, aber da kommen die Neurobilologen, die Neuro- und Bio-Chemiker dazu und bringen neben der von den Psychologen bereits als allein erkenntnisversprechend akzeptierten empirischen Methodik auch ein deterministisches Ursache-Wirkung-Weltbild ein, das als Parasit der Welt als solcher lebt. Wenn es so etwas wie Vertrauen gibt, dann muss das eine Ursache haben, eine notwendige und hinreichende Bedingung. Ein rationaler Grund oder eine systemische Begründung reichen da nicht, heutige Erkenntnis will Naturkausalitäten und Physik.

Woher kommt das Vertrauen? Nach heutiger Erkenntnis von unserer körpereigenen Wunderdroge Oxytocin. Das Neuropeptid wird mitten im Kopf, im Mittelhirn, im Hypothalamus gebildet und dann in der Hypophyse bereitgestellt. Oxytocin wirkt als Hormon und als Neurotransmitter. Vor gut hundert Jahren wurde der Stoff entdeckt und die physiologische Wirkung beschrieben: Oxytocin bewirkt eine Kontraktion der Gebärmuttermuskulatur und verursacht die Milchejektion. 1955 wurde der Nobelpreis für Chemie demjenigen verliehen, der Oxytocin synthetisierte. Seitdem gibt es die Wehentropfen. Die Zusammenhänge und Kausalketten waren in der gynäkologischen Abteilung überschaubar.

Heute gibt es psychologische Forscher, die mit sozialwissenschaftlichen Methoden – in der Psychologie heisst das: formelhaft gelernter Statistik – Gruppen von tierischen und menschlichen Subjekten mit zusätzlichem Oxytocin versorgen, was sie der statistikgeschuldeten Kontrollgruppe vorenthalten. Die Tierversuche zeigen, dass die Zusatzdosis Oxytocin (sag ja nie: Oxytoxin – damit würdest Du die Wunderdroge auf die Giftliste setzen) etwas schläfrig macht. So, wie die Oxytocin-Ausschüttung beim Organsmus, da sind wir ja noch eins mit den lieben Tieren. Und die Mäuse rennen natürlich weniger schnell weg. Dem sagen dann die Psychologen „Angstreduktion“. Aber funktioniert das auch beim Menschen? fragt das Wochenblatt Die Zeit. Aber sicher schon: Die Gruppen, welche unter wissenschaftlichen Bedingungen sich regelmässig eine gehörige Portion Oxytocin auf die Nasenschleimhaut sprayten, fühlten sich vielleicht ein wenig schläfrig, aber das wurden sie nicht gefragt. Die Psychologenpolizei kontrollierte aber nicht nur die Wirkstoffzufuhr, sondern auch die Auswirkungen auf Streitverhalten bei Paaren, das Liebesleben, das Risikoverhalten in Spielsituationen, die Reaktion auf Systemfremdes, das allgemeine Lebensgefühl. Grundtenor: Nestverhalten, Nestgefühle. Das Oxytocin dockt in der Amygdala an, dem neurologische Bio-Ich. Die Amygdala mischt mit bei Atem, Herzrhythmus, Sexualleben, Angriff-Flucht-Meccano, autistischem Spektrum, Sozialverhalten. Die Sache ist verdammt kompliziert, und es ist auch unklar, ob die mitentscheidende Oxytocin-Rezptorenbildung in einer Ursache-Wirkungs-Beziehung steht zur Oxytocon-Bildung und -Ausschüttzung oder ob dazu quantentheoretische Grundlagen miteinbezogen werden müssten. Ein klinischer Psychologe hat festgestellt, dass Oxytocin keine Empfindungen schafft, sondern eine Art Geschmacksverstärker sei. Es ist auch nicht feststellbar, ob das Oxytocin aus dem Nasenspray über den Riechnerv oder über die Blutbahnen das Gehirn erreicht. Zur Klärung dieser Frage würde ich einen persönlichen Beitrag leisten und an einem entsprechenden Versuch teilnehmen – für ein Mittagessen.

Auf jeden Fall scheint festzustehen, dass der Oxytocin-Spiegel durch Einnahme von MDMA erhöht wird. Nach Ansicht der Chemiker ist dies der Grund für die Beliebtheit von Partydrogen. Gute Laune und viel Liebe. Vertrauen in die Welt und Selbstvertrauen. Vertraulich werden. Nackenkraulen. Schnurren im Nest. Und das Erstaunliche ist, dass das bei fast allen so wirkt, obwohl nicht mal die Hälfte des illegalen Angebotes den entsprechenden Wirkstoff enthält. Beim Schlucken braucht es Vertrauen, sonst wirken weder Drogen noch Placebo. Madonna und andere Pop-Stars nehmen die Marken-Linie und schwören auf Dolly, als reines MDMA besungen, aber auf dem Schwarzmarkt mit beliebigen Inhaltsstoffen. Echte Kenner konsumieren nur die Kristallform. Das wäre allenfalls etwas für die Jugendfreundin von Thomas, die Gemmologin: Es braucht ein geschultes Auge, um den Ausgangsstoff optisch zu identifizieren.

Vertrauen ist die Bedingung dafür, dass wir Chancen sehen und nutzen. Das ist eher eine sprachlogische und philosophische Definition. Im Sport als axiomatische Wahrheit Alltag. Coaches und Mentaltrainer, von der Ausbildung her vielleicht Psychotherapeuten, bauen darauf Ausbilungs- und Trainingspläne. Visualisieren des gewünschten Verlaufes, Übungssequenzen zum Ablauf, psychische Emotionsfreiheit, Gelassenheit und Konzentration, Gleichgewichtsübungen und Statistikkenntnisse mit einem Schuss positivem Denken. Am wirksamsten umzusetzen und abzurufen mit Zeremonien, Ritualen, Amuletten und mit netten Gewohnheiten angereichert oder gar geschmückt. Vertrauen ist der Seele gegeben und die menschliche Freiheit in der Form der Willenskraft wirkt als Geschmacksverstärker.

Grundloses Bindungsübereinkommen

Ich bin gottenfroh, dem Abstimmungshype wegen der Durchsetzungsinitiative durch Auslandaufenthalt entgangen zu sein. Mir war klar, dass dieser Verfassungstext vom schweizer Stimmvolk als schlechte Literatur taxiert wird. Die Medien und einige Facebook-Friends waren in der Vorweihnachtszeit gegenteiliger Meinung und drohten den Abstimmungsabstinenzlern mit fahrlässiger Menschenrechtsverletzung. Eine diskriminierende Haltung, Secondos und Secondas als Ausländer zu behandeln und zu bezeichnen. Auch wenn diese es verpassten oder aus mir unbekannten Gründen sich dagegen entschieden, den Schweizer Pass zu bestellen und mehr oder weniger stolze Ausländer sind. Ich bin also gottenfroh, in der Bedeutung „herzlich froh, äusserst erleichtert“, dass ich mich wegen meinem zunehmenden politischen Desinteresse nicht dumm anmachen lassen musste.

Der Ausdruck „gottenfroh“ ist nur in der Schweiz gebräuchlich; Roger Federer hat seinen mentalen Zustand vor kurzem so bezeichnet. Die Deutschen sagen nicht etwa „tantenfroh“, sondern „gottfroh“, meinen damit aber das gleiche wie die Schweizer, einfach weniger familiär. Die Deutschen sind natürlich gottfroh über das Ergebnis der Gotthardabstimmung, welches meinerseits bedeutete, dass da nicht nur, aber auch meine Stimme gefehlt hat. Bin mal kurz weg, und die beschliessen, den Alpenkamm zu perforieren. Na gut, vielleicht ist die Sache doch nicht so richtig wichtig.
Die schönste aller Abstimmungen in meiner Stimmrechtskarriere war die GSoA-Initiative. Wirklich schade, dass die Armee nicht beim ersten Anlauf aus dem staatspolitischen Machtportfolio gestrichen wurde. Obwohl ja der langfristige Trend zu einer globalen Polizei unübersehbar ist. Zur Zeit läuft die Meinungsbildung zur Initiative „bedingungloses Grundeinkommen“. Eine Meinungsumfrage stellte fest, dass die Generation Y, also die jüngsten Stimmberechtigten bis etwa 35 Jahre, der Meinung sind, dass der Systemwechsel zum staatlich garantierten Grundeinkommen sowieso komme. Tatsächlich nehmen die Anhänger dieser Idee zu; für einige ist das der Rettungsring für den Liberalismus oder den Kapitalismus, für andere entsteht das Reich der sozialen Freiheit. In den frühen 80ern und in den Geburtsjahren der Generation Y haftete der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens gleichzeitig etwas Anarchistisches wie Akademisches an. Jetzt ist das Thema in der Realpolitik angekommen.
Ein Freund von mir hat sich stark für das Anliegen engagiert. Ich werde aus Solidarität mit ihm ein Ja zu dieser Initiative einlegen, obwohl ich das Ziel nicht für erstrebenswert halte. Ein Sympathie-Ja zu einem heute chancenlosen Vorstoss. Freiheit vom institutionellen Arbeitszwang wird mit dem Grundeinkommen verbunden, mehr frei verfügbare Zeit, Abschaffung der Sozialbürokratie, weniger Stress und mehr Selbstbestimmung, Überwindung von Kapitalismus und Sozialismus durch Freiheit statt Vollbeschäftigung. Die Köpfe hinter der Initiative sind klug und verstehen etwas von Technologie, aber sind echte Humanisten und stehen in einer soziallibertären Tradition. Die Kampagne gefällt mir. Echt happeningmässig, wie Tonnen Fünfräppler auf den Bundesplatz gekippt oder Zehnernötli an Pendler verteilt wurden. Das erinnerte mich an meine frühpubertäre ABA (Aktion für bessere Autos): Ich klebte Fünfräppler auf kleine Flugblätter, welche die Mikrospende als Beitrag an ein besseres Auto deklarierten. Und klemmte die gelben Zettel unter die Scheibenwischer der grössten Karossen vor dem teuersten Gasthof. Und ich sehe Jerry Rubin vor mir, wie er im Börsensaal eine Dollarnote raucht und einen Sack voll Banknoten in den Handelssaal hinunterkippt. Rubins Kultbuch heisst „Do it“. Später wurde er mit Apple-Aktien reich und vor seiner Haustür von einem Auto überfahren.
Das mit dem Geld ist so eine Sache. Wo Geld im Spiel ist, geht es nicht mit rechten Dingen zu und her. So denn auch auf der ökonomischen und finanziellen Seite des Grundeinkommens. Die Liberalen rechnen so, dass bei der neuen Auszahlungsart nach Abschaffung aller Sozialversicherungen und Unterstützungsleistungen noch etwas in der Kasse liegen bleibt. Die Schweizer Initianten hingegen reden von einem Grundeinkommen von Fr. 2’500.- pro Monat und einem jährlichen Finanzbedarf von 25 Milliarden. Der Bundesrat hat neulich seine Abstimmungsdokumentation aktualisiert und statt der selber errechneten Lücke von 153 Milliarden die vergleichsweise bescheidene Summe der Initianten übernommen. Das Problem besteht darin, dass das monatliche Grundeinkommen einen politisch nicht vertretenen Teil der Bevölkerung tief in der Armut gefangen hält und gleichzeitig die finanzielle Knebelung der ganzen Gesellschaft vorantreibt. Die Grünen sind für zusätzliche Mehrwertbesteuerung, der universellen Ökosteuer. Der ehemalige Bundesratssprecher Sigg, der die Initiative begleitet, schlägt eine neue Mikrosteuer vor. Eine Finanztransaktionssteuer, wie sie die linken Franzosen schon lange wollen, aber noch maschineller, so dass auch der Hochfrequenzhandel besteuert werden kann. Wir sind da im Bereich von deutlich weniger als einem Promille, das bei allen Finanztransaktionen abgezwackt werden soll. Tut niemandem weh. Aber gibt ein neues Problem: Die Finanzierung der Grundlebenskosten der Menschen ist direkt abhängig vom Transaktionsvolumen der Finanzwelt. Das ist nicht nur aufwändig zu kontrollieren, sondern auch ein chaotisches auf und ab. Die Besitzlosen kriegen Schiss vor einem Börsencrash. Sie sind die Würmchen im kapitalen Anus. Die Höhe des Grundeinkommens steht immer in der politischen Diskussion um das Existenzminimum.

Um die Virtualität der Finanzierung des Grundeinkommens etwas abzuschwächen, könnte existentieller über den Grundbedarf geredet werden. Jeder Mensch sollte nach Möglichkeiten für sich selber sorgen können. Dafür braucht er Grund und seine Arbeitskraft. Der Staat könnte jedem Einwohner eine Fläche von 200 m2 Kulturland zur individuellen Nutzung überlassen, mit der Möglichkeit zur marktgerechten Drittüberlassung. Gleichzeitig die Vorschriften für sogenannte Kleingärten etwas lockern. Die Individualterritorien würden etwa einen Drittel des heutigen Kulturlandes ausmachen, der Rest und die Pachtflächen könnten von Grossbauern weiterbewirtschaftet werden. Ja, die Gartensaison hat begonnen.

Das Meer liegt richtig

Bin ich von Suchmaschinen umzingelt? Im Dezember schrieb ich letztmals hier, thematisch über Lesen und Glauben (als getaufter Protestant nehme ich an, dass die Zusammenfassung „Lesen-und-Glauben“ aus meinen nackten Kinderfüssen den ganzen Weg der Nervenbahnen durchlief, um mir die Erinnerung hervorzufrufen, wie ich im Elternhaus als Bengel auf dem Klo sass und enttäuscht fesstellte, dass die langweilige Kirchenzeitschrift „Leben und Glauben“ die einzige Lektüremöglichkeit war). Seitdem verzeichnet die stats-site meines Blogs fast täglich mehrere Zugriffe und mehrfache Aufrufe.

Meine Reise schliesst direkt an den letzten hier publizierten Text zum Thema Lesen und Glauben an. Ich habe meinen flugzeugkabinentauglichen Rollkoffer mit Büchern gefüllt, im Grossgepäck waren Boulekugeln, Campari für mich sowie Schokolade für die dort, alles in ein paar Kleidungsstücke eingewickelt. Dort hab ich dann da alle meine Bücher gelesen, meist nachmittags, auf dem Tagesbett, zum Seitenblättern ein Deckenventilator mit einem stufenlosen Rotationsgeschwindigkeits-Drehregler, alles andere war mehr oder weniger Glaubenssache. Beim lesen merkt man weniger, wie dick und dicht Glaubensfeinstoffe in der Luft schweben. Als Vergleich könnte ich anführen: Die kleinsten Teilchen dieser philosophischen Substanz lagen wie ich auf dem Rücken, ein Arm jogamässig im Nacken, lasen aber heilige Texte. Meine waren profan und mussten von mir mehrheitlich schlechte Bewertungen vergewärtigen.

Aber wem erzähl ich das? Was soll da eine Suchmaschine mitnehmen und zurückmelden? Was kann sich jemand erhoffen, ausser einem gutgemeinten Scherz. Die maschinelle Lesung liefert Trockenfutter in die Dürre. Grunsätzlich ist Schreiben ein Widerspruch in sich. Man kann nicht von oder über sich selbst schreiben, weil wir uns selbst nicht objektivieren können. Man kann aber auch nicht nicht von sich schreiben, weil es keinen direkten Zugang zur Objektivität gibt. Wir sind so etwas wie der Spiegelsaal selbst, und manchmal sind wir der Besucher, der in der Mitte sitzt und durch ein Kaleidoskop staunt. Das wollte ich dem Webcrawler und dem Poesiebot mitgeben.

Trojanows Weltensammler landete zuerst auf dem Stoss der literarischen Überproduktion, bescherte mir dann aber doch noch literarisches Vergnügen, als ich in den minderwertigen Büchern rumkramte wie eine heilige Kuh im Abfallhaufen. Die Preisträger und -Kandidaten fielen wegen ihrem austauschbaren Action-Plot und den abwegigen Milieustudien durch wie anderen die indische Nahrung. Chestertons „Der Mann, der Donnerstag war“ traf bei mir in die Vollen. Ein anarchistischer Phantast, der schliesslich vom Papst ausgezeichnet wurde. Es geht natürlich um den Sonntag, ein glatzköpfiger dunkelhäutiger Riese, der im Dunkeln sitzt, die Wahheit lebt und auch mal auf einem Elephanten davonstiebt. Sonntag ist sowohl Anarchistenanführer wie Polizeichef und führt alleine Regie. Ich suche jemanden, der meine Sprech- und Textblasen zu diesem Text illustriert.

Geschrieben habe ich wenig. Der indische Alltag weist der Normalität eine solche Vielfalt zu, dass mein Geist und meine Phantasie meist in der Realität spazierten und nur in den Träumen in meinen Kopf zurückfanden. Das Leben ist Erlebnis, das gilt es zu erleben, dazu kann ich nichts zufügen. Subjekt- und Objektwelt sind stark ineinander verwoben. Die Aussenwelt wirkt als Verdichter und Verstärker; wenn Du irgendeine Angst in Dir trägst oder Schmerzen, Mangel oder auch nur Unglauben, so schaust Du ins Antlitz der Kali, die Dir einen galligen Blutschwall ins Gesicht spuckt, eine Kette aus Menschenschädeln um den Hals. Da braucht es dann schon geistige Spannweite, die schöpferische Kraft der Zerstörung wahrzunehmen. Wenn Du aber mit einem zufriedenen Lächeln gelassen herumspazierst, offenbart sich Deine Lieblingsgottheit. Ich meine, glauben wirkt stärker im subtropischen Klima. Dafür ist man auch anfälliger für hohe bipolare Amplituden. In Indien ist allerdings die bei uns allgegenwärtige Psyche praktisch unbekannt.

Jedes mal, wenn ich in Pondicherry angekommen bin, hat sich der Globus unbemerkt um seine Querachse gedreht, haben die beiden Pole der Erdkugel die Plätze getauscht. Auf der Fahrt von Chennai sind die Gestirne, Gelände und Gewässer dort, wo ich sie auf Grund meines Vorwissens vermute. Aber bei der Ankunft hat sich alles gedreht. Ich schaue gegen Westen, und da ist das Meer, und das liegt im Osten. Da hilft auch der Kompass nichts. Immer, wenn der Kompass meine subjektive Sicht oder den objektiven Fakt zu bestätigen schien, drehte die Nadel wild und vertauschte die Pole wiederum. Die Welt stand Kopf, ich aber auf festen Füssen. Auf meiner Südindienrundreise fuhr ich nach Süden los, von Norden zurück. Nun glaube ich endlich, was ich lediglich wusste. Das Meer liegt richtig.

Scire suscipio, ergo credo

Habe in Cabré gelesen, das Schweigen der Sammler (katalanischer Originaltitel: Jo confesso). Der schweift immer ab. Erzählt von jemandem, macht diesen dann zum Ich-Erzähler, neuer Dialog, das Erzähl-Ich wandert weiter. Diese Erzähltechnik ist seine Erfindung, eine literaturhistorische Innovation. Ich muss manchmal nachdenken, von wem die Rede ist, und nochmals nachlesen die Stelle, wo ein Er zu einem Ich wird und umgekehrt.
Dabei zündete ich mir eine Zigarette an, um zu rauchen, wie ich das gerne zur Lektüre mache. Die Rauchutensilien liegen auf einem kleinen Tablett im Caredda-Stil, das ich bequem neben mir auf dem Sofa liegen habe. Der Ascher fehlte. Ich wusste nicht, wo er war. Ich stand auf, ging ins Bad, kam mit dem verschwundenen Utensil zurück. Mit Nachdenken hätte ich eine Liste erarbeitet von möglichen Orten, welche ich dann in einer mit weiterem Nachdenken optimierten Reihenfolge aufgesucht hätte, um im Bad auszurufen: Ja klar, oder: Na sowas. Ich habe stattdessen einfach den Körper machen lassen.
Alle kennen das Phänomen. Wir nehmen vieles wahr, das nicht bis ins Bewusstsein vordringt, das wir also nicht wissen, nicht wissen können. Als jugendlicher Kinogänger hörte ich das Gerücht, in manchen Filmen seien einzelne Bilder von Coca Cola oder anderen Konsumangeboten vom Pausenkiosk eingefügt, welche wir nicht bewusst sehen können, aber die den Umsatz steigerten. Ich hielt das für möglich, aber unwahrscheinlich: Ich und meine Kinobegleitungen hatten noch nie einen solchen Film gesehen oder waren völlig immun gegen diese Hundertstel-Sekunden der optischen Suggestion. Jetzt habe ich bei einem katholischen Geistlichen gelesen, dass das mit den einzelnen Colabildern so sei und die experimentelle Psychologie da weiter forsche und mit Tachistoskopen experimentiere.

Subceptionsphänomen, unterschwellige Wahrnehmung. Polizeipsychologen haben Techniken entwickelt, zufälligen Augenzeugen von Unfällen und Verbrechen weit mehr Informationen zu entlocken, als sie gesehen zu haben wissen. Die Autonummer des Fluchtfahrzeuges ist dort gespeichert, wo die Coca-Cola-Reklame auf die Pause wartete. Kurz Reize von Hundertstel- oder gar Tausendstel-Sekunden werden zwar von den Nerven aufgenommen, aber kommen nicht zu Bewusstsein. Andererseits wehrt der Körper subjektiv negativ konnotierte Wahrnehmungsinhalte so weit wie möglich ab und versucht das Unbewusste mit schönen Eindrücken zu beglücken. Der Körper fällt ästhetische und moralische Urteile. Ohne dass wir es wissen, noch erfahren – es geschieht uns. Auf unser Unbewusstes ist Verlass. Dort, wo das Wissen aufhört, fängt der Glaube an. Unser Körper ist so ein Glaubensorgan. Das weiss man heute. Wir glauben mehr, als wir wissen. Weil ich das weiss, glaube ich.

Von Opferattentätern & Selbstmordschläfern

Ich kann Selbstmordattentäter irgendwie verstehen. So aus der Subjektperspektive. Wenn ich jetzt lebensmüde wäre und mich selbst aus dem Leben katapultieren möchte, würde ich es vorziehen, mich in Knall und Rauch aufzulösen, statt vor den Zug zu klatschen und vermatscht vom Triebwagen zu tropfen. Ob noch etwas mehr Leben von diesem serbelnden Drecksplaneten verschwindet, spielt keine Rolle. Der Vorteil eines Selbstmordattentats gegenüber einer ordinären Selbsttötung ist offensichtlich: Ich kann das Vorhaben in die Tat umsetzen, ohne selbst zur Tat schreiten zu müssen. Ich kann die andern dazu bringen, die Tat geschehen zu lassen, weil sie nicht zu verhindern ist. Der Auslösemechanismus übernimmt die göttliche Regie und ich führe das Endspiel auf.

Natürlich sind das heikle Aussagen, aus der Objektperspektive. Der christliche Kodex der Nächstenliebe spricht klar gegen den technisch assistierten und erweiterten Suizid. Bei uns im Abendland gibt es ja dergleichen auch nicht, und wenn doch, dann heisst das Amok (aus dem Malaiischen, nichts wirklich Heimisches). Aber stell Dir vor, Du bist Araber, Muslim, Du bist männlich, Du bist jung. Du hast die besten Jahre bei Mama schon hinter Dir und genug von dieser Welt und diesem Leben. Keine Lust, länger neben Deiner vom Papa ausgesuchten Ehefrau vor der Glotze zu sitzen und noch mehr Kinder zu füttern. Da soll doch der ältere Bruder mal dazuschauen, der kriegt eh keine eigene Familie hin. Und die Söhne und Töchter werden wissen, wo Du bist: Im paradiesischen Himmel! In einer solchen Situation ist es doch naheliegender, einen Sprengstoffgürtel zu kaufen statt einer Schwimmweste fürs Mittelmeer.

Es ist politisch korrekt, den Muslimen den Satz: „Ihr liebt das Leben, wir den Tod“ in den Mund zu legen. Aber das sind keine nekrophilen Thanatisten. Ich denke, die sind einfach nur scharf auf das Jenseits. Die lieben den ewigen Gott; die Seligkeit, in ihm zu leben. Und dies ist nun mal einfacher im Jenseits als im Diesseits. Blutzeuge seines Glaubens zu sein ehrt den Zeugen und den Erzeuger. Den Schlaf der Gerechten geniessen, wenn möglich Capri sehen und dann den verdienten Märtyrertod erleben und sterben. Das kann man doch niemandem verwehren.

Das wird man doch wohl noch sagen dürfen, wir haben hier Redefreiheit. Zumindest im Rahmen einer Verbotsliste von Wörtern und Worten, welche obrigkeitlich unter Strafe stehen. Oder politisch solchen Begriffen oder Aussagen gleichgestellt werden. Wie der Eingangssatz diese Abschnittes. Hinter der Redefreiheit lauert das Böse, verkleidet als mutloser Staatsfeind. Man muss höllisch aufpassen, dass man das richtig versteht, wenn man solche Sachen hört oder liest. Das tönt alles schnell skandalös & richtig bös. Sprachliche Sorgfalt ist geboten. Der japanische Kulturwissenschafter Arata Takeda zichtigt die Verwendung des Begriffs Selbstmorattentat der Verharmlosung, da der Ausdruck die Aufmerksamkeit von der menschenverachtenden Praxis ab- und dem schreckenerregenden Subjekt zuwende. Korrekter sei der Begriff Opferattentat, allerdings nicht, weil das den Fokus auf die Opfer richtet (unschuldig, kommen wohl direkt in den Himmel. Wahrscheinlich Märtyrerhimmel), sondern weil das ganze Phänomen im Kern ein regressives Menschenopfer sei. Gebratene Ungläubige für Gottes feinen Riecher. Allerdings wird die Sache mit den Opfern und Tätern durch den Begriff des Opferattentäters noch verwirrlicher. Rituelle Tötungen von Familienangehörigen und anderen Mitmenschen sind seit der prähistorischen Zeit gang und gäbe und kommen in allen Kulturen vor. Das gehörte zur Menschwerdung wie der Gebrauch des Feuers und später der Schrift. Ob gottgewollt oder zufällig: Das steckt alles in uns. Mit Montaigne: Jeder Mensch trägt das ganze Menschsein in sich. Auch die ganze Geschichte des Menschseins, möchte man ergänzen.

Beim einem der ältesten und gut dokumentierten Selbstmordattentat war das Attentat und der Selbstmord allerdings keine Koinzidenz, sondern eher das zweite, der Selbstmord, die Konsequenz: Die olympische Göttin Athene interveniert und beschlägt Ajax mit Wahnsinn, als er ein Attentat auf die Armeeführung plant, weil diese Odysseus zu Achilles Nachfolger ernannt hat und nicht ihn. In seiner Verblendung schlachtete Ajax einige Herdentiere statt der Heerestiere. Ein Attentat im lateinischen Wortsinn: Das Beabsichtigte, das lediglich Versuchte. Das war Ajax dann so peinlich, dass er sich ins eigene Schwert stürzte. In Griechenland machte sowas keine Schule.

Christliche Jihadisten tauchen dann im 4. Jahrhundert in Nordafrika auf. Sie nannten sich selbst Heilige und bekämpften unter Einsatz ihres Lebens die Regierung, die Geldverleiher, Sklavenhalter, Grossgrundbesitzer, die besitzende Klasse und den Lieblingsfeind, die katholisch-orthodoxe Kirche. Die Rede ist von den Agonistikern, nicht zu verwechseln mit den Agnostikern, welche die Frage nach Gott für unentscheidbar halten. Die Agonistiker tanzten nachts an den Gräbern ihrer Märtyrer. Jeder hoffte und betete, selbst den Märtyrertod erleiden zu dürfen. Gelegentlich stürzten sie sich auch einfach so von einem Felsen. Weder Römer noch Vandalen konnten dieser frühkommunistischen Glaubensgemeinschaft beikommen. Die Spuren verlieren sich erst in der Islamisierung. Das wahre Vorbild der Selbstmordattentäter ist aber die biblische Figur Simson (Buch der Richter): Er brachte einen Tempel zum Einsturz und hat so 3000 Philister zur Hölle geschickt. Das ganze hat sich in Gaza abgespielt, wo diese Art des Märtyrertodes und Selbsmordattentates seither gang und gäbe ist.

Die Zeit der Zönästhopathen

Wer kennt es nicht? Das Gefühl der Leere, das unter dem Schädel entsteht. Das kühle und kühne Gedanken aufsteigen lässt. Der Anflug, dass alles eine absurde Illusion ist. Oder Projektion. Sicher keine feststehende Realität. Ich weiss, dass ich lebe, aber ich schwebe über dem Leben.

Das Gefühl der Leere kennen wir alle, die der tierhaften Kindheit entwachsen sind. Wir haben uns über die Zeit einen pragmatischen Umgang damit zugelegt. Wir wenden uns einfach anderen Dingen zu. Wir akzeptieren das Gefühl und praktizieren Rituale, um in der Leere die Fülle zu finden. Wir klatschen das bad feeling mit unserem supramentalen Kraftwerk zurück in die bedeutungslose Ursuppe. Andere befreunden sich mit dem Nichts in meditativen Übungen. Einige können lächelnd durch die Leere ins Alles, ein einziger winziger Gedankensprung, der vielleicht eher ein Gefühl ist. Eher Perzeption als Reflexion.

Wir haben das Gefühl der Leere durch unser Selbst domestiziert, obwohl wir nicht wissen, was die Leere ist und wo das Gefühl der Leere herkommt. Wir wissen nicht einmal, ob es ein Gefühl oder ein Gedanke ist. Es kommt vielleicht aus dem Bauch, also ein Gefühl, aber es offenbart sich unter der Schädeldecke, also ein Gedanke. Aber ist es eine Vorstellung aus dem Fundus des Selbst oder ist es eine Reflexion einer sinnlichen Wahrnehmung? Wie soll ich die Leere überhaupt sinnlich wahrnehmen können? Ein blosses Hirngespinst also, das aus mir gelegentlich aufsteigt, seit ich unter dem Sternenhimmel nicht nur die Unendlichkeit wahrnahm, sondern auch die bedeutungslose Zufälligkeit jeglicher Existenz aus dem kosmischen Hintergrund rauschte. Cartarescu hat den passenden Satz gefunden: Du bist das Würmchen im eigenen Anus. Vor zweihundert Jahren hätte man dem Rumänen anästhetische Melancholie diagnostiziert.

Menschen, die in sich das Gefühl der Leere entdeckten und dadurch in eine ungewohnte reflexive Selbstentfremdung stolperten, tauchten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstmals auf. Zönästhesie wurde dieses Phänomen nun benannt, immer noch nach der aristotelischen Auffassung und Begriffstradition, dass diesen Menschen der allen Sinnen gemeine, innere Sinn abgeht, die Wahrnehmung mit der Reflexion so zu verknüpfen, dass wir wahrnehmen, was und dass wir wahrnehmen, und denken, dass wir denken. Aber genau dieser innere Sinn, der seit Aristoteles das zentrale menschliche Seelenvermögen darstelle, war hundert Jahre zuvor aus der Philosophie verschwunden. Descartes hatte das Konzept des Selbstbewusstseins entwickelt, welches nicht mehr auf dem sinnlichen Wahrnehmungsapparat beruhte. Cogito, ergo sum. Erst der Gedanke, dann die Existenz. Die einzige Gewissheit ist, dass ich denke.

Der Siegeszug des Selbstbewusstseins in der Aufklärung führte das Denken in gewagtere Bahnen. „Ich denke, also bin ich“ wurde experimentell und evolutionär um die Variante „Ich denke, also bin ich nicht“ erweitert. Ich denke, also bin ich weiss wer war. Ich weiss nichts, also denk ich irgend was. Die Geschichte des abendländischen Denkens drohte aus dem Ruder zu laufen. Im Fin de siècle standen Patienten bei den Ärzten Schlange und sagten: „Ich bin ein anderer.“ (Rimbauds vorbildliche Formulierung: „Ich ist ein anderer“ war noch nicht allgemein bekannt, der Satz steht in einem privaten Briefwechsel). Der Begriff Depersonalisierung wurde geprägt. Die Leute waren nicht verrückt, sondern glasklare Denker. Nicht mehr ganz bei Sinnen, aber ganz im Bewusstsein zu Hause, selbstverloren. Hirnis, cartesianische Nerds.

Heute stehen die Leute zu Hauf im Internet und sagen: „Ich bin Charlie“ oder „Ich bin Paris“. Wir sind nicht wirklich wir selbst, aber nehmen das auch nicht mehr so wichtig. Und irgendwie sind wir doch auch alle einer, auch wenn der eher ein Melancholiker ist. Zönästhesie und Melancholie sind im Weltgesundheitsorganisationskrankenkatalog WHO-ICD nicht aufgenommen, wir können uns aber problemlos mit den kategorialen Ausprägungen von Depression und dissoziativer Persönlichkeitsstörung abgleichen, um unsere objektive Verfasstheit zu reflektieren.

Auf dem Höhepunkt des psychosozialen Zönästhesie-Booms notierte der Genfer Autor H.-F. Amiels in seinen 17’000 Seiten umfassenden „Fragments d’un journal intime“ unter dem 8. Juli 1880: „Nunmehr kann ich die Existenz beinahe wie von jenseits des Grabes, wie aus dem Jenseits betrachten; alles ist mir fremd; ich kann ausserhalb meines Körpers und meines Individuums sein, ich bin depersonalisiert, unbeteiligt, abgehoben.“ Amiels nahm den wissenschaftlichen Diskurs auf und stellte der objektiven Diagnose Wahnsinn den Satz gegenüber: „Mir scheint jedoch, dass meine geistigen Transformationen nichts anderes sind als philosophische Experimente.“

Die Forscher forschten weiter, auch breiter. Mit der Demontage des cartesianischen Konzeptes des Selbstbewusstseins durch die Könästhopathologie wurde auch der unbewusste Teil des Selbst interessant, jener Teil des Selbst, der sich um nichts und niemanden schert. Es gab genug Beispiele, dass der Geist auch ohne irgend ein Bewusstsein eines Selbst fortbesteht: Ohmachtsanfälle, Bewusstseinstrübungen, hypnotischer Schlaf, Nervenzusammenbrüche. Alexander Herzen beschrieb den hypnotischen Schlaf als das Gegenstück zur könästhetischen Kopflandung. Totale Abwesenheit von Bewusstsein. Dann setzt ein vages Gefühl ein, das Gefühl von Existenz, ohne irgendeine Abgrenzung der eigenen Individualität, ohne Spur einer Unterscheidung zwischen dem Ich und Nicht-Ich. Philosophische Experimente.

Weisse Mentholzigaretten

Der lebendige Beweis, dass hohes Alter und Rauchen ganz vorzüglich zusammen passen, ist tot. Als Raucher finde ich das schade. Helmut Schmidt hatte das Rauchen als Privatsache behandelt, die man bitte tolerieren solle. In der Toleranzzone nur wächst langsam Kultur. Er rauchte überall und nirgendwo versuchte jemand, ihm das auszureden oder gar zu verbieten. Nur im Bundestag ordnete er sich dem schon langjährigen Rauchverbot unter und experimentierte mit Kautabak. Vielleicht war das nur politische Räson. Der Kanzler steht im deutschnationalen Organigramm nicht nur unter dem Bundespräsidenten, sondern auch unter dem Bundestagspräsidenten.

Da fehlt uns Rauchern nun eine Galionsfigur, welche dem deutschen Kulturbereich die Welt erklärte und dazu rauchte. Der uns vorführte, wie lächerlich diese Verbotskultur ist, welche den Menschen vor sich selber beschützen soll. Der Schmidt rauchte diese weissen Mentholzigaretten, auch der Filter ist weiss. Irgendwie weibliche Zigaretten. So hübsch, wohriechend, erfrischend, leicht. Und doch glühend, vollmundig, Atmung pur. Vielleicht waren diese Zigaretten das Geheimnis, das ihn seine Loki ein Leben lang lieben liess. Als mir im Frühling ein Nichraucher weis machen wollte, nun hätte sogar Schmidt mit dem Rauchen aufgehört, konnte ich seine Ehre retten, des Schmidts, nicht des Nichtrauchers Ehre: Er würde sicher gerne auch auf der Intensivstation rauchen, wenn er nicht so blödsinnig bewusstlos wäre. Auch wenn sich die eine oder andere Krankenpflegerin vielleicht mit ihm anlegen würde, weil sie den alten Schmidt nicht kennt. Aber dann ein Auge zurdrücken würde, weil die Zigaretten so schön weiss sind und eigentlich ganz gut riechen, auch wenn man hinterher lüften muss. Schmidt lag kurze Zeit mit Nikotinpflaster im Spital. Geraucht hat er dann wieder bis in seine letzten Tage.

Das mit dem Menthol kann ich schon nachvollziehen. Ich liebe es, Menthollutschtabletten zwischen rauchender Zigarette und Mundwinkel einzuschieben und die beiden Gaumenfreuden zu vermählen, neuronaler Doppelbeschuss. Aber das mit dem NATO-Doppelbeschluss kam mir damals unsinnig vor. Amerikanische Atomraketen in Europa sollen den Frieden sichern? Mir machte das Angst. Der kalte Krieg begann zu brodeln. Die Militärs unter der Führung der Amis (Dankeschön-an-die-Kriegsgewinner, ihr werdet es wohl wissen) massten sich das Sagen in Westeuropa an. Auf der anderen Seite Breschnew, ein Wrack im atheistischen Gottesstaat: Erstmals war der Boss der Kommunisten auch formaljuristisch Staatsoberhaupt. Der Kaiser hat sich selbst gekrönt. Kann man ihm nicht verübeln. Ihm wurde mitten im Höhepunkt seiner Karriere von sowjetischen Vertrauensärzten starke Hirnverkalkung diagnostiziert, da nützte auch das probate Gläschen Essig nichts mehr. Er steckte mehrere Herzinfarkte und Hirnschläge weg, bezwang seinen Ärger über die Pechserie mit reichlich Vodka und dominierte seine Entourage wie Hof und Heer und Geheimpolizei. Breschnews intellektuelle Fähigkeiten stark eingeschränkt, wertneutral formuliert. Alle hielten ruhig, bis er eines nachts die Machtinsignien fallen liess und morgens tot ins Mausoleum zügelte. Im Seniorenheim der polnischen Kommunisten munkelt man, nur der Papst Johannes zwei habe ähnlich Grossartiges erreicht.

Nein, neue Atomraketen in Europa brauchten wir nicht. Dank der Initiative und dem handwerklichen Geschick unser WG-Kindergärtnerin bauten wir an der Demo vor Ort eine riesige Rakete zusammen, die wir über unseren Köpfen trugen und auf der wir mit gemeinsam ausgeheckten Kurznachrichten die Welt mit unserer Meinung bedienten. Prompt wurden wir in den politischen Medien zum Bild-Sujet der Gesinnungspresse erkoren. Schliesslich wurden die Menschen scharenweise von den Raketenstartplätzen weggetragen und die Atombomben stationiert und startklar gemacht. Die umgekehrte Kuba-Krise, aber diesmal blieben die Atomraketen. Das Privatleben nahm  wieder Beschlag.

Schmidtchen Schmaucher stand hinter dem Stationierungsbeschluss, aber er setzte den zweiten Teil des Doppelbeschlusses durch: Die Drohkulisse wird aufgebaut, aber gleichzeitig das Gespräch mit dem Ziel der gegenseitigen Abrüstung intensiviert. Die politischen Begriffe „Aufrüstung“ und „Nachrüstung“ bekriegten sich und hielten sich in Schach, eine der vielen Formen von Tit-for-tat, nur war unklar, wer am Zuge ist. Schmidt hat tatsächlich zusammen mit Breschnew die spätere Abrüstung vorbereitet und eingeleitet. Dank seiner habituellen Raucherei behielt der Hamburger in der heissesten Phase der Weltgeschichte seit dem Amoklaufen der Nationen im World War two gekühlten Kopf. Meerluft, Mentholrauch.

Schmidt war der einzige, der so rauchen konnte, dass sich die Argumente in den ausgeblasenen Wölkchen auflösten. Seine dilettantische und anarchistische Seite lebte er beim Schach aus, da attackierte er den Gegner ohne jede vernünftige Strategie. Ich weiss nicht, was er von den Rauchverbots-, Raucheinschränkungs- und Rauchpräventionsprogrammen gehalten hat, ich nehme an, er hat dazu rauchend geschwiegen und den Überblick behalten, mal amüsiert, mal kopfschüttelnd. Im Schweizer Parlament liegt  wieder einmal ein Verschärfungspaket gegen das Rauchen vor. Rauchwaren nur noch an Volljährige. Die Arbeitsgemeinschaft Tabakprävention Schweiz argwöhnt, dass die Verkaufseinschränkungen wenig nützen, was sie aus der Haltung der Tabakindustrie ableitet, welche das Verbot unterstützt. Und trotz der Behauptung, der leichte Trend zu mehr Rauchern unter den 15- bis 25-Jährigen sei ganz stark auf die Tricks der Werbung zurückzuführen, ist niemand für ein Werbeverbot. Da beschäftigt sich eine eidgenössische Amtsstelle mit ihrem Lieblingsthema und beliefert gelegentlich die politische Bühne mit Zündstoff. Zigaretten sollen zukünftig in neutralen grauen Schachteln zum Verkauf gelangen. Wie komm ich dann zu meinen Lieblingszigaretten? Und der Schmidt lässt mich in dieser Situation ganz allein: Der Unsinn wird von der SP als zu harmlos kritisiert, von der SVP als zu einschneidend. Hätten wir einen Vertreter der Raucherpartei, so könnte der wenigstens dem Parlament von lins bis rechts vorführen, wie sich solcherlei Reglementierungen in Rauch auflösen lassen.

Mir kann das alles ganz egal sein. Meine erste Ernte aus Tabakeigenanbau konnte ich diese Woche fumieren. Wunderbar. Die Süsse des Virginia schmeckt hervorragend auf der Zungenspitze. Der türkische Samsoun liefert leicht salzige und bittere Noten im Gaumen. Im Rachen verflüssigt der Aufruhr und steigt ins Hirn. Nächstes Jahr werde ich einen Viertel meines Gartens für den Anbau des Schamanenkrautes Tabak reservieren und damit über meinen Eigengebrauch hinaus produzieren. Natürlich voll öko und bio, wenig eso. Die Schweizer haben im zweiten Weltkrieg die Tabakproduktion verdoppelt und ins Ausland verkauft. Vielleicht hat Schmidt damals Schweizer Tabak geraucht. Das hat ihm dann wahrscheinlich geholfen zu erkennen, dass die Nazis doof waren. Hätte er schon früher merken können, die haben ihn ja zur Hitlerjugend rausgeschmissen. In der Wehrmacht diente er sich zum Kompaniekommandant hoch und kämpfte an der Ostfront gegen Breschnews Vorgänger. Er geriet rechtzeitig in britische Gefangenschaft. Nach dem Krieg wurde er Sozi und begann zu studieren. Und rauchte dabei.

 

Auriger Nonseq – jetzt die Buchbesprechung!

Aurig, Nonseq – zwei Schlüsselbegriffe in Clemens Setz‘ Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“: Aurig (abgeleitet von Aura) bezeichnet ein Gefühl, das die Hauptfigur Nathalie vor dem Neuronenfeuer der Epilepsie verspürt. Non sequitur ist Nathalies Lieblingskommunikationsform: Dialogbeiträge, am liebsten in Chat-Form, haben keinen Bezug zum Vorhergehenden. Nonsens ist das nicht, da die Sinnfrage keine Rolle spielt.

Nathalie hat soeben eine erste Ausbildung als Betreuerin im Gesundheitswesen abgeschlossen, sich von ihrem langweiligen Freund getrennt und tritt ihre erste Stelle in einem Wohnheim an. Dort wird sie mit den aufwändigen Verhaltens- und Gesprächsregeln der professionellen Bezugsbetreuung konfrontiert, aber vor allem Teil eines undurchschaubaren Arrangements zwischen einem ihrer Beziehungs-Klienten, Herrn Dorn, und dessen wöchentlichen Besucher, Hollberg. Dorn himmelt seinen Chris Hollberg an und unterwirft sich ihm, nachdem er ihn vor Jahren so sehr mit Liebesbriefen und allerlei misogynen Provokationen bedrängt hatte, dass Hollbergs Frau sich das Leben nahm. Dorn, schon damals im Rollstuhl, wurde als Stalker verurteilt und schliesslich in das Wohnheim eingewiesen. Nach einigen ruhigen Jahren beginnen die Besuche Hollbergs, dessen Auftritte, Geschichten und Sprachbilder das Arrangement, das Heimpersonal und auch Nathalie dominieren. Hollberg kann sich alles erlauben. Nach Grenzüberschreitungen entschuldigt er sich, wechselt auf eine Meta-Ebene und stellt die Glaubhaftigkeit des Arrangements wieder her: Opfer und Täter verschwimmen, hier gibt es nur Gewinner. Nathalie ekelt sich vor Dorns abgründiger Besessenheit und seiner Schminkerei vor jedem Besuch, aber noch mehr widert sie Hollberg an, der ihren Klienten immer mal wieder demütigt und auch ihr gegenüber keine Grenzen oder Privatsphäre akzeptiert. Nathalie verstrickt sich in einen subtilen Machtkampf, der sie zur methodischen Komplizin macht. Nach 900 Seiten bricht sie in Hollbergs Haus ein und nimmt eine lebende Labormaus mit, nachdem sie im Schlafzimmer unter einer Glasglocke eine tote Labormaus entdeckt hatte. Hollberg hat Dorn Pralinen verfüttert, in denen Mäusefleisch versteckt war. Nathalie kündigt ihre Stelle im Wohnheim, aber am letzten Arbeitstag explodiert das ausgeweitete Arrangement: Hollberg überfährt Nathalies Kollegen Frank, der ihr zu Hilfe eilt, als Hollberg ausfällig wird. Die Polizei wird gerufen und nimmt Hollberg mit. Frank stirbt im Krankenhaus. Nathalie geht mit einem weiteren Kollegen, Lothar, in Franks Wohnung – und verprügelt ihn tüchtig. Das musste einfach sein, lässt sie ihn wissen und verschwindet.

Epilog, zwei Jahre später: Nathalie besucht den verurteilten Hollberg in einem Heim. Hollberg bietet sich an für eine Neuauflage des Arrangements.

Wegen diesem Plot liest niemand den überlangen Roman, auch wenn die Geschichte spannend ist und auch Kino im Kopf bietet. Vielleicht wirkt die Erzählhandlung etwas konstruiert, durchzogen von sich wiederholenden Mustern. Das eine gibt sich aus dem anderen, aber nicht einer Logik nach, ohne Ursache-Wirkungszuammenhänge, eher formal. Gewalt wird weitergegeben als eine Geste. Alle Figuren erzeugen fortlaufend ihre eigene Wirklichkeit. Der Roman geht aber über den Konstruktivismus hinaus. Wirklichkeit ist zwar eine Konstruktionsleistung, aber eine äussere objektive Wirklichkeit wird damit nicht obsolet. Äussere Wirklichkeit ist ein Baustein des eigenen Selbst-Konstruktes. Nathalie moduliert ihr Bewusstsein und ihre Stimmungen mit chemischen Wirkstoffen und realen Menschen, überlässt das Kommando aber ihren sinnlichen Wahrnehmungen und ihrem Assoziationsvermögen. Die Neurophysiologie hat ihren Platz im Ich-Konzept; Psychologie ist Illusion und kein Thema mehr.

Bei den Kritikern fällt der Roman durch, auch wenn dies und jenes gelobt wird: Synästhetische Gehirnmassage, dystopische Science-Fiction, nerdhafte Kryptokommunikation, Intertexting, Porno als Erkenntnismethode, binäres Erzähl-System erweitern die literarische Postmoderne. Aber das Werk sei eine Zumutung, die FAZ berichtet von der Qual des Lesens und der „Wut über die Aufzeichnung noch der letzten kuriosen Beobachtung, aus der nichts hervorgeht“. Das Buch ist das Gegenteil eines Entwicklungsromans und verstört durch die Auslassung psychologischer Motive und das Fehlen einer moralischer Richtschnur. Hier wird das Leben einfach abgewickelt. Das Innere der Figuren und ihre äussere Welt sind kommunizierende Wirklichkeiten, welche ineinander fliessen. Die psychische Entwicklung wird nicht zur zeitgemässen transhumanistischen Selbstoptimierung, sondern zum universalen Streaming. Wenn man sich in einen Life-Stream einloggt, spürt man Gemeinschaft und kosmische Verbundenheit. Die Vielfalt der Phänomene übersteigt das Vermögen der Vernunft und gebiert eine Selbstverständlichkeit von abgekühlter Metaphysik und symbolschwangeren Wundern.

Der Roman kann auch als literarische Version des Krankheitskatalogs ICD gelesen werden. Alle Figuren haben Attribute, welche man als Borderline-Symptome deuten kann. Ein Kritiker hält fest, dass die Krankenpflegerin Nathalie gewiss die Kränkste unter Kranken ist. Dem widerspricht aber der Verlauf und das Ende der Geschichte. Die Vermessung des Individuums nach den ICD-Kriterien ist fehl am Platz. Diese Etiketten zementieren die Zustände, die Arrangements. Nathalie aber ist provozierende Dynamik und sprengt immer wieder die Konventionen normaler Wirklichkeit. Statt auf psychologischen Realismus setzt Setz auf internetgetriebene Formen feinstofflicher Phänomene. ASMR, Synästhesie, Cleverbot, luminous details sind Begriffe aus dem Roman, welche sich nachzuschlagen lohnt! Im Roman werden diese Realitäten nicht nur beschrieben, sondern sind selbst literarische Methode. Der Roman greift damit über seine Fiktionsebene hinaus in die Wirklichkeit, direkt in unser Hirn. Wir können uns selbst bei einem Serotonin- und Dopaminschub erleben und beobachten. Das Belohnungszentrum im Gehirn kann ohne Umwege über Inhalte direkt stimuliert werden. Alle können sich einen Kopf-Organsmus bescheren. Entspannung in der Selbstreferenz.

 

Clemens J. Setz, “Die Stunde zwischen Frau und Gitarre”, Suhrkamp 2015. Wer das Buch lesen will, kann sich bei mir melden. Ich gebe mein Exemplar gerne weiter. 

 

P.S.
Die Einreihung von Setz‘ Roman in die Tradition des österreichischen Empiriokritizismus ist kreuzfalsch. Diese positivistische Erkenntnistheorie der Naturwissenschaften grenzt alles Metaphysische und Transzendente aus. Durch den Subjektivismus erhält die Theorie aber idealistische Untertöne. W. I. Lenin hat den reaktionären Charakter in einem Aufsatz bekämpft. Damit stellte er sich an die Seite der katholischen Kirche, welche den Fideismus bekämpfte und immer noch verurteilt. 1840 forderte Papst Gregor XVI. vom Theologen L.E.M. Bautin, seine Unterschrift unter einen Text zu setzen, welcher behauptete, in Wahrheit gebe es neben der Offenbarung auch „auf dem Weg einer rein natürlichen Erkenntnis Gewissheit über das Dasein Gottes.“

Cardiocrinum: Eine Songbesprechung

Das Flimmern zu Schlägen gebündelt, Teigballen balancieren auf der Kundalinie: eine tiefviolette Schokoladenfontäne in Zeitlupe, rückwärts gespielt. Die schwedischen Abzählreime recken sich Staubblättern gleich zur rotsamten Pollenwaage – Bindestriche im  schwankunglosen Lifestream des flottierenden Selbst. Die Stimme hallt und wiederhallt im Stirnchakra, Das Herz verleiht dem diffusen Sprühnebel den erdigen Geruch und die Wärme, welcher der digimetallenen Oberfläche Struktur und Raumhaftigkeit zuwenden. Die Maschine ist ein menschliches Organ, das die Allhaftigkeit, Gleichzeitigkeit und den Online-Status der Realität der Virtualität entreisst (ach dieser Genitiv! versaut alles! Wes-Fall und Wessen-Fall, wer weiss wes, was da wessen fällt oder gefällt, der ganze Stammbaum vor dem sein Dativ). Und einverleibt in die konstruktive Möglichkeit des blossen Daseins. Die Musik entströmt dem Hirn und kühlt es. Adjektive lassen sich zulegen.

Elephanten herdern tobend lautlos, die Unterlippe der Schnabelfische serviert die Pollenschleuder als Stecknadelkissen der Sozialbetreuerin. Im wässrigen Vakuum, eingeknotet mit dem akustischen Datenerguss und der kehligen Ursprünge. Sphärenkühle über dem Höllenherd. In Trab gehalten durch die Unvermeidlichkeit der Wiederholung, wenn die Zeit zur Abwicklung oder Aufführung gelangt. Als wäre die Wahrheit Taktgeber der Wirklichkeit! Die Wirklichkeit hält die Wahrheit intakt! White stick with a red light Floats past her on the right. Bist Du hungrig? Die Haare flattern und füttern die Wellenteilchen mit rötlicher Masse, gewandeltem Blut. Beidseitiges Cinch-head-docking. Die Sonne wandelt sich nachts in ausfliessenden Strom. Never ending loops. Living in space. On. Dirty epic.

Die faltigen Blüten legen sich schlafen wie eine versengte Hühnerherde. Aufgespannte Sehnen, kruzifixierte Trigger, durchbohrte Astralzonen; ein Spirallabyrinth von Obertönen und maschinengesteuerten Drohnen. Ein qualitätsgesicherter Urnenbepackungsautomat in lila, umnächtigt durch masselose Substanzen. Die Vergesellschaftung des Menschen (der Pastor: Der Mensch ist ein Wesen in Beziehung; in Beziehung zu anderen Menschen und zu Gott) geschieht durch lokale und temporale Koinzidenzen. Lifestreaming eben.

 

Bird 1 von Underworld. https://www.youtube.com/watch?v=RR98qq9iHmw . Nathalie hört den Song auf S. 281 in Clemens Setz‘ neuem Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“, der auf der Kandidatenliste 2015 für den Deutschen Buchpreis stand, aber wegen seiner Überlänge (mehr als 1000 Seiten) auf der Shortlist keinen Platz fand. Nathalie ist dünn („ein Sack voller Geweih“) und der Roman in einer Selbsthilfegruppe für Dicke.

Sjhl

Etwas oberhalb der Sihlhölzlibrücke, die zum Tunnel Richtung Enge führt, beginnt die Sihlpromenade mit beidseitig herrlichen Wegen unter einem überwältigenden Platanendach. Geht man rechtsufrig, also auf der linken Seite sihlaufwärts, so sieht man nach kurzer Distanz die höchste Schwelle der Sihl. Schätzungsweise 6 Meter hoch. Da tost und brodelt es ganz schön, wenn es geregnet hat. Kaltkochende braune Brühe. Bei trockenem Sommerwetter aber ist das idyllisch erfrischend. Lädt geradezu zum ultimativen Badespass. Schwimmend kopfüber in das Auffangbecken. Oder mit Luftmatraze rücklings fussvoran den Wasserfall runter.
Ich habe nie gefragt, wie er über die Schwelle schwamm. Ich habe auch keine Ahnung, wie er auf die Idee gekommen ist. Wahrscheinlich haben sie sowas als Jungs in Bayern gemacht. Man muss natürlich schon etwas Erfahrung haben, um die Gefahren richtig abschätzen zu können. Ist das Auffangbecken genug tief, dass man aus dieser Höhe gefahrlos eintauchen kann? Genügt die Wassermasse, dass sie sicher über die Schwellenmauer trägt? Ist die obere Kante genügend tief unter Wasser, dass man nicht hängen bleibt? Ist genügend Raum, um nötigenfalls am Boden entlang flussabwärts aus der Gefahrenzone tauchen zu können? Er muss alle diese Fragen mit ja beantwortet haben. Aber sie haben ihn tot aus dem Auffangbecken gefischt. Er sei in der Wasserwalze hängen geblieben.
Ich habe immer wieder mal an ihn gedacht. Jedes mal, wenn ich an dieser Schwelle vorbeiging.
Er war ein sympathischer Bayer, aus traditionellem Mittelschichtmilieu, der in Zürich Jus studierte. Schon vormittags legte er sich ein Paar Servelats in heisses Wasser wie Weisswürste. Das sah ich dann erst wieder im Arbeitermilieu von Chur. Er war ziemlich dick und kümmerte sich scheinbar nicht ums andere Geschlecht. Mit ihm hatte man immer das Gaudi. Der schwatzte von Anfang an Schweizerdeutsch mit bayrischem Akzent. Wirklich ein netter Kerl in der Studentenwohngemeinschaft nahe der Sihl.
Ich habe seinen Namen erst kürzlich vergessen.
Wenn man also links die Sihl hoch geht, so wird man gleich unterhalb der Schwelle einen Aussichtsplatz mit Sitzbank sehen. Wunderbar. Auf diese Idee kamen wohl damals die städtische Bauherren, weil sie stolz auf das Bauwerk der Schwelle waren und Befriedigung darin fanden, die von Menschenhand gestaltete Naturgewalt zu betrachten. Gefällt mir natürlich auch, weil ich da einen Ort finde, der identitätsstiftend und identitätserweiternd wirkt. Nur einmal, bei schönstem Wetter, war der Platz durch ein Päärchen besetzt, das noch so jung war, dass sie nach schönen Orten suchen, wo man kein Geld braucht. Sonst ist man dort allein und kann die Schwelle beobachten.
Es gibt einen kleinen Weg zur Sitzbank. Man geht gut zwanzig Schritte weiter, und bevor der Holzzaun endet und ein Stahlgitterzaun beginnt, findet sich ein Tor, geschlossen, aber wenn man über den Zaun greift, lässt es sich öffnen.
Auf der anderen Sihlseite, vis-à-vis, gibt’s ebenfalls eine Sitzbank. Aber kein Tor. Da muss man über den Zaun rüber. Darum ist der Aussichtsplatz dort versifft. Dort hauen sich Junkies einen rein.
Da sind Fische, die den Fluss hochschwimmen wollen. Wahrscheinlich zu ihrem Geburtsort, wo sie Junge zur Welt bringen wollen. So ist das doch bei diesen Fischen. Überall werden Fischtreppen gebaut, damit die Fische wieder etwas besser ihrer Natur gemäss leben können. Aber von der Sitzbank unter der Sihlallee sieht man das dramatische Kämpfen gegen die Unmöglichkeit. Da gibt es Fische, würde mal sagen Forellen oder etwas Verwandtes, einige weit über 30 Zentimeter, die springen bis über 2 Meter hoch, bis sie wieder heruntergespült werden. Erinnert an Fitnesscenter, aber die Fische haben keine Chance.
Also. Tun wir war für die Fische. Und für uns. Machen wir Verschönerungskunst, natürlich ökologisch, sozial, nachhaltig. Bauen wir eine Fischrutschbahn mit Steig-Aufzug, Beobachtungsgalerie, Videoübertragung und interaktivem Archiv. Ein grosses Wasserrad mit Wasserkästen, durch den Wasserfall betrieben. Fische, die im Auffangbecken in die ruhige Zone schwimmen, werden von einem der Kästen hochgehoben. Auf dem höchsten Punkt, deutlich über der Schwellenkante, öffnet sich die Kastenaussenwand, und das Wasser giesst sich in eine Rutsche. Schwupp, der Fisch landet im Oberlauf.
Die Apparatur produziert die Aufhebung der Fischsperre durch die Wasserkraft der Schwelle. Die Energie wird benutzt, um einen Teil des heruntergefallenen Wassers gleich wieder hochzuwuchten. Aber nicht wie ein Pumpspeicherkraftwerk, dem Energieverlust durch Rückverwandlung zum finanziellen Vorteil gereicht, sondern durch unmittelbare Nutzung der Energie, mechanisch, kontinuierlich, langfristig.
Dem Betrachter zeigt sich ein Wasserspiel. Und ein Fischroulette. Man kann beim Rad und Steigaufzug Wetten abschliessen. Wer darauf wettet, dass in einem Wasserkasten ein Fisch von deutlich mehr als zehn Zentimeter Richtung Rutschbahn fährt, und tatsächlich schwimmt ein solcher Fisch im hochkommenden Kasten, kassiert eine Quote von 1:10. Wer auf dem Abendspaziergang ein Zehnernötli setzt und Glück hat, geht in ein Speiselokal und verprasst einen Hunderter.
Und gleichzeitig sind die Zockerkästen unendlich beschaulich. Geradezu Zen. Dieses Schauspiel kann man sich via 3D-Livecam zu Hause anschauen. Wird schnell Kult werden: Immer dieses leicht trübe Wasser mit Oberlichteffekten, und plötzlich sind wir Aug in Auge mit einem Fisch, so lange er hochfährt. Vom Bildschirm aus verbreitet sich meditative Stimmung in der Wohnung. Auch geil zum chillen und loungen, vor allem mit der life erzeugten Wasser- und Fischmusik.

Tretet dem Syndikat Verschönerungskunst bei!

Ohnesorg gerät in Gender- und andere Probleme

Ich habe mir Kanarienvögel besorgt. Der spanische Züchter fischte mit einem Netz den dunkelorangen Vogel, der mir besonders gut gefiel. Einen kräftigen und geübten Sänger hätte ich gewählt, bemerkte er hochtrabend. Zu des Vielversprechenden und zu meiner eigenen Freude gesellte ich ihm ein zartes, zitronengelbes Weibchen mit einer schwarzen Haube – einer Judenkappe, meinte der Spanier, und überdies sei das Geschlecht bei Kanarienvögel äusserst schwer zu bestimmen – dieses junge Weibchen gesellte ich also dem flammenden Sänger bei. Kanarien-Weibchen können Eier legen, Männchen können singen.

Die Kanariengirlitze gelangten über den spanischen Hof in die deutschen Fürstenhäuser, in die Volièren deutscher Züchter-Bauern und schliesslich zum Abgesang in die Metall-Bauer der kleinen Leute der sechziger Jahre. So kam ich auf den Namen Benno für den orangen Super-Star: Benno, ein Wendepunkt der deutschen Geschichte. Der Freude über Bennos weibliche Gesellschaft gab ich im Namen Uschi Ausdruck. Doch die Kanaria hielt nicht, was der Obermaier Namen zu versprechen versprach.

Die Uschi wurde täglich aggressiver und störte den ruhigen Sänger in seinem klingenden Stolz. Am Objekt optisch durchgeführte Versuche zur Überprüfung der durch den Spanier vorgenommenen Geschlechtsbestimmung scheiterten ergebnislos. Im wärmenden Licht der Sonne begann Uschi plötzlich mit unbeholfenen Stimmproben und Tonfolgen. Benno verstummte und erhob seine Stimme auch in den kommenden Tagen nicht mehr. Uschis Aggressivität und Dominanzgebahren verschwand fast vollständig und machte einer liebevollen Zuneigung zu Benno Platz. Die beiden Vögel schnäbelten, putzten sich gegenseitig und begannen in der Dämmerung zu kuscheln.

Vorläufig hielt ich an meinem Plan fest, das gefertigte Nest einzubauen, wenn die Nächte länger werden würden. Doch die Geschlechterverhältnisse lagen nicht so wie die namentlichen Rollen, auch nicht umgekehrt. Benno sass öfter wieder auf dem oberen Stängel und zwitscherte wieder fröhlich seine Lieder. Dann tauschten sie die Rollen und Uschi machte ihre akustischen Darbietungen, jetzt als Schülerin oder Schüler erkennbar. So wechselten sie sich ab und Uschi machte stimmliche Fortschritte, bis sie gemeinsam zum zweistimmigen Duett ansetzten. Sie singen toll, die beiden Kanarienvögel, auch wenn sie sich phasenweise etwas schwul benommen haben, aber da wird bestimmt keiner Eier legen und für Nachwuchs sorgen.

Da musste ein Prachtsweibchen her, diesmal zur Sicherheit aus einer Zoohandlung, mit der mündlichen Versicherung, dieses ausgewachsene Exemplar habe bereits einmal Eier gelegt und die Jungen ausgebrütet und werde dies sicher bei nächster Gelegenheit wiederholen, eine lebensfrohe Zuchtstute im gelben Federkleid. Die Blondine hätte überdies einen russischen Sänger zum Vater: http://rus-canary.ru/sound/58sec.mp3 Ich nannte das Gelbchen einfach Du; einen passenden Namen würde ich erst wählen, wenn mir die Eier zu Auge kommen.

Ich hatte es ja zumindest in Kauf genommen, auch wenn ich das so nicht erwartet hatte. Benno und Uscho, wie ich die transgenderierte Uschi nun nannte (man muss hier von Gender sprechen – die Aussagen über das Geschlecht des Hauben-Vogels waren die reinste soziale Zuschreibung durch den spanischen Macho-Zuzü-Zufallszüchter), gerieten durch den Zuzug sofort in helle Aufregung. Das Weibchen seinerseits stand eingeschüchtert in einer Ecke des Stallbodens und flatterte ängstlich, sobald sich einer der geilen Sänger in die Nähe wagte. Uscho und Benno gingen ständig aufeinander los. Das unglückliche Dreieck artete aus und gipfelte in einem Doppelangriff der brüllenden Girlitze auf das zitternde Weibchen.

Ich musste eingreifen und erwischte zuerst Benno. Ich hielt ihn in der rechten Hand wie eine Boule-Kugel (Boule-Kugeln muss man in der Hand halten wie ein Vögelchen) und liess ihn im Badezimmer frei. Als ich zurückkam, sass das Weibchen auf dem untersten Stängel, Uscho, den ich gleich in Urso umtaufte, gegenüber und weiter oben. Beide ruhig. Es gab nur eine vernünftige und nachhaltige Lösung. Ich fuhr ins Brockenhaus und kaufte den erstbesten Vogelkäfig, mit Futter- und Trinkgefässen ausgestattet. Diese füllte ich zu Hause mit Wasser, mit einer Kernenmischung samt einem Blatt Salat und stellte den Käfig vor die Wohnungstüre, das offene Türchen zum Gang.

Pop-up-Zoo, Urban Rewilding: Am nächsten morgen liess ich Benno im gedeckten Innenhof fliegen. Er passt farblich hervorrangend in diesen halböffentlichen urbanen Durchgangsraum, der völlig unbespielt brach liegt. Die einen Wände sind tiefrot gestrichen, der Rest in einem gelblichen Beige. Neben der Informations-Vitrine beim Hauseingang brachte ich ein Foto von Benno an mit dem Vermerk, dass er mir entflogen sei, ich ihm seinen Käfig samt Nahrungsmittel vor meine Wohnungstüre gestellt habe und setzte meinen Namen mit Handynummer und Mailadresse darunter. Als ich in die Wohnung zurückging, sass Benno im obersten Stock auf dem Geländer und zwitscherte fröhlich. Später meldete sich ein junger Hausbewohner, ein Stockschwuler, dem ich bereits einmal begegnet bin, als sich mein Sohn seine Katzen anschauen wollte, für die er jemanden zum hüten suchte. Er teilte mir mit, dass er Benno gesehen habe, wie gut ihm das gefallen habe und wie er geradezu beglückt worden sei, als er Benno habe singen hören. Meinerseits beschränkte ich mich auf die Versicherung, dass Benno sicher bald wieder im Käfig hocken werden, da er ein Stubenhocker sei.

Am nächsten morgen sass Benno vor der Wohnungstür im Käfig und wartete das Kommende ab. Ich scheuchte ihn aus dem Gehäuse, spazierte durch die Innenhofgänge und wischte da und dort etwas weissen Kot von den Geländer-Oberflächen. Benno sauste gerade vorbei, als der Hausmeister auf seiner Putzmaschine lachend bemerkte, den Boden müsste ich nicht absuchen, das erledige seine Maschine. Dem Vogel scheine diese Volière zu gefallen, meinte er und versuchte, Benno mit Pfeifftönen anzulocken. Er ist weder stubenrein noch handzahm, bemerkte ich, ein ziemlich wilder Kerl. Der Hausmeister winkte und fuhr weiter. Ich versteckte da und dort ein Häufchen Kerne, um das Nahrungsangebot für Girlitze der Grösse des neueroberten Lebensraumes anzupassen.

Auf meinen Kontrollgängen bemerkte ich, dass auch vor anderen Wohnungstüren Wasserschalen und Vogelfutter bereit gestellt wurde. Ich beobachtete, wie Benno auf dem Geländer sass und zu singen begann, als sich die Wohnungstür vor ihm öffnete. Die junge Frau machte einen kleinen Schritt auf Benno zu und begann zu strahlen. Das orange Gefieder spiegelte sich in ihren Wangen. Haben sie das gehört, piepste sie vor Freude, als sie mich bemerkte. Ich liebe diesen Singvogel im Innenhof, ich würde alles für ihn tun. Ich nenne ihn Bruno, so heisst der Bruder meines Bräutigams Benno, er ist auch Musiker. Oh, dieser süsse Vogel, er kann jeden meiner Wünsche zur Erfüllung bringen. Dann sollten Sie ihm wohl ein Kanarienweibchen kaufen, sprach ich zu ihr, das ist sein Herzenswunsch. Natürlich nur, wenn sie Kinder wollen, denn wenn Bennos Weibchen Eier legt, werden auch die geheimsten unbewussten Wünsche nach einer Schwangerschaft wahr. Sie machte grosse Augen und lächelte. Wahrscheinlich hatte sie schon in diesem Moment das Kanarienweibchen erkürt und das Vogelpäärchen auf dem Schwellbauch gespürt. Noch in der gleichen Woche flog ein hellgelber Kanarienvogel durch den Innenhof, den ich sofort als Weibchen wahrnahm. Nur wenige Tage später habe ich zwei Wellensittiche entdeckt. Ich entfernte alle Spuren, die zum evolutionären Ursprung dieser bedrohlischen invasiven Neozoen führen könnten. Ein Beo durfte natürlich aus ästhetischen Gründen auch nicht fehlen. Wahrscheinlich hatte sich jemand an die Verwaltung gerichtet, vielleicht war es dem Hausmeister aus beruflichen Gründen plötzlich zu viel, nachdem auch noch Papageien aufgetaucht sind und im Erdgeschoss jemand Küken in einer Kiste hegte. Die Verwaltung unterlag schliesslich. Neue Bewohner der Liegenschaft müssen mit dem Mietvertrag jetzt ihr schriftliches Einverständnis zu dieser In-out-Anarchie abgeben. Das hat der schwule Katzen- und Überhauptallerlebewesensfreund auf seiner Facebook-Seite bekannt gegeben. Er hat einen Bewohnerverein gegründet, der das Urban-Rewilding-Projekt trägt und in den Verhandlungen mit der Verwaltung ihr Ziel erreichte, als im Internet die urbane Vogelfarm furore machte. Die Verwaltung beharrte aber auf dem rigiden System der Schliessanlage, weil sie den Ärger mit angelockten Schaulustigen vermeiden wollte. Ich bin froh, dass Urso und Yschi (der Name ist provisorisch, sie hat noch keine Eier ins Nest gelegt) zu mir in die Wohnung zurückflogen, als ich sie zur Abstimmung mit den Flügeln einlud und sie das oekotrophologische Experiment im Überflug begutachteten und als Alternative zur aktuellen Lebenssituation ausser Betracht zogen.

Hrbst

Die Deutungshoheit der Konsonanten wächst aus dem Vokalgesang im Buchenstab. Milchige Drüsen unter reinen Poren schwellen die Kerne zur Wärmebrücke. Austrocknung und Moder zehren Chelat-Komplexe oxygener Phototrophen, mehren loderndes Gelb und  letales Rot. Gipfeln Edelfäulnis zur letzten Süsse. Schlösser und Türme kehren zurück als schwiegen die feuchten Hügel. Der Achselhöhlen Sänfte wiegt die schläfrigen Lieder; die Früchte hängen dicht im Steckmuschel-Haar, vom Einsiedlerkrebs beigewohnt.

Verstossen die fleischigen Hüllen, empor die fülligen Strahlen. Zungen wie Schmetterlinge beben der Gestirne Lauf. Membranen kreissen ölige Tröpfchen, ein Wort berührt das andere, Buchstaben schlüpfen aus Stämmen der sämigen Sprache. Die Kieselsteine sortieren sich im Mondlicht bis zum Verblassen der Satzzeichen. Die Lautschrift wird leise und zerstiebt das Gurren der Mitschwinger samt Aufruf. Abklang.

Abzug der Herden. Abgang der Bauchfreien. Abhang des Wildes inmitten dösender Lichtpilze. Kreuchende Dämpfe aus erdigem Satzbau wärmen die Rundung, aus der die Konstanten entweichen. Der flammige Geist der Gleichungen schwindet, selbst Axiome dörren und spröden. Wie sandige Ufer brechen Wahrheiten weg. Unterspühlt wie umgarnt von buchstäblichen Spielen. Berührende Brücken spiegeln sich in den ausgewaschenen Körnchen. Farbige Flanschen füllen die schlierigen Taschen mit krümelnden Lauten.

Moment, bitte!

Wer wartet schon gerne! Wartezeit ist verlorene Zeit, ja, gestohlene Zeit! Es gibt kaum Berufe, bei denen man fürs Warten bezahlt wird. Für die ausgewiesene Wartezeit am Postschalter gibt es keinen Ausgleich auf den Versandgebühren. Die wachsenden Strassen-Staukosten haben noch keine positive Gegenbuchung in der nationalen Bruttosozialproduktberechnung. Warten wird nicht bewirtschaftet. „Warten ist schädlich und verursacht den Krebsgang unserer Volkswirtschaft.“ Wenn die Mitteparteien bei den nationalen Wahlen zulegen, klebt dieser Satz an allen Geschäften mit Kundenkontakt; die Bundesfachstelle für Tabak- und Zeit-Missbrauchsbekämpfung will das so. Die Grossverteiler werden aus eigener Initiative sogenannte „Schlangen-Kassen“ einführen, damit die sparsame und ärmere Bevölkerung sich dort für einen Warte-Rabatt anstellen kann. (Ich habe jetzt einige Substantiv-Komposita mit einem Bindestrich ausgestattet, der einfacheren Lesbarkeit halber Halbe-Halbe gemacht, obwohl ich ein Freund von zusammenschreiben bin, wie etwa „wartenmüssen“, „wartenlassen“, „wartensmüde“, „wartenkönnen“ – im Deutschen Wörterbuch sind diese als Worte verzeichnet – der Korrektor) Wir warten nicht gerne.
Wir lassen auch ungern warten. Zu Terminen erscheinen wir lieber etwas zu früh, angeblich aus Höflichkeit, auch wenn das für die andere Person meistens nachteilig ist, ja zu unangenehmen Situationen führen kann. Sind wir privat verabredet und erscheinen kurz nach der vereinbarten Uhrzeit, so machen wir die Dauer der Wartezeit gleich zum Thema, sprechen unser Bedauern aus und führen das Warten des anderen auf dafür ursächliches Warten der eigenen Person zurück. Warten führt zu noch mehr Warten; ein Teufelskreis aus der Zinswirtschaft.

Wir warten nicht gerne, wir lassen ungern warten, aber innerlich warten wir oft. Wir warten, bis die Kaffeemaschine heisst ist, wir warten, bis das Duschwasser warm ist, wir warten bis das Tram kommt, wir warten auf die Znünipause, das Mittagessen, den Feierabend, das Wochende, die grossen Sommerferien, die noch grössere Liebe, die Weltreise, die Pensionierung, den Tod, die Wiederauferstehung. Wartet schnell, das grosse Warten kommt bestimmt!

Wir haben unsere Strategien und Methoden entwickelt, die Wartezeiten zu verkürzen, zu überbrücken, zu negieren. Die führende Technologie in diesem Time-Marktsegment sind kleine internetfähige Apparate. Damit kann man auch veraltete Wartetechniken erkunden wie zeitschriftenlesen, rätsellösen, rumalbern. Rumalbern ist wohl eine der ältesten Techniken, Wartzeit totzuschlagen und sich darüber auch noch totzulachen. „lang warten ist verdriszig, es macht aber die leut witzig“ (Originalsschreibweise), stellte der lutheranische Pfarrer Lehmann 1640 fest. Warten in dieser Bedeutung von „harren“ („warten bis“, „warten auf etwas oder jemanden“) war damals eher selten. Ursprünglich bedeutet warten „seine Aufmerksamkeit auf etwas richten“, warten ist ein gemeingermanisches Wort und stammt aus der Wurzel „wahren“ = sehen (daraus „wahrnehmen“ und „Wahrheit“). Im deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm (ja, die Märchensammler!) folgen dann alt-, mittel- und neuhochdeutsche Belege von warten im Sinne von „versorgen“, „pflegen“, „einem dienen“. Die positiv konnotierten Bedeutungen sind im Laufe der Zeit zum Servicetechniker geschrumpt. Heute werden nur noch technische Anlagen oder Informatiksysteme gewartet.

Die Brüder Grimm haben ihre Sammlung von Bedeutungen und Belegstellen aller deutschen Wörter 1838 begonnen. Fertiggestellt wurde das Deutsche Wörterbuch 1961. Die erste Aktualisierung wurde durch die deutsche Wiedervereinigung verzögert und wird in den nächsten Jahren erwartet. Die grimmigen Pioniere scheuten sich damals auch nicht,  Schimpfwörtern und „unfeine“ Wörtern in ihre Sammlung aufzunehmen. Die 33 Bände stehen in öffentlichen Handbibliotheken zur freien Verfügung und das ermöglichte mir, in meiner Promotionsschrift das Wort „geil“ in einer Fussnote zu erläutern und die Belegstelle bei Göthe auszuweisen. Um die Jahrtausendwende wurde die Digitalisierung des Deutschen Wörterbuches in Angriff genommen. In China wurden an zwei unterschiedlichen Standorten die gut 300 Millionen gedruckten Zeichen manuell in ein binäres System eingetastet. Was in der Zeichenfolge der beiden Versionen redundant erschien, wurde als richtig taxiert. Heute ist das DW retrodigitalisiert online.

Die Bedeutung von warten als „harren“ („erwarten“, worauf rechnen“) ist erstmals belegt bei Notker, Notker dem Deutschen, obwohl er Thurgauer war. Der Leiter der Klosterschule St. Gallen übersetzte für den Hausgebrauch, aber aus Leidenschaft, griechische und lateinische Schul-Klassiker ins Althochdeutsche. Notker gilt als erster Aristoteles-Kommentator des Mittelalters, hat auch Boethius übersetzt, der sämtliche Werke von Sokrates und Plato in Lateinische übersetzen wollte. Notker hat diese heute dominierende Bedeutung von warten um das Jahr 1000 niedergeschrieben. In einem ganz anderen Zusammenhang lese ich beim Kultur- und Mentalitätsgeschichtler Philippe Ariès, dass sich ab dem 11. Jahrhundert in der Welt der Mönche und Kanoniker „die traditionelle Beziehung zwischen dem Selbst und den Anderen zum erstenmal umkehrt: das Gefühl der eigenen Identität gewann Oberhand über die Unterwerfung unter das kollektive Schicksal.“ Und der Philosph und Literaturhistoriker Heller-Roazen stellt fest, dass der Begriff des „Selbst“ erst zu dieser Zeit in der Philosophie auftaucht. Passt doch zur Sprachgeschichte. Warten bekam eine neue Haupt-Bedeutung, als die in der Christenheit weitverbreitete Erwartung der Wiederkehr Jesu und des jüngsten Gerichtes um die erste Jahrtausenwende n. Chr. enttäuscht wurde. Seitdem warten wir anders. Wir warten auf Godot, den Messias des Absurden. Wir sitzen alle in der gleichen Warte-Raum-Zeit fest.

wilhelm.schmid@lebenskunstphilosophie.de

Lieber Wilhelm Schmid

Deine Lebenskunst-Philosophie kam mir gelegen, als ich in der Krise lag. Meine bisherigen Lieblingsphilosophen versagten in dieser Situation. Deine Ausführungen über das Mit-sich-selbst-befreundet-sein stimmten mich aber selbst mir gegenüber milde und ermunterten mich, das Beste aus all dem zu machen, was sich nicht nach meinen Vorstellungen zugetragen hatte. Bei der beruflichen Tätigkeit, die mir danach zufiel, waren mir einige Deiner Sätze Richtschnur und bald zitierte ich Dich bei Gelegenheiten zu grundsätzlichen Aussagen. Mir gefiel Deine Tätigkeit im Spital des Zürcher Säuliamtes wie Deine Biographie und berufliche Laufbahn. Gerne nahm ich auch mal Platz in einem Vortrag über Palliativmedizin, den Du in Zürich gehalten hast. Jede Begegnung mit Deinem Denken war bereichernd. Dein Buch „Die Liebe neu erfinden“ kam just in meine Hände, als ich genau damit beschäftigt war. „Dem Leben Sinn geben“ kam dann etwas spät, diese Frage hatte sich von selbst erledigt.

Meine gedankliche Nähe zu Dir wurde so bekannt, dass ich Dein rotes Büchlein „Gelassenheit“ gleich dreimal geschenkt bekam. Ich war darob höchst erstaunt, meinte ich doch, dass ich einen reichlich bemerkenswerten Zustand der Gelassenheit bereits erreicht hätte. Ich kann natürlich nicht ausschliessen, dass das von aussen anders wahrgenommen wird und mir deshalb die roten Ratgeber in guter Absicht überlassen wurden. Ich habe dann auch das Werklein gelesen und darin bemerkenswerte Sätze gefunden. Ein solches Zitat habe ich in einer Dankesrede verwendet, bevor ich wusste, dass ich zum dritten Mal für ebendieses rote Büchlein danken werde. Soeben habe ich ein Interview gelesen, in dem Du über die Entstehung dieses Bestsellers Auskunft gibst. Du hast das Werklein in Verarbeitung Deiner Wahrnehmungen anlässlich Deines 60. Geburtstages geschrieben. Das machte dieses Büchlein zu einem passendes Geschenk zu meinem ebenso runden Geburtstag, den ich mit Stolz gefeiert habe.

Du hast mal berichtet, Dein Vater hätte zu seinen Kindern eines Tages gesagt: Schaut mal her, jetzt könnt ihr lernen, wie man stirbt. Das ist wunderbar, wenn man so lernen darf zu sterben. Andere brauchen länger (Montaigne: Philosophieren heisst sterben lernen). Gerne würde ich erfahren, wie das Dein Vater denn gemacht hat, das Sterben. Auf jeden Fall scheint da ein väterlicher Wille spürbar, zumindest eine aktive Einwilligung. Man stirbt, man wird nicht gestorben. Deshalb erstaunt es mich, dass Du von Selbsttötung sprichst, wenn jemand aufhört zu trinken. Ich weiss, dass Deine Formulierung der rechtlichen Situation in Deutschland entspricht. Das Recht geht so weit, dass man jemanden, der sich auf sein Sterbebett legt und aufhört zu trinken, in eine psychiatrische Klinik einweisen kann. Unter bestimmten Umständen ist Zwangsernährung statthaft. Das schweizerische Bundesgericht hat 2006 immerhin festgestellt, dass die Europäische Menschenrechtskonvention in Art. 8 das Recht des Subjektes, über Art und Zeitpunkt der Beendigung des eigenen Lebens zu entscheiden, mit beinhalte. In Deutschland müssen Sterbehelfer den Sterbenden aber verlassen, weil sie sich sonst wegen unterlassener Hilfeleistung strafbar machen. „Vor dem Gesetz steht das bewusste Zulassen einer Gefährdung dem absichtlichen Zufügen von Leid gleich“, persifliert Juli Zeh die Rechtsentwicklung in ihrem Roman Corpus Delicti. Die Subjektperspektive wird zunehmend verdrängt, Selbstoptimierung wird zur Selbstobjektivierung. In Zukunft wird man sich sterben lassen.

Gerade vor dem Hintergrund der politischen Diskussion über Sterbehilfe scheint es angebracht, Alternativen zur Suizidbeihilfe zu überdenken. Der Zulauf zu Sterbehilfeorganisationen und der Trend zu technisch-juristischer Selbsttötung scheint ein Hilfeschrei einer Gesellschaft, die den Tod verdrängt und das Sterben verlernt hat. Vor einiger Zeit wohnte ich einer Veranstaltung über den „letzten Augenblick“ bei. Zugegen war auch der Alt-Stadtarzt von Zürich. Aus dem Publikum kam die drängende Frage von greisen Menschen, was sie denn machen sollten, da sie doch nur noch sterben möchten. Der ehemalige Stadtarzt empfahl, einfach mit Trinken aufzuhören. Das sei ein natürlicher Tod, ein schmerzfreies Sterben. Das sei früher Sitte und Brauch gewesen, das Wissen aber weitgehend verloren gegangen.

Inzwischen ist das Thema wieder entdeckt und viel darüber geschrieben worden. Die einfache und selbstbestimmte Art des Sterbens ist bereits in die Fänge von Fachleuten geraten, Medizinern, Juristen, Theologen, Sozialarbeitern, Palliativspezialisten, Sterbebegleitern. Von Sterbefasten, finalem Fasten, freiwilligem Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit wird geredet, je nach Perspektive stehen andere Fragen im Vordergrund. Der gemeinsame Trend ist klar: So einfach ist das nicht, aufhören zu Trinken. Mit einem Glas Wasser neben dem Sterbelager sei es nicht getan. Das brauche enge medizinische Begleitung, lange soziale Vorbereitung mit dem gesamten Umfeld, rechtliche Absicherung, intensive Betreuung, fundierte Ausbildung.

Tatsächlich ist das nicht so einfach, aufhören zu Trinken, vor allem in einer Pflegeeinrichtung. Das Pflegepersonal und besuchende Angehörige kümmern sich vor allem um eins: Trinken. Auch wenn der Lebensdurst gestillt ist. Mein Vater hat in seinen letzten Jahren im Heim brav getrunken, Tee, Wasser, Tee, Wasser. Bis er das Glas nicht mehr heben konnte. Da wurde ihm Flüssigkeit eingeflösst. Tee, Wasser. Bis er nicht mehr schluckte. Gott schenkte ihm Gnade.

Willentlich sterben sollte allseits bekannt sein als Alternative zu medizinaltechnischer Lebensverlängerung oder Selbsttötung. Willentlich sterben sollte gesellschaftlich anerkannt sein als Ausweg aus dem Dilemma zwischen dem Dogma, dass Leben wie Tod in der alleinigen Verantwortung Gottes liege, und dem Ruf, Sterbe-Service-Anbieter endlich zu legalisieren. Rainer Maria Rilke lässt seinen Malte von einem Pariser Sterbehotel berichten,  in dem seit der Merowingerzeit Sterbezimmer vorhanden waren. Rilke beklagte, dass das Sterbehotel zu einer Sterbefabrik geworden sei und selbst die „Reichen, die es sich leisten könnten, ausführlich zu sterben, nachlässig und gleichgültig“ geworden sind. In Holland entstand die Idee für ein „Hotel am Horizont“, in dem Menschen mit dem Willen zur Selbsttötung verschiedene Dienstleistungen angeboten werden (auch Selbstmörder müssen nicht alleine sterben). Andere wünschen sich einen „Club Suizid“ in der Karibik. Sterbehilfeorganisationen sind eine Art Sterbeversicherung, für die man jährlich eine Prämie zahlt. Anders in Varanasi am heiligen Ganges: Das Sterbehotel verlangt bloss eine bescheidene Pauschale. Ein gastronomisches Angebot fehlt, dafür entkommt man so der Wiedergeburt.

Das Museumswachauge

Die Aufsicht überwacht den fensterlosen Raum, neben dem seitlichen Durchgang stehend.  Der Blick des älteren, etwas nachlässig gekleideten Mannes sinkt immer wieder zu Boden, dann reisst er die Lider hoch, weitet die Augen und überblickt die Installation, den Besucherbereich, die Kontrolllämpchen, die Belichtung. Wenn er sich aus dem Dämmer hochreisst, in den es ihn hier zieht, sieht er ungefaltete Banknoten, vergegenwärtigt sich den eigentlichen Grund, weshalb er hier regungslos dasteht. Dann schweift sein Blick über die Ausstellung, wird leicht entrückt durch die gespiegelte Sicht und sinkt wieder, langsam, wie Blütenstaub. Die Installation verwehrt einen direkten Blick auf das Kunstobjekt. Erinnerungsfetzen an ein hölzernes Kruzifix in der Bauernstube, an archaische Maskenschnitzereien aus dem Oberwallis, an die Lust beim ersten Druck eines gelungenen Holzschnittes lösen sich auf in der klinischen Abstraktheit der Museumsluft. Jetzt ist es ein Gähnen, das den Museumswärter den Kopf heben lässt, der Nacken knackt leise.

Schritte nähern sich in seinem Rücken, das rhythmische Klacken von Frauenschuhen, begleitet vom fast geräuschlosen Auftreten von Gummisohlen klassischer Schnürhalbschuhe, in denen ein mittelgrosser, kurzhaariger Mann im besten Alter steckt. Dunkles Hemd, dunkles Jacket, in der linken Hand ein Tablet, auf dem sich Informationen zu den Exponaten abrufen lassen. Der Wächter nimmt den seltsamen Duft, den die Frau an sich trägt, wahr, und mustert die beiden. Ohne die an die Wand gelehnte Museumsaufsicht zu bemerken, begeben sich die Besucher zum Schauplatz. Von der Mitte des Raumes aus kann man über die Spiegelwand die gesamte Installation einsehen.

Eine ganze Weile versinken sie beide in die Betrachtung, die Blicke parallel, die Augen etwa auf gleicher Höhe. Sie greift nach seiner Hand. Rasch nimmt er das Tablet in die andere Hand und umgreift ihre Annäherung. Ohne sich zu ihr zu drehen, sagt er: „Das gefällt mir. Vordergründig thematisiert das Werk das Wertesystem der Weltreligionen und die Profanisierung der Ikonodulie, ja generell der Gestaltgebung, also der Kunst selbst. Aber das entpuppt sich bei genauerem Hinschauen als blosse Hülle, als Paraphrase der Kunst in der Kunst und offenbart dann eine tiefe Leere, die aber im Betrachter verschiedene psychische Reaktionen auslösen kann.“

Sie sucht seinen Blick: „Welche psychischen Reaktionen? Was löst es bei Dir aus?“ Er sieht ihr kurz in die Augen, lässt ihre Hand los und blickt wieder in die Spiegelwand: „Verschiedenes. Ärger zum Beispiel über die Spiegelspielerei. Warum können wir nicht direkt auf die Skulptur schauen? Ist das der kunsttheoretische Diskurs? Dann aber auch Verwunderung über die unvermittelte Präsenz von höchst Abstraktem. Und die Nacktheit drängt sich immer wieder auf und ich befürchte, plötzlich Blut zu riechen. Und Du? Was sagst Du zu diesem Werk?“

Die Frau streift sich das Haar nach hinten auf den Rücken. „Ich finde es interessant, wie der Blick immer wieder vom Gesicht angezogen wird, obwohl es kaum ausgearbeitet ist. Es zeigen sich immer wieder andere Gesichtszüge. Einmal erinnert es an das Leiden Christi mit der Dornenkrone, dann verwandelt es sich in einen Tierkopf mit Hindu-Fratze, manchmal sieht man ein Buddha-Lächeln aufscheinen.“ Sie will wieder nach seiner Hand greifen, aber er streicht über sein Tablet: „Hier sind nur technische Angaben zu Material, Herstellung, Ausmassen und dergleichen; keinerlei Informationen über Entstehungsgeschichte, Motive oder historische Bezüge“, stellt er enttäuscht fest. Er greift nun nach ihrer Hand und zieht sie aus ihrer Versunkenheit Richtung Ausgang. Jetzt nimmt sie die Museumswache wahr und hebt die Mundwinkel für einen kurzen Moment. Der Wärter hält seinen Blick gesenkt. Es ist ihm peinlich, wenn den Besuchern bewusst wird, dass er alles beobachtet und mitgehört hat.

Ich kann mich räumlich lokalisieren. Ich bin im Kopf der Statue, die Zentrum der Kunstinstallation ist. Das spüre und weiss ich. Das ist meine Gewissheit. Keine Ahnung, warum ich existiere oder was ich bin. Aber wer ich bin ist klar: Der Geist dieses xenomirigen Exponats. Hegel meinte zwar, dass ein Kunstwerk ein „ganz gemein äußerlicher Gegenstand (ist), der sich nicht selbst empfindet und sich nicht selbst weiß“, aber seither hat sich die Kunsttheorie wie auch die Material- und Informationstechnologie stark verändert, keine Ahnung, wie das bei mir vor sich geht. In einem bestimmten Sinne sehe ich: Ich kenne den Museumswärter, und zwar unabhängig von seinem temporären Museumsjob. Ich beobachte die Museumsbesucher. Mit manchen gelingt es mir, Blickkontakt aufzunehmen, was regelmässig schmunzeln oder lächeln hervorruft. Ich weiss, wie ich als Kunstinstallation aussehe, obwohl ich nur in den Spiegel blicke, aus dem mich die Blicke der Besucher mustern. Ich liege mit ausgestreckten Armen auf einem gepolsterten kreuzförmigen Podest. Irgendwie fühle ich mich verantwortlich für meinen Gesichtsausdruck, obwohl ich rein mental bin. In meinem Schoss steht ein – anikonisches! – Lingam. Das Linga ist mit Ghee übergossen. In den Handflächen befindet sich ein Tröpfchen Blut. Wenn der Nachtwächter das Licht löscht, werde ich bewusstlos. Mein Bewusstsein weiss sich wieder, wenn das Licht angeht. Vielleicht krieg ich nächtlichen Besuch von Sicherheitsleuten mit grellen Handlampen. Ich kenne meine Beschaffenheit, meine Eigenschaften, meine Bestimmung. Und ich habe das Gefühl, die gesamten Gedankengänge meines Gestalters mitgedacht zu haben, wenn auch oft in kritischer Distanz. Ich kann zwar seine anikonische Gestaltungstheorie nachvollziehen, aber das nützt mir als Exponat herzlich wenig. Ich fühle mich manchmal wie ausgestellt, von einer anderen Welt.

Jetzt betrachtet mich die Museumswache, er sieht mir in die Augen. Er erkennt mich nicht. Ich friere meinen neutralen Gesichtsausdruck ein und werfe seinen Blick zurück, durch seine Augen hindurch. Ich blicke durch ihn hindurch wie durch ein Vakuum. Das scheint er zu mögen, gerät er doch in Verzückung über den plötzlichen Durchblick und versinkt in sich selbst. Bis der Sicherheitsmann ihn anstupst und einen schönen Abend wünscht. Der Nachtwächter sieht mich kurz an, schüttelt den Kopf und löscht

 

Nullzinspolitik

Wer die Fleischproduktion aus ernährungspolitischen Gründen ablehnt, kann sich selber konsequent vegetarisch ernähren. Wer Atomkraftwerke ablehnt, kann atomfreien Strom beziehen. In vielen Bereichen können wir unsere Werte hochhalten und ein besseres Leben leben. Positive Beispiele werden Schule machen.

Zinsfrei zu leben ist uns aber verwehrt. Wir bezahlen Zinsen und wir bekommen Zinsen. Sozialstaatliche Regulierungen und wirtschaftliche Aktivitäten beruhen immer auf marktwirtschaftlichen oder technischen Zinsannahmen. Diese sind allerdings nicht so einfach nachvollziehbar. Nationalbanken haben den Negativzins neu erfunden, nachdem die Schwundgeld-Anhänger verstummt sind. Andererseits rechnen Vorsorgeinstitutionen immer noch mit einem langfristig mit grosser Sicherheit zu erwartenden Anlageertrag (sogenannt „technischer“ Zinssatz) von über 3%. Milliardenbeträge rasen blind um die Welt auf der suche nach Rendite. Privatanlegern wird empfohlen, das Ersparte gestückelt als Bargeld auf verschiedenen Konten zu deponieren oder, noch besser, gut zu verstecken. Und Finanzpolitiker denken daran, Bargeld zu verbieten. Die Zinsmaschine stockt. Die Zeit scheint reif, über eine Schweiz ohne Zins nachzudenken. Die Bundesverfassung sollte im Namen Gottes mit diesem Grundwert ergänzt werden.

Zinsen haben seit je fasziniert. Mit Zinsen lässt sich Unglaubliches anstellen. Joseph hat bei der Geburt Jesu einen Euro-Cent bei einem Geldverleiher angelegt, der ihm 5% Jahreszins bot (der Geldverleiher verlieh den Cent für 10 oder auch 20% weiter). Joseph lässt die Zinserträge stehen, bis seine Nachkommen im Jahr 2000 den „Josephspfennig“ samt seiner Erträge zurückhaben wollen. Das Guthaben beträgt 2,39 mal 10 hoch 40 Euro. Das ist eine grosse Zahl, die sich nicht realistisch veranschaulichen lässt: 421 Milliarden Erden aus Gold (zum Goldpreis im Jahre 2000). Das ist eigentlich Beweis genug, dass zinsgetriebenes exponentielles Wachstum nicht funktionieren kann.

Natürlich kann man einwenden, dass der Zinseszins des Teufels ist, Wucher eben, nicht der Zins. Ohne Zinseszins hätten Josephs Nachkommen genau 1.01 Euro bekommen. Ein Zinsmodell ohne Zinseszins funktioniert aber nicht. Man sieht auf dem Saldo Ende Jahr dem Zins nicht an, dass er Zins ist. Er verwandelt sich automatisch in Kapital. Hätte Joseph und seine Nachfolger jeweils am 31. Dezember das Kapital inklusive Zins einkassiert und am 1. Januar das ganze Sparguthaben wiederum für ein Jahr dem nächsten Geldverleiher anvertraut, würde ihre Forderung eben auf 421 Milliarden Erdbälle, aus Gold, lauten.

Zinsgeschäfte sind unanständig. Wenn jemand in Geldnot ist, helfe ich ihm, oder auch nicht, aber ich mache kein Geschäft aus der Not. Wenn jemand Geld braucht, um eine Geschäftsidee zu verwirklichen, so leihe ich, oder auch nicht. Wenn ich Geld verleihe, trage ich Risiko mit und will am Erfolg beteiligt sein. So einfach ist das. Der Tanach verbietet den Juden, Zins zu nehmen (später hat man das dann so interpretiert, dass Juden untereinander keinen Zins nehmen, von Nichtjuden schon). Der Papst hat bis ins 18. Jahrhundert verboten, Zins zu nehmen (da kamen die Juden als Geldverleiher erst mal gelegen). Der Koran verbietet Zins ebenso. Unser Vordenker Aristoteles stellte ebenfalls fest, dass Zins wider die Natur sei. Zins ist Geld gezeugt von Geld, und da Geld nicht lebt, kann es nichts zeugen.

Könnten wir über einen Verfassungsartikel abstimmen, der die Schweiz zum zinsfreien Paradies erklärt, würden Banken und Politiker Schreckensszenarien malen, technische Alternativlosigkeit behaupten und an die ehrenhaften Sparer apellieren. Tatsächlich profitieren wir aber nicht vom Zins. Selbst die Verzinsung unserer Altersguthaben bezahlen wir selbst. Zum Beispiel mit der Miete für die Wohnung, die der Anlagestiftung der Vorsorgekassen gehört. In fast allen Preisen ist ein Aufschlag für Verzinsung enthalten. Nur Besitzer von überdurchschnittlich grossen Kapitalien können, zumindest theoretisch, vom Zins profitieren. Eine konsequente Nullzinspolitik bringt nur Vorteile. Ich freue mich, dass bald goldene Kirchentürme gebaut werden statt kühle Businesstowers.

 

OMG

Wer hätte das gedacht! Das kann nicht wahr sein! U-n-glaub-lich! Wem etwas Unerwartetes, Erstaunliches widerfährt, das eine schwer fassbare Verheissung aufleuchten lässt, im Nachhinein aber seine kausale und finale Notwendigkeit offenbart, dem geht das Wort Gott leicht über die Lippen. „Oh mein Gott“ ist eine geradezu logische psychische Reaktion auf das Erlebnis der Kontingenz als Stringenz. Im Moment der Ausrufung des Drei-Worte-Satzes wird das eben Widerfahrene als völlig unerwartet erlebt, auch wenn man zugestehen muss, dass es nicht als unmöglich ausgeschlossen werden konnte. Die Anrufung Gottes ist also eine natürliche Äusserung des Subjektes angesichts der ganzheitlichen Sinneserfahrung von modallogischer und ontologischer Qualität der Situation. Der Moment selbst erweist sich als typische Form des ontologischen und auch des natürlichen Gottesbeweises. Wer das Unmögliche als Wahrheit erfährt, dem entfährt das Wort Gott. Ein weiterer, nun nominaler Gottesbeweis.

Die Geschichte der Gottesbeweise ist seit dem 13. Jahrhundert geprägt durch das intellektuelle Bemühen einer ganzen Reihe von Theologen, die Logik von Airstoteles in die christliche Lehre zu integrieren. Die kirchliche Dogmatik jedoch schloss die philosophische Vernunft immer wieder aus, so dass Hegel an Gottes Statt den absoluten Geist setzte und Nietzsche schliesslich Gott für tot erklärte. Die scheinbar rationale Gottlosigkeit überliess den Menschen einem Vakuum, das sich rasch wieder mit metaphysischen Theorien und neuen Gottesbeweisen füllte. Kurt Gödel überführte den ontologischen Gottesbeweis in seine mathematische Modallogik, und siehe da, der Wahrheitsgehalt seiner Argumentationskette ist offensichtlich und unbestreitbar. 1970 gelang dank maschineller Rechenarbeit der Beweis, dass der Beweis korrekt ist. Wir verfügen also über mehrfach gesichertes Wissen, dass Gottes Existenz wahr ist. Selbst In der Physik taucht Gott wieder auf. Vor drei Jahren haben die Teilchenphysiker am CERN angeblich das Gottesteilchen gefunden. Der Name „Oh-mein-Gott-Teilchen“ wurde bereits 1991 beansprucht, als Astrophysiker in Utah meldeten, ein hochenergetisches Hochgeschwindigkeitsteilchen in der kosmischen Strahlung entdeckt zu haben. Das Oh-mein-Gott-Teilchen hinke der Lichtgeschwindigkeit nach einer Strecke von gut 9461 Milliarden von Kilometern gerade mal ein paar Nanometer hinterher.

Gödel selbst hat sich mehr für die axiomatische Methode der Beweisführung interessiert, die in zugespitzter Form dazu führt, dass so gut wie jede Aussage formal bewiesen werden kann. So muss man Gottesbeweise auch stehen lassen als wahre Aussagen über die Existenz Gottes. Jene Geister, welche diese Beweise kategorisch zurückweisen oder generell die Beweisbarkeit Gottes verneinen, gehen von der falschen Voraussetzung aus, dass Existenz als reales Prädikat auftritt. Gott existiert nicht in der Form „es gibt ihn“, sondern im Sinne „Gott ist“. Agnostiker sind also nicht nur feige (wie das ein Jesuit pointiert ausdrückte), weil sie vor existentiellen Fragen kapitulieren, sondern auch denkfaul. Allerdings ist seit Gödel auch klar, dass Gottesbeweise eine philosophische Spielerei sind, die man für gewöhnlich als Liebhaberei der Vernunft antrifft und betreibt.

OMG ist also Zeuge von Gottes Existenz, wird aber meist in nder Form eines Emoticons verwendet. Dafür braucht es kein graphisches Zeichen für Gott auf der Tastatur. Das Akronym OMG wird ja selten als Bestätigung von Gottes Existenz verschickt. Meist drückt OMG eher aus, dass man bisher die Existenz des Teufels für ausgeschlossen hielt, ihm aber soeben begegnet ist. Passend wäre allenfalls jenes Emoticon, das an Munchs Schrei erinnert: Augen weit aufgerissen, Kopf blau angelaufen, die Hände auf die eigenen Wangen und Ohren geklatscht. Das darf nicht wahr sein!

Oh mein Gott, dieser Himmel, wie komm ich da bloss rein! (Marteria)

Privatgesagt

(Weil dieser Text von der Arbeit handle und auch politisch sei wurde er vom Herausgeber bis am Montag morgen zurückgehalten. Ich vermute aber andere Gründe – d.Vf.)

Ich lebe jetzt als Privatier im Sinne von „nicht angewiesen sein auf ein in der Öffentlichkeit zu führendes Erwerbsleben“.  Ich habe mich selbst privatgesagt. Das war eine Gelegenheit, sich selbst wieder mal neu zu definieren. Privatier & Author steht in gestanzten, kursiven und übergoldeten Lettern auf meiner Visitenkarte.

Der Wechsel vom öffentlichen Berufsleben ins Privatleben ist ein bemerkenswertes Phänomen. Bei einem Teil dieser Art Wechsler kann sich dieses Phänomen in Form von Glücksgefühlen zeigen, bei einem anderen Teil stehen Verlustgefühle im Vordergrund. In der Menschheitsgeschichte ist dieses Wechsel-Phänomen erst vor kurzem aufgetaucht. Bei Hannah Arendt ist das Gegenstück der Privatheit die politische Öffentlichkeit, das Berufsleben zählte zum Privatleben. Die politische Öffentlichkeit ist die objektivierende Sozialinstanz. Heute ist die Berufswelt stark politisiert. Das Fundament des Politischen und des Staates ist nicht der Einzelne, die Familie oder irgendwelche Clans, sondern die Berufswelt. Im Berufsleben reproduziert sich das kapitalistische Wachstumsmodell, sowohl in der privaten wie in der öffentlichen Wirtschaft: Staatssozialpolitikmonopolkapitalismus, kurz Stasopomokap (ausführliche theoretische Ausführungen s. Kerlchen Marxer; Strategien zur Überwindung des Stasopomokap s. Leni Trotziger). In der Berufswelt sind Privatmensch und wirtschaftliche Rolle eigentlich eins, der einzelne ist Subjekt und Objekt zugleich. Nicht ständig diese Seins-Modi zu wechseln oder diese unterschiedlichen Perspektiven einzunehmen verlangt eine hohe Kompetenz an integriertem Work-life-balanceing. Nach Ansicht der jüngsten psychologischen Forschung gehört die systematische Förderung dieser Kompetenz zum Kernauftrag der Schuleingangsstufe. War gar nicht so einfach, eine Kontrollgruppe von schlecht ausgewogener oder desintegrierter Work-life-Balnce bei Vorschulkindern zu bilden. Das schwierigste war aber die Abgrenzung des integrierten Work-life-balanceings gegenüber dem desintegrierten Vorgänger, aber auch gegenüber dem Sprössling namens Work-life-blending.  Ich gebe gerne zu, dass ich da eine, zwei neue statistische Definitionen der bisherigen Lehre hinzufügen musste, um der Logik genüge zu tun. Aber dieses Blending ist einfach ein stilloser sprachlicher Abklatsch eines soziologischen Phänomens. Ich würde nach der Arbeit eher einen Single Malt vorzischen

Jetzt hab ich mich verloren, in den Figuren, dem Erzähler und so. Ich aktiviere gleich wieder den auktorialen Modus, der die Welt beschreibt (der Herausgeber mischt sich in alles rein, aber solche Sätze lässt er stehen – d. Vf.)

„Privatmensch“ ist ein tautologisches Kompositum, doppeltgemoppelt in einem Wort. Jeder Mensch hat qua seines Subjekt-Seins ein inneres Privatleben und schafft sich zusätzlich eine äussere Privatspäre. Die Privatsphäre umfasst schliessbare Räumlichkeiten, ist aber nach heutiger Auffassung eine Art energetische Aura, die es vor Überwachungskameras und Datenstaubsaugern sorgfältig abzuschirmen gilt. „Privatperson“ tönt zwar juristisch, wird aber in der Jurisprudenz als „natürliche Person“ bezeichnet, im Gegensatz zur juristischen Person, einer sprachlich befremdenden Schöpfung der Rechtswissenschaften, welche insbesondere wirtschaftlichen Organisatinen einen personalen Subjektstatus zubilligt. Den Status einer natürlichen Person kann man dank seiner Konstruiertheit nicht verlieren, Privatpersonen hingegen wurden aus Sicht der Staatlichkeit im Sterbebuch mit „Klostertod“ registriert und verloren alle personalen Rechte, wenn Sie sich für ein Klosterleben entschieden. So war das. 

Ganz so trennscharf sind Privates und Beruflich-Öffentliches nicht, aber die Regeln gehen von einer klaren Trennbarkeit aus. Privates darf in einem Bewerbungsgespräch nicht thematisiert werden. Niemand fragt beim Networking-Stehlunch den Nachbarn, was er denn privat so mache. Privates und Persönliches lässt man zu Hause oder hängt sie in den Garderobenschrank. Man zieht sich die neutrale Funktionsuniform über und stellt seine Ratio in den Dienst der beruflichen Sache. Man arbeitet mit gesicherten Methoden, Techniken, Skills und komplexen Instrumentarien an objektiv messbaren Zielen. Der eigene Umgang mit seiner Persönlichkeit wird dank Selbstkompetenz-Training professionalisiert und optimiert. Wir machen uns selbst als Subjekt ersetzlich. Die Selbstoptimierung unterminiert das Selbst selbst. 

Auf der anderen Seite ist man im Beruf als ganzer Mensch gefordert. Auf der psychischen Ebene werden Identifikation und Leidenschaft als berufliche Tugenden gepriesen, Empathie und angemessene Emotionalität, Selbstreflexivität, Authentizität, Ganzheitlichkeit, Achtsamkeit, gesteigerte Präsenz, nachhaltige Wachstumsorientierung (ökonomisch) und Nachhaltigkeitswachstumsorientierung (ökologisch) sollen wir an den Tag legen. Die Ars laborandi entwickeln. Philosophen werden an Meetings zitiert. Spiritualität überflutet die Managementlehre, die patentierbaren Techniken füllen Leadership-Seminare. Auch psychisch und geistig sieht sich das Subjekt mit einer Selbsoptimierungsanforderung konfrontiert, welche die Selbstobjektivierung normalisiert. Das Selbst ist nichts Gegebenes. Das Selbst kann man nicht aus dem Nicht-Selbst ableiten. Aber auch Selbstreflexion und Metakognition taugen nicht als Leitplanken. Wir müssen, folgerte Foucaut, unser Selbst stets neu begründen, herstellen, anordnen. Jeden Tag eine neue Gelegenheit, sich zu definieren. Heute bin ich Montag.

Metainterview

Alter ego: Die Sommerferien sind vorbei. Deine ehemaligen Kolleginnen und Kollegen gehen wieder ihrer beruflichen Tätigkeit nach. Wie geht es Dir?

Ego: Mir geht es gut. Wie kommst Du auf die Idee, mit mir ein Interview zu führen?

Alter ego: Ich habe Dich seit Deinem Abgang aus dem Büro etwas beobachtet. Mir scheint, dass Du Dich immer noch so benimmst, als hättest Du bis gestern spät abends hart gearbeitet. Wie viel schläfst Du?

Ego: Ich schlafe viel. Gerne auch mal nachmittags. Ich schlafe gerne. Ich schlafe immer aus, so lange, bis ich Lust habe aufzustehen, einen grossen Latte macchiato – bestreut mit etwas Schokopulver – zu trinken, zu rauchen und auf dem I-Pad nachzuschauen, was auf der Welt so vor sich geht. Wenn ich mal früh aufstehen will, was selten vorkommt, stelle ich den Wecker, erwache aber gewiss früher. Was willst Du mehr?

Alter Ego: Du hast – auch bei der Arbeit – gerne mal Montaigne sinngemäss zitiert, als ethische Instanz in der Philosophie. Nun scheint mir, dass Du in den Augen Montaignes das Leben eines Müssiggängers führst und unser lieber Montaigne Dich der Verdammnis überantworten würde.

Ego: Wer bist Du eigentlich? Mein Über-Ich? Soll das eine Art pädagogisches Meta-Interview werden?

Alter Ego: Wahrscheinlich bin ich schon sowas wie Dein Über-Ich, eigentlich unser Über-Ich, wir sind ja alle längst multiple Persönlichkeiten ohne dysfunktionale Symptome. Ich bin Deine psychische Verbindung mit den angeblich konstruierten Normen, oder, noch allgemeiner, Deine Sozialisierungsinstanz. Du solltest mir dankbar sein. Wenn Du Liebe empfindest, bin ich dabei.

Ego: Das Freudsche Menschenbild beschreibt nur noch dessen Anhängerschaft. Ich habe damit nichts zu tun. Diese Psychotheorie hat nur überlebt, weil da Sexualität immer der Schlüssel ist. Ich bin nicht meine Psyche, ich habe eine Psyche. Meine Vernunft will sich ständig an die Seele schmiegen, mein Denkvermögen orientiert sich am  lebendigen Gott in der Seele. Dafür habe ich ein Gespür entwickelt. 

Alter Ego: Du hattest ja bei einigen schon lange den Ruf, gelegentlich Predigten zu halten. Deine Lebenseinstellung und Form des Glaubens hätte etwas Fanatisches, hat Dir ein Künstler-Kollege mal gesagt. Aber hat ja auch etwas Fantastisches, lassen wir das. Ich bin nicht Deine Sozialisierungsinstanz. Das kannst Du selber machen. Aber ich bin vielleicht so etwas wie eine interne Objektivierungsinstanz, ganz unter Deiner Kontrolle wie Deine Psyche.

Ego: Du Schwuchtel, Du schmeichelst schon wieder! Ich habe nicht viel anderes gemacht als Montaigne: Ich habe mein Amt niedergelegt und mich ins Turmzimmer zurückgezogen. Nur bin ich ein imaginärer Schlossherr. Ja, ich befürworte Dich als interne Objektivierungsinstanz, das hilft mir objektiv, als Subjekt in der Welt und unter Subjekten. Aber lassen wir das. Und versuche nicht mehr, mir mein Schlafen zu vermiesen, Du bist nur neidisch, du Psyche, Du!

Alter Ego: Du! Du! Du bist das Objekt!

Ego: Nein Du! Du machst mich zum eigenen Objekt, das ist ja Deine Funktion – also bin ich das Subjekt und Du mein Objekt, Du Trottel!

Alter Ego: Also, ich bin jetzt etwas anderes. Mir ist egal, wer oder was ich für Dich bin. Ich mach hier nur meinen Job. Ich stelle Dir Fragen. Wie geht es Dir gesundheitlich?

Ego: Gut. Sogar mehr als das: Besser.

Alter Ego: Wenn es einem besser geht, ging es einem vorher nicht so gut.

Ego: Ich weiss, worauf Du anspielst. Durch die lange Zeit ohne Bewegung war ich vor den Sommerferien etwas erstarrt. Ich fühle mich körperlich besser. Der Geruchssinn ist immer noch weg und der Tinitus immer noch da, aber ich hoffe immer noch, dass die gelegentlich ihre Plätze tauschen. Meiner Nasenschleimhaut habe ich seit drei Wochen Urlaub am Meer gegönnt, ich habe mir einen entsprechenden Nasenspray erworben. 

Alter Ego: Und wie steht es mit Deinen Plänen? Das hat ja eine Zeit lang ausgesehen, als wolltest Du Dich absetzen – und Wanderprediger werden (leise nachgeschoben, d. Vf.).

Ego: Ich habe Dich nicht verstanden, das Pfeiffen, Du weisst.

Alter Ego: Deine Pläne! Frankreich!

Ego: Ach ja, Frankreich ist auf unbestimmt verschoben. So lange der Sommer zu mir kommt, gehe ich nirgendwo hin. Ich kann auch hier tun, was ich will. Mir ging es ja darum, nach der Pflicht noch eine Runde Kür zu fahren.

Alter Ego: Ist Dir manchmal langweilig?

Ego: Dazu werde ich einen Blog schreiben.

Alter Ego: Interessiert Dich das Thema Schulqualität noch?

Ego: Neulich zu Besuch bei meiner greisen Mutter hat sie mir einen ganzseitigen Zeitungsartikel über die Zustände an der Sek Spitz in Kloten gegeben mit den Worten: „Ich weiss, dass Dich das Thema nicht mehr so interessiert, das aber musste ich Dir zu Seite legen.“ In Kloten war ich vor den Sommerferien noch involviert. Der peinliche Vorfall während der Evaluation, als der Schulpräsident einem Kritiker den physischen Zugang zu einem Eltern-Interview im Rahmen der externen Evaluation persönlich verwehren wollte und ihn dann doch teilnehmen liess, steht nun in der Zeitung. Und da steht auch die Vermutung, dass der Evaluationsbericht wohl so lange unter Verschluss gehalten werde, weil darin – dem Vernehmen nach – vernichtende Kritik geäussert werde. Genau das hatte ich ihm prophezeit, als er von mir wollte, dass ich den Bericht bis im Herbst zurückhalte. Ja, alle haben das gute Recht, schlechte Fehlentscheide zu treffen. Selbst der Souverän. Pädagogischer Schwank, das finde ich schon interessant, als Zuschauer.

Alter Ego: Vermisst Du die ehemaligen Arbeitskolleginnen und -kollegen als Menschen?

Ego: Ja. Ich werde die einen und anderen bestimmt wiedersehen. Am Dienstag könnte ich zum Beispiel mit Jasna zu Mittagessen, sie ins Migros-Personalrestaurant einladen, wenn sie Zeit und Lust hat.

Alter Ego: Hast Du sie schon gefragt?

Ego: Warum soll ich sie schon gefragt haben? Sie liest das ja in diesem Moment!

Alter Ego: Ich ziehe mich nun wieder zurück in Deinen Schüttelschädel.

Ego: Mach, was Du willst. Das mach ich ebenso. Wenn Du in meinen Schädel gehst, schalt bitte den Tinnitus ab, Du Pfeiffe. Ich schreib jetzt meinen Blog fertig. 

Siesta

Nach dem Mittagessen vom mit Fleisch angereicherten Salatbuffet noch ins Strassencafé. Der Sommer taucht die Stadt am Nachmittag in ein mediterranes Irgendwo, das Dasein ist ein leichtes Lüftchen über dem mare nostrum. Pfundweise verstreuter grüner Blütenstaub auf dem warmen Strassenbelag. Die Vögel hüpfen zutraulich und lüften ihr Gefieder. Fenster stehen offen. Die dagebliebenen Menschen sind etwas fremdartiger, augenfälliger. Adjektive schweben wie Vorboten zu Boden, vermischen sich mit der aufsteigenden Wärme der nominalen Radices. Es ist die Zeit der Konjunktoren.

Mein Protagonist schlendert durch die Strassen westwärts. Die Luft flirrt kaum wahrnehmbar. Ahnungen schweben lautlos über den Köpfen. Die Zeit wird luftgetrocknet. Spannungsgeladene Filmmusik und Liebesjubel aus dem Hinterhof linsen durch die Sonnenbrille. Das Lüftchen verheddert sich in der Sehnsucht. Drei vier Stufen hoch, die Tür zum Ladenlokal steht einladend offen. Der Raum ist gross, verschiedene Türen verrätseln Hinterzimmer. Warmes, dunkel gealtertes Holz. Seltsam geruchlos. Büffelgehörn an der Seitenwand. Die Spelunke um die Ecke heisst Holzschopf, aber das „s“ gehört nicht dazu und verblasst, das Hirn speichert Holzchopf und assoziert gleich das passende Winterthurer Bier dazu. Sind da Männerstimmen? In munterer Vorfreude, dass er sein aufgebauschtes Nackenhaar geschnitten bekommen wird, hängt der Protagonist seinen Sommerhut an das Geweih und lässt sich auf dem riesigen Frisörstuhl nieder, dessen Rückenlehne wie bei einem alten TV-Sessel weit zurück gestellt ist. Senkt sein Haupt ( – mein erster Coiffeur hiess Häuptli, d. Vf. – ) auf die geplüschte Nackenstütze und schliesst die Augen. Und denkt einen geschlossenen Augenblick an seine Dentalhygienikerin, die am gleichen Tag wie er geboren wurde und seiner Zwillingsschwester gleichkommt.

Die Männerstimmen sind nun deutlicher zu hören, ohne aber verständlich zu werden. Eine Hinterzimmertür öffnet sich, ohne dass das Augeninnenlicht sich verändert. Schritte, die Stimmen verlieren sich ins Freie. Die Tür steht weiter weit offen. Es würde ihr gut anstehen, sich ein bisschen hin und her zu bewegen, ganz sachte. Kühlendes Haarwasser auf der Kopfhaut, eine gedankenaufklärende Hirnfriction. Der langsam drehende Deckenventilator  erinnert an ein einmotoriges Propellerflugzeug mit Aschenbechern in der Armlehne der Hintersitze. Draussen pedalt ein Turbanträger seine Gelati-Rikscha von dannen. Dickflüssiger Espresso, voller Palermo. Ein Glas Wasser, aussen beschlagen und verperlt vor lauter kühler Frische. Feuchte Lichttentakel, fleischfarbene Schatten.

Ich schlage die Augen auf. Immer noch auf dem Rücken auf meinem Bett. Der Nachmittag ist vorbei. Eigentlich wollte ich noch bei Diana reinschauen, mir die Nackenhaare schneiden lassen.

Bildersturm

Egal, wie gebildet: Wir schauen zuerst die Bilder, bevor wir allenfalls Textinhalte überfliegen und lesen. So ist es auch bei den Leserinnen und Lesern meines Blogs. Die meisten Klicks verzeichnen einzelne Fotos.

Ich verhalte mich nicht anders. Wenn ich ein neues Buch in die Hand nehme, schaue ich mir zuerst Fotos, Bilder und Illustrationen an, wenn denn das Buch solche Seiten mit besserer Papierqualität aufweist. Ich habe das schon immer so gemacht. Nur bei Bildbänden funktioniere ich anders. Da orientiere ich mich zuerst auf der sprachlichen Ebene über Inhalt und Struktur des Buches, um nicht im Bildersturm unterzugehen.

Dieser Blog ist auch ein soziales Medium. Man kann da so allerlei. Es gibt auch eine Statistik, wo alle Klicks gezählt werden und die Herkunft der Besuchenden nach Ländern dargestellt wird. So kann ich mir in den Sommerferien ungefähr vorstellen, wer wo in den Ferien weilt. Kommentare habe ich noch keine erhalten. Vielleicht räumt man mir das Privileg ein, einfach meine Meinung zu sagen und mich wenig um die Meinung von anderen zu kümmern, oder es war einfach zu heiss. Wenn es dann kühler wird, werde ich mir eine Bilderpolitik zulegen. Zur Zeit tobt noch ein Bilderstreit in mir, der nahtlos an die Kirchengeschichte anschliesst. Ich rede dem Wort das Wort, bin aber ikonodul. Ich wehre mich gegen die Ausschliesslichkeit eines heiligen Buches, aber befürworte die bildliche Darstellung auch des Göttlichen.

Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott: So wird üblicherweise aus dem Johannes-Evangelium zitiert. Die Interpretation dieser sprachlogisch vertrackten Aussage fällt dann ziemlich unterschiedlich aus. Die dogmatische Auslegung sieht darin einen Beweis für die Trinität des christlichen Gottes, wobei dann die Personalität des heiligen Geistes unter den Pfaffen wieder zu Diskussionen Anlass gibt. Am besten gefällt mir Friedrich Pfäffleins Übersetzung des Johannes-Textes aus dem Griechischen: „Am Anfang war das Wort. Das Wort wartete auf Gottes Wink und war von göttlicher Wucht.“ Das Wort, im griechischen Original „logos“, war vor der Schöpfung da. Durch das Wort ist alles ins Dasein gerufen worden. In den heiligen  Sanskrit-Texten finden wir eine Entsprechung: Alles kommt aus der Urvibration, welche im Wort „OM“ weiterschwingt. Ob Olympique Marseille darum so göttlich Fussball spielt?

Bilder hinterlassen Eindrücke, Sprache verschafft Einsichten. Das Bewusstsein, das sich selbst wahrnimmt, ist sprachlicher Natur. Sprache ist Kreator, wir die Kreatur. Giwi Margawelaschwili, ein georgischer und deutschsprachicher Literat, nennt das Ontotextologie: Text bestimmt unser sein. Den Beleg dafür bekam ich per SMS: „Das Sein waltet und west frei“, ein Satz aus Heideggers „Sein und Zeit“. Solche Sätze hinterlassen bei mir sprachloses Glück.

alexis.tsipras@gov.gr

Lieber Alexis Tsipras

Toll, wie das griechische Volk „nein“ sagte zur politischen Agenda der Institutionen. Ein Staat ist keine Firma, die von den Kapitalgebern auf Wachstum und Rendite getrimmt wird. Schon gar nicht Griechenland – unsere Mutter abendländischer Kultur. Sokrates, Plato, Aristoteles und alle anderen grossartigen Denker der griechischen Antike bilden noch heute die Grundlage unseres Geisteslebens.

Ich kaufe nun wieder fleissig Retsina und griechischen Schafkäse, das passt zum schweizerischen Sommer und ist auch ein Zeichen der Solidarität mit den mutigen Hellenen. 1972 bereiste ich mit guten Freunden das erste Mal Griechenland. Schnell lernten wir, dass wir uns gleich als Schweizer zu erkennen geben mussten, weil wir Deutsch sprachen. Wir waren von der Verfilmung von Alexis Sorbas fasziniert und warfen die geleerten Ouzo-Gläser an die Wand, bis der Wirt auf ein Bildnis von Papadopoulos zeigte und uns erklärte, dass das nun verboten sei.

Heute bietet sich Griechenland und Dir, lieber Alexis, die Chance, eine soziale Gesellschaft aufzubauen. Es liegt in der Luft, die Herrschaft der Finanzindustrie zu brechen und den Kapitalismus in der warmen Sommerluft aushauchen zu lassen. Die Pläne der Institutionen sind kein Wegweiser für die griechische Zukunft, sondern hilflose Rettungspläne für die parastaatliche Finanzindustrie der Gläubiger. Die Gläubiger heissen so, weil sie daran glauben, dass sich Geld vermehrt.

Nun, es sind wieder Notkredite nach Griechenland geflossen. Aber nur, um gleich wieder weg und zurück zu fliessen. Das mag alles den Anschein von Normalität machen. Allerdings werden die Laufzeiten der Kredite verlängert werden müssen, Lagarde spricht von 40 Jahren. Damit können einige leben – die heute aktive Generation ist dann ja weg, bezahlen sollen die Nachkommen. Die Schuldenflut ist die neue Sündenflut.

In den letzten Tagen konnte man viel lesen über die „Tragfähigkeit der Schulden“, wie sprachverluderte Journalisten formulieren. Gemeint ist natürlich die Tragbarkeit. Eine Brücke ist mehr oder weniger tragfähig, auch die Griechen und wir alle, aber Schulden können gar nichts tragen. Wir sollten keine Schulden machen, sonst müssen wir Schulddienst leisten. Zinsgeschäfte sind immer gute Geschäfte für die Geldverleiher. Für die Kreditnehmer sind sie gute Geschäfte, wenn das ausgeliehene Geld eine höhere Rendite abwirft, als  es Zinsen kostet. Diese kapitalistische Hebelwirkung funktionierte einmal in der Industrie und der Finanzwirtschaft, aber nie bei Staaten. Wenn wir uns von der Vorstellung einer ewig wachsenden Wirtschaft verabschieden wollen, weil das unseren Planeten zerstört, so sollten wir uns von der Zinswirtschaft verabschieden.

Ihr Griechen habt laut darüber nachgedacht, was mit dem Schuldenberg passieren soll. Schuldenerlass, Schuldenschnitt, Stundung, Verrechnung mit Reparationszahlungen, Umschuldung, Zahlungsverweigerung standen zur Diskussion. Jetzt scheinen auf beiden Seiten wieder die Technokraten das Sagen zu haben und schmieden Pläne, welche davon ausgehen, dass die Rechnung irgendwann aufgehen muss. Ihr habt Euch standhaft geweigert, einfach die Planspiele der Institutionen aufzuführen mit Verkauf von Staatseigentum und Kürzungen der Sozialausgaben. Aber nun habt ihr ein bisschen eingelenkt und erst mal die Mehrwertsteuer erhöht – die unsozialste Steuer, die wir Linken schon immer bekämpft haben. Die Probleme werden nicht kleiner.

Lieber Alexis, Du steckst ganz schön in der Zwickmühle. Einerseits möchten die Griechen die Schulden eigentlich nicht zahlen und sich nicht diese schreckliche neoliberale Wirtschaftspolitik verpassen lassen. Aber sie möchten den Euro behalten. Aus dem Euro aussteigen scheint nur für Minderheiten wie die griechischen Kommunisten und Wolfgang Schäuble eine ernsthafte Option. Aber vielleicht kann man den Euro behalten, und trotzdem aus dem Euro aussteigen?

Ich schlage vor, dass Du selber Euroscheine drucken lässt. Das wird uns alle etwas erfrischen.

Du kannst dann der EU und den Institutionen (diesen Punkt konntet ihr verbuchen, hier schreibt niemand mehr „Troika“) mitteilen, dass ihr jetzt Euer eigenes Geld druckt, die Schulden damit gestrichen sind und die Buchhaltung wieder bei Null anfängt. Damit das politische Verhältnis zwischen der EU und Griechenland nicht unnötig gestört werde, sollten die Buchhalter der Institutionen doch bitte die entsprechenden Beträge ebenfalls löschen.

Die Zwieback-Angela wird nicht mehr mäkeln, sondern schäumen und feuchte Augen kriegen. Durch die Politiker Eruopas und die globale Finanzindustrie wird eine Welle der Empörung brausen. Als Echo werden sie das Gelächter des Volkes vernehmen.

Die Scheine sehen zwar auf den ersten Blick gleich aus. Die Währungseinheit ist weiterhin in lateinischer und griechischer Schrift ausgewiesen. Aber nicht mal Blinde können die Scheine verwechseln. Papier- und Druckqualität sind etwas billiger und vor allem ist nicht EZB als Herausgeber, sondern Trapeza tis Ellados, griechische Zentralbank, aufgedruckt. In Griechenland bezahlen wir die Staatsausgaben mit diesen Scheinen und nehmen sie für Zahlungen an den Staat entgegen. Unsere Rechnung geht wieder auf.

Bei uns in Griechenland bleiben alle Euro, alte und neue, im Umlauf. Man kann sie auch gegeneinander tauschen und wir handeln auch mit beiden. Bald wird die Unterscheidung obsolet und sie sind in ganz Griechenland als gleichwertig akzeptiert. Nicht zuletzt, weil wir die heute vielerorts praktizierte Nullzinspolitik in die Verfassung geschrieben haben. Wir nehmen und zahlen in Griechenland nie mehr Zinsen, unsere Geschäfte beruhen auf beidseitiger Solidarität.

Herzliche Grüsse

Ein weiteres Definitivum

Neben meinem Garten den Hagwiesenweg hoch, quere ich den Panoramaweg, schlendere noch weiter nach oben. Dann rechts Richtung Wald und ich befinde mich auf dem Zielweg. Wohin der führen mag? Ich gehe nur einige Schritte bis zur nächsten Sitzbank, setze mich und denke nach.

Das erste mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, einen definitiven, unumkehrbaren Schritt getan zu haben. Ich habe eine Woche voller Abschied hinter mir, die berufliche Laufbahn ist beendet; Erwerbsarbeit wird mich nur noch als Beobachter interessieren. Bin müde von der blossen Präsenz an den Abschiedsveranstaltungen, aber glücklich, dass ich jetzt Privatier & Author bin.

Wahrscheinlich hatte ich dieses Gefühl, etwas wirklich Definitives getan zu haben, schon viele Male. In der Erinnerung verflacht sich das Drama des Unwiderruflichen zur Anektote. „Für immer“, „ewig“ sind Worte, die sich verflüchtigen. Nur im Moment ist die Ewigkeit erfahrbar, nicht aber in der Zeit. Die Sehnsucht bleibt ungestillt: Es gibt keine Befriedigung, nur Erschöpfung.

Für immer zu mir gehören sollte das Tattoo, das ich mir als junger Mann in Brüssel stechen liess. Ich hatte noch einige Stunden Aufenthalt bis zum Rückflug. Den nötigen Mut zu diesem irreversiblen Schrittchen schöpfte ich aus der Launigkeit der überschüssigen Zeit. Der bunte Schmetterling hat sich in den zwischenzeitlichen Ewigkeiten in einen zerfliessenden dunklen Fleck verwandelt, der an eine Fledermaus in der Dämmerung erinnert. Die Samenleiter habe ich mir – viel später 🙂 – durchtrennen lassen, um nie wieder Zeuge ungeborenen Lebens zu werden. Im Rückblick kaum verschieden vom Schneiden der Fingernägel. Ich habe diese und jene definitive Entscheidung getroffen. Irgendwie ging es immer weiter, ziemlich unabhängig von meinen Entscheiden.

Vielleicht verhalte ich mich etwas anders, als ich das als Berufstätiger tat. Am Nachmittag einfach schlafen, wenn mir danach ist. Morgen- und Abendrituale ausdehnen. Mit der Vespa zu meiner Mutter fahren, weil die Schranktür klemmt und sie nicht an ihr Badezeug kommt. Mich frühzeitig auf den Weg machen, wenn ich wohin will. Und alles genüsslich gemächlich.

Und ich werde anders wahrgenommen. Als ich einer langjährigen Freundin erzählte, wie es mir in der neuen Situation ergeht, erkannte sie gleich Verhaltensmuster, die sie auch durchlebt hatte, als sie vor zwei Jahren frühzeitig aus ihrer Erwerbsarbeit im Schulsekretariat Uto ausstieg. Mein HMO-Arzt setzte seine professionelle Miene auf und erkundigte sich nach meiner Tagesstruktur. Und nach eventuell vorhandenen Hobbies. Er buchte dann meine Leidenschaft für das Boule-Spiel als seinen Erfolg: „Sehr gut, spielen sie unbedingt viel Boule, das stärkt die Konzentrationsfähigkeit, trainiert das Hirn, Koordinationsfähigkeit, Motorik, räumliche Orientierung…“. Erstmals keine moralisierenden Fragen nach Rauch- und Trinkgewohnheiten. Leider kam er nicht auf die Idee, mir ärztlich neue Boule-Kugeln zu verschreiben. Auf einen nächsten Kontrollbesuch liess ich mich nicht festlegen. Ich melde mich dann mal wieder.

Die Textur meines Gartens oder Variation der Reflektanz

Ich sitze in der Laube. Der Garten kann warten. Im Garten wuchert die Wahrheit. Erdfrüchte bleiben ungelesen, winterschlafen sich durch und vermehren sich bei der ersten Frühlingssonne. Die Würmer wohnen diesem Treiben bei. Die Triebe schieben sich hoch und durchstossen den Gegensatz von Himmel und Erde. Die feuchte Baumnuss gebiert den Spross des knorrigen Riesen, dessen Wurzeln die entsorgte Waffe sicher umfussen. Kräftige Petersilie. Als Kartoffelselbstversorger muss ich nicht alles wissen, mir genügt die simple Wahrheit. Die Monstranz-Bohne trage ich in der gartenlosen Zeit als Talisman in der Wintermanteltasche. Ich empfähle mich als Gurke, frügte mich Gott nach meiner Vorstellung eines veganenen Neuanfangs im grünen Konjunktiv. Die Hirse wächst mir über den Kopf, sie kornt mich von oben herab und neigt sich mir im Hochsommer zärtlich zu. In der Laube schwebt die Leichtigkeit der Literatur. Die Gabe der Sprache und das Wunder der Kunst als Güte und Schönheit zwischen den Buchdeckeln der göttlichen Gnade. Die Luft erwärmt sich, Rebenblätter und Sonnenstrahlen schäkern und spielen das Hier und Jetzt, stetes Ineinanderfallen der Gegensätze. Die Sorten wandern durch die Beete, nachts, oder unter der Schneedecke. Sie suchen sich selber den Platz, an dem sie wiedergeboren werden. Halten sich still, bis Gott sie will. Der Garten ist energisch, unermüdlich, sanft und gutmütig, aber sprachlos. Mutter Erde drückt sich sinnlich aus. Sie gebiert, blutet, trieft. Sie lässt sprossen, blühen, reifen, fruchten. Der Mensch staunt neidisch: Ohne dieses Blattgrün schafft er es nicht, das Sonnenlicht in Materie zu verwandeln. Der Trinakria-Knoblauch überragt alles. Er treibt Blüten wie Fussbälle.

Objectus. Bild vom Objekt; Subjekt für das andere Subjekt.

Am Ostersonntag zeigen sich die Knospen des Rheum hybridum, Rhabarber gerufen, wie die Eichel in der anfangs Pubertät zu eng gewordenen Vorhaut. Nachdem sich einige feingerippte, grünrötliche Blätter entrollt haben, stösst der Blütenstängel vor. Überschiesst den faltigen Blätterkranz und prahlt dionysisch. Mit einer feinen, fast durchsichtigen Schutzhaut überzogen. Zum Platzen prall. Blumenschmuck für das Turrisi in Castelmola, wo man Mandelwein inmitten phallischer Raumausstattung schlürft. Die Blütenstängel werden abgeschnitten, bevor die Knospe platzt. Wenn die Blüten durch die Hülle hervorbrechen, schwindet die Kraft und der Saft und die Zuversicht der süsssauren Krautstile.

Die Taube schwebt mitten über der Staude. Arten von Engeln, die warten. In zarten Spitzen der Hoffnung. Emergieren lichterloh ihr zartflaumiges Gefieder. Hecken, Sträucher. Fliegensurren, Bienensummen, Hummelgrummeln, Falterbrummen, Bremsenknurren, Zirpenzurpen, Libellenwummern, Mückenwimmern.

Subjectus. Bild vom Subjekt; Objekt für das eigene Subjekt.

Eine verglaste Gartenlaube mit Blick durch den halboffenen Innenraum auf die Talseite. Am rechten Bildrand die mit Reben zugewachsene Fensterfront, zur linken Seite ein offenes Fenster zum Siestaraum sowie der leicht geblähte Vorhang hinter der Eingangstüre. Die Bildmitte zeigt die Aussicht auf den gegenüber liegenden Hügel, zuoberst bewaldet, am Waldrand bewandert, am Stadtrand bebaut und besiedelt. Unter diesem Bild im Bild ein grober Tisch, dreiseitig von einer Sitzbank umrandet. Links sitzt ein Mann in einer violetten Trainerjacke mit hellen Schulterstreifen, zufriedenen Blickes gegen den Betrachter, die Lesebrille im Haar, in der Pose der Illuminaten.

Vor ihm Papiere, Bücher, Buchstaben, Wörter, Gedrucktes, Handgeschriebenes. Das Reich der Transformanz. Mitten in der Sprachwelt das Ebenbild vom Bild, der Sieg der Ikonodulen, die Darstellung des Dargestellten.

In diesem Moment geschieht das vorhersagbare. Meine Person schlüpft durch den Autor in den Vortragenden. (Weiter in Mundart:) „ Ich ertrage meine Garten-Nachbarn nicht mehr. Der Jules kriecht auf seinem Wegsystem wie ein katholischer Konvertit im KZ. Seine Frau miemt die Dienerin. Der Gartenvereinspräsident auf der anderen Seite hat hinter meinem Rücken meine Calendula officinalis geschändet – oder zumindest schlecht gemacht. Auf der anderen Seite eine strahlende Matrone mit knallroten Lippen, die mir Angst macht, sie könnte mich in ihr Lebkuchenhäuschen einsperren und ihren Schnecken zum Frass vorwerfen.
Ich brauche neue Nachbarn! Am liebsten Slammer und Poetinnen, die hin und da auf den Gartenstuhl stehen und mit ihren gesprochenen Worten das Pflanzenwachstum, die Blüte, die Bestäubung und den Reifungsprozess und die Farbgebung zu Gunsten und zur Freude von allen, inklusive Herrgott, authorisieren.“

Der Übergang zwischen Subjekt und Objekt

Unter Gottes Haube räkeln sich behauste Burgunderschnecken, lecken die Laken, ihre intime Verbindung materialisiert in einer Skulptur von angetrocknetem Schaum. Erschöpft weggedreht dösen sie die finalkausale Zweckerfüllung. Sie rauchen nicht, sie reden nicht. Sie schweigen sich gedankenlos aus. Der Übergang zwischen Objekt und Subjekt als jeweils eigenes Phantasma. Ereignis und Performanz zugleich. Nomaden als Monade.

Mathemetaphysik

Astrologische Physik ist eigentlich mathematische Metaphysik von abgeklärten Agnostikern. Diese schliessen die Möglichkeit von Gott nicht aus, sondern nur die Gewissheit von Gott. Zumindest lassen sie vieles offen mit neuen Bezeichnungen, die man auch durch Gott ersetzen könnte und das wäre dann die langgesuchte Theorie von Allem, oder zumindest schon die Theorie vom Alles, theoretische Theologie und Glauben in einem. Wenn die Astrophysiker sich für Philosophie interessieren würden, könnten sie bessere Übersicht gewinnen und einige würden sich dann auch mit der Frage beschäftigen, was zuerst, zuhinterst kommt. Dort, wo im zeitgenössischen Weltbild im Urknall oder dahinter „Singularität“ steht, wo die elektromagnetische Kraft, die starke und schwache Kernkraft mit der Gravitationskraft in der „Urkraft“ verschmelzen. Oder bei den Agnostikern gegenüber der Weltformel die „Emergenz“ postuliert wird. Alles valable Zuschreibungen an Gott.

Die Astrophysiker haben ja wieder Schlagzeilen machen können. Die Gravitationswellen wurden empirisch nachgewiesen, sind also bewiesen und damit keine Glaubensfrage mehr. Aber – ich liebe Paradoxe dermassen, dass ich ständig danach suche – damit haben sie einen Glaubenssatz geboren. Es gibt nun angeblich aus menschlicher Vernunft ein Wissen über den Zusammenhang der Welt und des Universums, den zwar niemand nachvollziehen kann, aber sich als Glaubenssatz festsetzen und später Schulstoff werden kann.

Wie die Empirie im Beweis der Gravitationswellen aussieht, kann ich nicht nachvollziehen. In der einen Theorie bewegen sich Gravitationswellen mit der absoluten Lichtgeschwindigkeit, andere beziffern ihre Schwingungsperiode mit vielen Millionen Jahren, auf jeden Fall verformen sie Raum und Zeit, die Relativitätstheorie gilt ja. Auf jeden Fall sollen die Amerikaner mit Mikrowellendetektoren Daten generiert haben, mit welchen die Gleichungen aufgehen. Allerdings nur indirekt, man hat vom einen aufs andere geschlossen. Wenn, dann. Eine Annahme ist noch dazwischen. Wahrscheinlich eine Theorie der Gravitationswellen, eine empirische Tautologie quasi. Zwischen den Daten und dem Gemessenen liegen Theorienwelten, Wahrscheinlichkeitsrechnungen und rein technische Probleme. Dass es rein technische Probleme gibt, beweist die Empirie der Methode. Als auf dem entgegengesetzen Pol der Teilchenphysiker die Relativitätstheorie als empirisch wiederlegt entlarvt wurde, war ein Messfehler, wie es zuerst hiess, oder ein lockeres Kabel, wie die „Zeit“ später berichtete, Anlass, die Sache wieder zu vergessen.

Einstein hat die Grundformeln für die mathematische Physik beigesteuert, die Kernspalter und Astronauten dann die technikpolitische Ausbaufinanzierung gesichert. Heute benehmen sich Professoren wie Popstars und buhlen um den Nobel-Oscar. Nicht, dass mir die Formeln der theoretischen Physik nicht gefallen täten. Gleichungen sind etwas Schönes, Griechische Buchstaben auch. Ich wollte schon immer Formeln visualisieren. Als Dargestelltes darstellen. Deren Meta-Schönheit emergieren lassen.

Was mir nicht gefällt, ist die verbreitete Meinung, dass Wissen die bessere Alternative zum Glauben sei, die aber den dank der Wissenschaft wachsenden Glauben nicht als solchen reflektieren will. Die heutigen Weltmodelle mit Urknall und Weltformel behaupten Antworten auf metaphysische Fragen, die man getrost als Aberglauben bezeichnen kann. Die Wirklichkeit ist gottseidank vielfältiger, die Gewissheiten umfassender. Die Weltentstehungsansicht der Astrophysiker und die Theorie von Allem sind phantastsich schön, aber gegenüber anderen Schöpfungsgeschichten oder kosmogonischen Mythen wenig stimmig und zuwenig ästhetisch: schlechte Literatur.

So, jetzt habe ich es dem Internet wieder mal gesagt.

Calendula

Gestern hat mir meine betagte Mutter in einem Telefongespräch mitgeteilt, dass sich die sonnenlichtigen Ringelblumen versamen und nächstes Jahr wiederkommen, sogar etwas nebenan. Damit sprach sie meine Erfahrung im eigenen Garten aus. Unterdessen wächst die Calendula fast in allen Beeten. Ich zupfe sie, wie Frauen ihre Hexenhäärchen. Die orange-gelbe Blütenpracht erleuchtet nur in wenigen Abteilen. Passt gut zu den Hindugöttern im Gartenhaus über der Liege. Eine Gärtnerin hinter dem Nachbargarten, dem des Präsidenten, hat mir mitgeteilt, dass ebenjener sich geärgert habe über den Anbau dieser invasiven Glücksblume. Sie aber halte das für schön und erfreulich. Shade haucht „this is no ordinary life“ aus dem Internet in meine Stube. Ich sitze am Tisch und schreibe online. Bald vergebe ich Leserechte und weiss, dass das jemand liest. In diesem Moment. Jetzt sind wir für einen Moment im Gedankenstrom verbunden. Mindstreaming. Erleben Emergenz von Konästhesie. Metapersonale Offenbarung. Freude am Wortklang und Gedankengang. Mein Vater wurde mütterlicherseits lange Zeit mit einer Ringeblumensalbe versorgt, die von einer Bekannten bezogen wurde, nachdem diese von meiner Mutter mit einem bestimmten Inhaltsstoff beliefert wurde, den sie ihrerseits im Ladenlokal der landwirtschaftlichen Genossenschaft bezog. Die Lieferkette wurde vor längerer Zeit durch den Tod der Kräuterfrau unterbrochen.

Ich versuche zu rekonstruieren, wie sich der Ablauf ergab. Vor dem Telefonat mit meiner Mutter hatte ich recherchiert, wie man eine Ringelblumensalbe herstellt. Und wie diese wirkt. An Hand dieser Wunderblüte habe ich Einblick in die Systematik der Produktelinien der Kräuterheilmittellehre gewonnen. Blütenöl und -tinktur, mit weiteren Zutaten zu Crèmes und Salben verarbeitet. Der Hinweis meiner Mutter auf die wohltuende Wirkung an meinem Vater und die aufsteigende Erinnerung an die Wundersalbe, die ich bei meinem Sohn bei unterschiedlichsten Symptonen erfolgreich anwendete, bei der es sich um die „echte“ Ringelblumensalbe handelt, wie ich mich jetzt vergewissert habe, haben meine Idee über Nacht zur Tatsache gemacht: Ich habe jetzt in meiner Küche ein Kräuterheilmittellabor, wobei ich ausschliesslich mit calendula officinalis hantiere. Ich stelle Arzneien zur äusseren und inneren Anwendung her. Der Wirkungsbereich umfasst das ganze Alphabet rückwärts von Zerrungen bis Afterjucken. Ich befürworte eine spielerische und zinslose Gesellschaftsform. Die Vielfalt der Möglichkeiten ist der Einfalt der Sicherheit vorzuziehen, weil sie Wahrheit wahrscheinlicher macht. Ich mag den Modus des Selbstversuches und steige ins Ringelblumenölbad, in der Hand den Calendula-Cocktail, ein Drittel Blütentinktur, zwei Drittel Moskowskaya, mit zerstossenem Eis. Blüten schwimmen im Glas und der Wanne. Pure Erleuchtung. Autopoietische Performanz anthropologischer Qualität. Ich spüre mich als Kreatur und Kreator. Genau auf der Linie zwischen negativer Theologie und Existenz-Philosophie, im Momentum des nunc stans, der Mystik des zusammenfallenden Gegensatzes.

Aus der Subjektperspektive könnte man „einfach geil“ sagen, aber das bringt es nicht auf den Punkt. Von aussen betrachtet könnte man dieses Handeln mit „der spinnt“ abtun oder für eine „gute Geschichte“ halten, das würde obige Subjektperspektive reflektieren. Faktum ist, dass es sich um eine Form meiner Ferienaktivitäten handelt. Ich rauche beim Schreiben und blase Blogs ins Internet. Schwebe über buddhistischen Bauerngärten. Und grüsse in die fernen Ferienorte.